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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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tlolrsnchtertum und Selbstverwaltung

nichten müßte, sodaß seine Staatsmänner diese Frage wohl noch nicht ernstlich
in den Kreis ihrer Betrachtungen gezogen haben werden. Darüber aber sind
sich alle Aufgeklärten einig, daß die australischen Staaten in nicht zu ferner
Zeit aufhören werden, als englische Kolonien zu bestehn.




Volksrichtertum und Selbstverwaltung

l u den selbstverständlichen Forderungen des Jahres 1848 und den
ebenso selbstverständlichen Zugeständnissen gehörte die Einführung
des Geschwornengerichts, nachdem schon in den vorhergegangenen
Jahren, zum Beispiel auf der Germanistenversammlung in Lübeck
1847 eifrig dafür gesprochen und geworben worden war. In den
nächsten Jahrzehnten wurden denn auch in den deutschen Vundesstaaten Gesetze
mit den französisch-rheinischen Grundsätzen über Geschwornengerichte erlassen und
blieben in Geltung bis zum 1. Oktober 1879, wo sie durch die deutsche Straf¬
prozeßordnung außer Kraft gesetzt wurden. Diese regelte die Zuständigkeit der
Schwurgerichte für das ganze Reich und schuf obendrein noch die Schöffen¬
gerichte, sodaß damit der Anspruch des Volksrichtertums auf die Teilnahme
an der Rechtsprechung in Strafsachen als befriedigt eingesehn werden konnte.

In der Zivilgerichtsbarkeit beschränkte sich die Mitwirkung der Laien auf
die Kammern für Handelssachen, die je nach dem Bedürfnis für ganze Land¬
gerichtsbezirke oder abgegrenzte Teile des Bezirks auch außerhalb des Land-
gerichtssitzes errichtet werden können. Zu solchen Kammern gehören ein rechts¬
gelehrter Richter als Vorsitzender und zwei Handelsrichter als Beisitzer, die
ans Vorschlag der Handelskammern auf drei Jahre aus dem Kaufmannsstande
ernannt werden. Die Zahl der Kammern für Handelssachen ist fortwährend
im Steigen begriffen, und besonders in den großen Industriebezirken des Westens
macht sich das Bedürfnis nach immer weiterer Ausdehnung der Kammern geltend,
sodaß auch entsprechend mehr Handelsrichter zu den Sitzungen herangezogen
werden müssen.

Als dann durch die Botschaft Kaiser Wilhelms des Ersten vom 27. No¬
vember 1881 die soziale Gesetzgebung angeregt wurde und als Frucht dieser
Anregung die großen Vcrsicherungsgcsetze über die Kranken-, die Unfall- und
die Invalidenversicherung gegeben wurden, da wurden die Streitigkeiten besondern
Gerichten vorbehalten, die im Laufe der Jahre als Schiedsgerichte für Arbeiter¬
versicherung eingesetzt wurden. Es entsprach vollständig den Forderungen und
Strömungen der Zeit, daß diese Sondergerichtc aus den Kreisen der Beteiligten
auch ihre Richter haben wollten, und so besteht jedes Schiedsgericht ans einem
ständigen Beamten als Vorsitzenden und aus vier Beisitzern, von denen zwei
den Arbeitgebern, zwei den Versicherten angehören müssen. Ebensoviel Ver-


tlolrsnchtertum und Selbstverwaltung

nichten müßte, sodaß seine Staatsmänner diese Frage wohl noch nicht ernstlich
in den Kreis ihrer Betrachtungen gezogen haben werden. Darüber aber sind
sich alle Aufgeklärten einig, daß die australischen Staaten in nicht zu ferner
Zeit aufhören werden, als englische Kolonien zu bestehn.




Volksrichtertum und Selbstverwaltung

l u den selbstverständlichen Forderungen des Jahres 1848 und den
ebenso selbstverständlichen Zugeständnissen gehörte die Einführung
des Geschwornengerichts, nachdem schon in den vorhergegangenen
Jahren, zum Beispiel auf der Germanistenversammlung in Lübeck
1847 eifrig dafür gesprochen und geworben worden war. In den
nächsten Jahrzehnten wurden denn auch in den deutschen Vundesstaaten Gesetze
mit den französisch-rheinischen Grundsätzen über Geschwornengerichte erlassen und
blieben in Geltung bis zum 1. Oktober 1879, wo sie durch die deutsche Straf¬
prozeßordnung außer Kraft gesetzt wurden. Diese regelte die Zuständigkeit der
Schwurgerichte für das ganze Reich und schuf obendrein noch die Schöffen¬
gerichte, sodaß damit der Anspruch des Volksrichtertums auf die Teilnahme
an der Rechtsprechung in Strafsachen als befriedigt eingesehn werden konnte.

In der Zivilgerichtsbarkeit beschränkte sich die Mitwirkung der Laien auf
die Kammern für Handelssachen, die je nach dem Bedürfnis für ganze Land¬
gerichtsbezirke oder abgegrenzte Teile des Bezirks auch außerhalb des Land-
gerichtssitzes errichtet werden können. Zu solchen Kammern gehören ein rechts¬
gelehrter Richter als Vorsitzender und zwei Handelsrichter als Beisitzer, die
ans Vorschlag der Handelskammern auf drei Jahre aus dem Kaufmannsstande
ernannt werden. Die Zahl der Kammern für Handelssachen ist fortwährend
im Steigen begriffen, und besonders in den großen Industriebezirken des Westens
macht sich das Bedürfnis nach immer weiterer Ausdehnung der Kammern geltend,
sodaß auch entsprechend mehr Handelsrichter zu den Sitzungen herangezogen
werden müssen.

Als dann durch die Botschaft Kaiser Wilhelms des Ersten vom 27. No¬
vember 1881 die soziale Gesetzgebung angeregt wurde und als Frucht dieser
Anregung die großen Vcrsicherungsgcsetze über die Kranken-, die Unfall- und
die Invalidenversicherung gegeben wurden, da wurden die Streitigkeiten besondern
Gerichten vorbehalten, die im Laufe der Jahre als Schiedsgerichte für Arbeiter¬
versicherung eingesetzt wurden. Es entsprach vollständig den Forderungen und
Strömungen der Zeit, daß diese Sondergerichtc aus den Kreisen der Beteiligten
auch ihre Richter haben wollten, und so besteht jedes Schiedsgericht ans einem
ständigen Beamten als Vorsitzenden und aus vier Beisitzern, von denen zwei
den Arbeitgebern, zwei den Versicherten angehören müssen. Ebensoviel Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/512>, abgerufen am 01.05.2024.