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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Geheime oder öffentliche !t)ahi

Kraft und Dauer gemessen. Jenes geschieht vielleicht besser in der geheimen
Wahl, dieses in der öffentlichen. Allerdings der wirtschaftlich Schwache, der
intellektuell Schwache und vor allen Dingen der Träge, der Willensschwäche
werden in diesem Kampfe erstickt, erdrückt, besiegt. Die schwachen Willen fallen
aus, bleiben zu Haus, je wichtiger die Entscheidung, um so mehr. Der Freund
und Fürsprecher der geheimen Wahl meint, damit werde der Staat belogen.
O nein, wer zu schwach ist zur öffentlichen Abstimmung, der ist auch als
Wähler zu schwach zum Mitregieren, einem Geschäfte, bei dem man seinen
Gegnern trotzen können muß. Im Gegenteil, wenn die Schwachen anstimmen
etwa weil die Wahlpflicht sie zwingt, so wird der Staat getäuscht über die
Kraft der Hand, die als Majorität nach seinem Steuerruder greift.

Es ist eine alte Weisheit, daß nur die Freien sich selbst regieren können.
In unsrer verwickelten Wirtschaft, wo beinahe jeder auf irgendwelche Weise
abhängig ist, fehlt diese Freiheit vielen Leuten auf jeder Stufe der Gesellschaft.
Ganze Freiheit gibt es vielleicht für niemand. Ein organisierter Arbeiter ist
gegenüber seinem Brodherrn frei, seinen Kameraden gegenüber unfrei. Der
Beamte mit seiner festen Besoldung ist dem Publikum gegenüber sehr frei, aber
seinen Vorgesetzten gegenüber nicht. Ein Geschäftsmann ist dem einzelnen
gegenüber sehr frei, aber abhängig vom Wohlwollen der Menge, das ihm eine
einzige Verleumdung seines Geschäfts für immer rauben kann. Nach dem Grade
seiner Freiheit soll jeder in der Selbstverwaltung mithandeln, und wie frei er
ist, das bestimmt er selbst an der Gefahr in der Öffentlichkeit. Wer nicht frei
genug ist, daß er öffentlich wählen kann, der wähle geheim? Nein, der werde
so frei, daß er öffentlich wählen kann. Dann erst darf er mithandeln. Freiheit
kann nur da sein, wo die Öffentlichkeit ganz ausgeschlossen ist? Nein, Freiheit
ist nur da, wo die Öffentlichkeit vertragen wird.


4

Es gibt in der Öffentlichkeit keinen andern Schutz und keine andre Hilfe
für die schwachen Willen, als daß sie sich zusammenschließen, organisieren und
gegenseitig schützen. So werden sie stark. Und da jedermann nur unvollkommen
frei ist, so braucht jeder diese Anlehnung. Der weniger freie kriecht beim stärker
freien unter und allesamt in einer großen Partei. Es ist die Aufgabe des
Parteiwesens, alle Willensrichtungen zu organisieren, die überhaupt darstellbar
sind, sie zusammenzufassen und dem einzelnen Schutz zu gewähren im großen
Heere. Wo es wirkliche Selbstverwaltung des Volkes geben soll, da müssen
alle diese Parteisplitter wiederum zusammengeschlossen werden in zwei große
gleichstarke Parteien, die einander gegenüberstehn. Jede schwache Existenz findet
dann Schutz gegen die rohe Gewalt der einen Partei bei der gleichstarken
Kraft der andern, der gequälte Arbeiter links, der umstellte Arbeitgeber rechts.
Bei einem politisch fähigen und reifen Volke führt dieser bewaffnete Friede
dazu, daß Gewalttaten, Mißhandlungen durch und in der Öffentlichkeit seltner


Geheime oder öffentliche !t)ahi

Kraft und Dauer gemessen. Jenes geschieht vielleicht besser in der geheimen
Wahl, dieses in der öffentlichen. Allerdings der wirtschaftlich Schwache, der
intellektuell Schwache und vor allen Dingen der Träge, der Willensschwäche
werden in diesem Kampfe erstickt, erdrückt, besiegt. Die schwachen Willen fallen
aus, bleiben zu Haus, je wichtiger die Entscheidung, um so mehr. Der Freund
und Fürsprecher der geheimen Wahl meint, damit werde der Staat belogen.
O nein, wer zu schwach ist zur öffentlichen Abstimmung, der ist auch als
Wähler zu schwach zum Mitregieren, einem Geschäfte, bei dem man seinen
Gegnern trotzen können muß. Im Gegenteil, wenn die Schwachen anstimmen
etwa weil die Wahlpflicht sie zwingt, so wird der Staat getäuscht über die
Kraft der Hand, die als Majorität nach seinem Steuerruder greift.

Es ist eine alte Weisheit, daß nur die Freien sich selbst regieren können.
In unsrer verwickelten Wirtschaft, wo beinahe jeder auf irgendwelche Weise
abhängig ist, fehlt diese Freiheit vielen Leuten auf jeder Stufe der Gesellschaft.
Ganze Freiheit gibt es vielleicht für niemand. Ein organisierter Arbeiter ist
gegenüber seinem Brodherrn frei, seinen Kameraden gegenüber unfrei. Der
Beamte mit seiner festen Besoldung ist dem Publikum gegenüber sehr frei, aber
seinen Vorgesetzten gegenüber nicht. Ein Geschäftsmann ist dem einzelnen
gegenüber sehr frei, aber abhängig vom Wohlwollen der Menge, das ihm eine
einzige Verleumdung seines Geschäfts für immer rauben kann. Nach dem Grade
seiner Freiheit soll jeder in der Selbstverwaltung mithandeln, und wie frei er
ist, das bestimmt er selbst an der Gefahr in der Öffentlichkeit. Wer nicht frei
genug ist, daß er öffentlich wählen kann, der wähle geheim? Nein, der werde
so frei, daß er öffentlich wählen kann. Dann erst darf er mithandeln. Freiheit
kann nur da sein, wo die Öffentlichkeit ganz ausgeschlossen ist? Nein, Freiheit
ist nur da, wo die Öffentlichkeit vertragen wird.


4

Es gibt in der Öffentlichkeit keinen andern Schutz und keine andre Hilfe
für die schwachen Willen, als daß sie sich zusammenschließen, organisieren und
gegenseitig schützen. So werden sie stark. Und da jedermann nur unvollkommen
frei ist, so braucht jeder diese Anlehnung. Der weniger freie kriecht beim stärker
freien unter und allesamt in einer großen Partei. Es ist die Aufgabe des
Parteiwesens, alle Willensrichtungen zu organisieren, die überhaupt darstellbar
sind, sie zusammenzufassen und dem einzelnen Schutz zu gewähren im großen
Heere. Wo es wirkliche Selbstverwaltung des Volkes geben soll, da müssen
alle diese Parteisplitter wiederum zusammengeschlossen werden in zwei große
gleichstarke Parteien, die einander gegenüberstehn. Jede schwache Existenz findet
dann Schutz gegen die rohe Gewalt der einen Partei bei der gleichstarken
Kraft der andern, der gequälte Arbeiter links, der umstellte Arbeitgeber rechts.
Bei einem politisch fähigen und reifen Volke führt dieser bewaffnete Friede
dazu, daß Gewalttaten, Mißhandlungen durch und in der Öffentlichkeit seltner


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[0076] Geheime oder öffentliche !t)ahi Kraft und Dauer gemessen. Jenes geschieht vielleicht besser in der geheimen Wahl, dieses in der öffentlichen. Allerdings der wirtschaftlich Schwache, der intellektuell Schwache und vor allen Dingen der Träge, der Willensschwäche werden in diesem Kampfe erstickt, erdrückt, besiegt. Die schwachen Willen fallen aus, bleiben zu Haus, je wichtiger die Entscheidung, um so mehr. Der Freund und Fürsprecher der geheimen Wahl meint, damit werde der Staat belogen. O nein, wer zu schwach ist zur öffentlichen Abstimmung, der ist auch als Wähler zu schwach zum Mitregieren, einem Geschäfte, bei dem man seinen Gegnern trotzen können muß. Im Gegenteil, wenn die Schwachen anstimmen etwa weil die Wahlpflicht sie zwingt, so wird der Staat getäuscht über die Kraft der Hand, die als Majorität nach seinem Steuerruder greift. Es ist eine alte Weisheit, daß nur die Freien sich selbst regieren können. In unsrer verwickelten Wirtschaft, wo beinahe jeder auf irgendwelche Weise abhängig ist, fehlt diese Freiheit vielen Leuten auf jeder Stufe der Gesellschaft. Ganze Freiheit gibt es vielleicht für niemand. Ein organisierter Arbeiter ist gegenüber seinem Brodherrn frei, seinen Kameraden gegenüber unfrei. Der Beamte mit seiner festen Besoldung ist dem Publikum gegenüber sehr frei, aber seinen Vorgesetzten gegenüber nicht. Ein Geschäftsmann ist dem einzelnen gegenüber sehr frei, aber abhängig vom Wohlwollen der Menge, das ihm eine einzige Verleumdung seines Geschäfts für immer rauben kann. Nach dem Grade seiner Freiheit soll jeder in der Selbstverwaltung mithandeln, und wie frei er ist, das bestimmt er selbst an der Gefahr in der Öffentlichkeit. Wer nicht frei genug ist, daß er öffentlich wählen kann, der wähle geheim? Nein, der werde so frei, daß er öffentlich wählen kann. Dann erst darf er mithandeln. Freiheit kann nur da sein, wo die Öffentlichkeit ganz ausgeschlossen ist? Nein, Freiheit ist nur da, wo die Öffentlichkeit vertragen wird. 4 Es gibt in der Öffentlichkeit keinen andern Schutz und keine andre Hilfe für die schwachen Willen, als daß sie sich zusammenschließen, organisieren und gegenseitig schützen. So werden sie stark. Und da jedermann nur unvollkommen frei ist, so braucht jeder diese Anlehnung. Der weniger freie kriecht beim stärker freien unter und allesamt in einer großen Partei. Es ist die Aufgabe des Parteiwesens, alle Willensrichtungen zu organisieren, die überhaupt darstellbar sind, sie zusammenzufassen und dem einzelnen Schutz zu gewähren im großen Heere. Wo es wirkliche Selbstverwaltung des Volkes geben soll, da müssen alle diese Parteisplitter wiederum zusammengeschlossen werden in zwei große gleichstarke Parteien, die einander gegenüberstehn. Jede schwache Existenz findet dann Schutz gegen die rohe Gewalt der einen Partei bei der gleichstarken Kraft der andern, der gequälte Arbeiter links, der umstellte Arbeitgeber rechts. Bei einem politisch fähigen und reifen Volke führt dieser bewaffnete Friede dazu, daß Gewalttaten, Mißhandlungen durch und in der Öffentlichkeit seltner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/76>, abgerufen am 01.05.2024.