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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Geheime oder öffentliche Wahl

werden. Die Erziehung des Volkes in der Öffentlichkeit ist der einzige Schutz
gegen die Gefahr der Öffentlichkeit; nicht aber die Geheimhaltung der Wahl.
Denn diese Geheimhaltung bleibt immer unwahr. Jede Partei braucht Öffent¬
lichkeit. Um zu leben, muß jede Partei immer versuchen, das Wahlgeheimnis
zu lüften. Wo die Wahl geheim ist, braucht sie schlechte Mittel, um dahinter
zu kommen, Mittel, gegen die es schließlich keine andre Wehr gibt als die
Flucht in die Öffentlichkeit. Auch wo die Wahl geheim ist, muß man sich mit
einer gewissen Vorsicht isolieren, das heißt vom öffentlichen Leben fernhalten,
damit nicht Haltung, Mitsprechen, Gesellschaft die Gesinnung verraten. Allerdings
bei der geheimen Abstimmung ist ein friedliches soziales Dasein möglich, aber
das ist ein unpolitisches Dasein. Solches Dasein, wo man von der Politik
nichts zu wissen braucht, ist auch unter der Tyrannis möglich. Wer die geheime
Wahl will, der will politische Unmündigkeit und Unfähigkeit des Volkes. In
der politischen Wirklichkeit ist nur das Volk frei, das die Öffentlichkeit
nicht fürchtet.


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Das Regieren ist mehr eine Aufgabe des Willens als eine der Intelligenz.
Für eine bestimmte Aufgabe gibt es wohl viele Intelligenzen, Anschauungen,
Meinungen; aber immer nur zwei Willen: Entweder, Oder, Ja oder Nein,
Rechts oder Links. Darum gibt es im wirklichen politischen Leben immer nur
zwei Parteien. Nur wo zwei große Parteien, durch dauerndes, immer wieder¬
holtes Auskämpfen in der Öffentlichkeit zu willensbeständigen Körperschaften
geworden, auf dem Platze stehn, kann das Volk mit diesen beiden Willens¬
instrumenten wirklich selbst den Willen der höchsten Gewalt, der Regierung,
bestimmen. Solche regierungsfähige Parteien, dauerhafte willenskräftige Organe
des Volkes entstehn nur in der vollsten Öffentlichkeit. Dagegen, wo Geheim¬
haltung der Wahl die Hauptsache ist, da entsteht ein Chaos ohnmächtiger
Parteien, das die Unzahl impotenter Stimmungen des Volkes photographiert,
nach langen Intervallen Augenblicksaufnahmen anstellt, das aber politischen
Wert nur hat als Material für die Autokratie der höchsten Gewalt.


6

Wenn ein Volk sich selbst regieren soll, so braucht es immer eine Aristokratie
irgendwelcher Art. Es muß immer eine Auslese aus sich treffen, nicht der im
gemeinen Sinne des Wortes Intelligentesten, sondern derer, die den stärksten,
reinsten, ehrlichsten Willen oder Glauben für eine Sache haben. Diese sind die
politischen Führer. Um festzustehn, müssen sie frei sein, frei geboren oder frei
geworden sein. Diese Freiheit ist nicht notwendig die Folge des Reichtums oder
der vornehmen Geburt, zum Beispiel nicht beim Hofadel. Man kann auch durch
eigne Charakterkraft und durch wirtschaftliche Kraft frei sein. Solche Freien sind
die Allerfreiesten nach oben und nach unten. Diese Freien werden durch eine
Art Auslese im öffentlichen Leben gefunden und durch die Mitarbeit in den


Geheime oder öffentliche Wahl

werden. Die Erziehung des Volkes in der Öffentlichkeit ist der einzige Schutz
gegen die Gefahr der Öffentlichkeit; nicht aber die Geheimhaltung der Wahl.
Denn diese Geheimhaltung bleibt immer unwahr. Jede Partei braucht Öffent¬
lichkeit. Um zu leben, muß jede Partei immer versuchen, das Wahlgeheimnis
zu lüften. Wo die Wahl geheim ist, braucht sie schlechte Mittel, um dahinter
zu kommen, Mittel, gegen die es schließlich keine andre Wehr gibt als die
Flucht in die Öffentlichkeit. Auch wo die Wahl geheim ist, muß man sich mit
einer gewissen Vorsicht isolieren, das heißt vom öffentlichen Leben fernhalten,
damit nicht Haltung, Mitsprechen, Gesellschaft die Gesinnung verraten. Allerdings
bei der geheimen Abstimmung ist ein friedliches soziales Dasein möglich, aber
das ist ein unpolitisches Dasein. Solches Dasein, wo man von der Politik
nichts zu wissen braucht, ist auch unter der Tyrannis möglich. Wer die geheime
Wahl will, der will politische Unmündigkeit und Unfähigkeit des Volkes. In
der politischen Wirklichkeit ist nur das Volk frei, das die Öffentlichkeit
nicht fürchtet.


5

Das Regieren ist mehr eine Aufgabe des Willens als eine der Intelligenz.
Für eine bestimmte Aufgabe gibt es wohl viele Intelligenzen, Anschauungen,
Meinungen; aber immer nur zwei Willen: Entweder, Oder, Ja oder Nein,
Rechts oder Links. Darum gibt es im wirklichen politischen Leben immer nur
zwei Parteien. Nur wo zwei große Parteien, durch dauerndes, immer wieder¬
holtes Auskämpfen in der Öffentlichkeit zu willensbeständigen Körperschaften
geworden, auf dem Platze stehn, kann das Volk mit diesen beiden Willens¬
instrumenten wirklich selbst den Willen der höchsten Gewalt, der Regierung,
bestimmen. Solche regierungsfähige Parteien, dauerhafte willenskräftige Organe
des Volkes entstehn nur in der vollsten Öffentlichkeit. Dagegen, wo Geheim¬
haltung der Wahl die Hauptsache ist, da entsteht ein Chaos ohnmächtiger
Parteien, das die Unzahl impotenter Stimmungen des Volkes photographiert,
nach langen Intervallen Augenblicksaufnahmen anstellt, das aber politischen
Wert nur hat als Material für die Autokratie der höchsten Gewalt.


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Wenn ein Volk sich selbst regieren soll, so braucht es immer eine Aristokratie
irgendwelcher Art. Es muß immer eine Auslese aus sich treffen, nicht der im
gemeinen Sinne des Wortes Intelligentesten, sondern derer, die den stärksten,
reinsten, ehrlichsten Willen oder Glauben für eine Sache haben. Diese sind die
politischen Führer. Um festzustehn, müssen sie frei sein, frei geboren oder frei
geworden sein. Diese Freiheit ist nicht notwendig die Folge des Reichtums oder
der vornehmen Geburt, zum Beispiel nicht beim Hofadel. Man kann auch durch
eigne Charakterkraft und durch wirtschaftliche Kraft frei sein. Solche Freien sind
die Allerfreiesten nach oben und nach unten. Diese Freien werden durch eine
Art Auslese im öffentlichen Leben gefunden und durch die Mitarbeit in den


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[0077] Geheime oder öffentliche Wahl werden. Die Erziehung des Volkes in der Öffentlichkeit ist der einzige Schutz gegen die Gefahr der Öffentlichkeit; nicht aber die Geheimhaltung der Wahl. Denn diese Geheimhaltung bleibt immer unwahr. Jede Partei braucht Öffent¬ lichkeit. Um zu leben, muß jede Partei immer versuchen, das Wahlgeheimnis zu lüften. Wo die Wahl geheim ist, braucht sie schlechte Mittel, um dahinter zu kommen, Mittel, gegen die es schließlich keine andre Wehr gibt als die Flucht in die Öffentlichkeit. Auch wo die Wahl geheim ist, muß man sich mit einer gewissen Vorsicht isolieren, das heißt vom öffentlichen Leben fernhalten, damit nicht Haltung, Mitsprechen, Gesellschaft die Gesinnung verraten. Allerdings bei der geheimen Abstimmung ist ein friedliches soziales Dasein möglich, aber das ist ein unpolitisches Dasein. Solches Dasein, wo man von der Politik nichts zu wissen braucht, ist auch unter der Tyrannis möglich. Wer die geheime Wahl will, der will politische Unmündigkeit und Unfähigkeit des Volkes. In der politischen Wirklichkeit ist nur das Volk frei, das die Öffentlichkeit nicht fürchtet. 5 Das Regieren ist mehr eine Aufgabe des Willens als eine der Intelligenz. Für eine bestimmte Aufgabe gibt es wohl viele Intelligenzen, Anschauungen, Meinungen; aber immer nur zwei Willen: Entweder, Oder, Ja oder Nein, Rechts oder Links. Darum gibt es im wirklichen politischen Leben immer nur zwei Parteien. Nur wo zwei große Parteien, durch dauerndes, immer wieder¬ holtes Auskämpfen in der Öffentlichkeit zu willensbeständigen Körperschaften geworden, auf dem Platze stehn, kann das Volk mit diesen beiden Willens¬ instrumenten wirklich selbst den Willen der höchsten Gewalt, der Regierung, bestimmen. Solche regierungsfähige Parteien, dauerhafte willenskräftige Organe des Volkes entstehn nur in der vollsten Öffentlichkeit. Dagegen, wo Geheim¬ haltung der Wahl die Hauptsache ist, da entsteht ein Chaos ohnmächtiger Parteien, das die Unzahl impotenter Stimmungen des Volkes photographiert, nach langen Intervallen Augenblicksaufnahmen anstellt, das aber politischen Wert nur hat als Material für die Autokratie der höchsten Gewalt. 6 Wenn ein Volk sich selbst regieren soll, so braucht es immer eine Aristokratie irgendwelcher Art. Es muß immer eine Auslese aus sich treffen, nicht der im gemeinen Sinne des Wortes Intelligentesten, sondern derer, die den stärksten, reinsten, ehrlichsten Willen oder Glauben für eine Sache haben. Diese sind die politischen Führer. Um festzustehn, müssen sie frei sein, frei geboren oder frei geworden sein. Diese Freiheit ist nicht notwendig die Folge des Reichtums oder der vornehmen Geburt, zum Beispiel nicht beim Hofadel. Man kann auch durch eigne Charakterkraft und durch wirtschaftliche Kraft frei sein. Solche Freien sind die Allerfreiesten nach oben und nach unten. Diese Freien werden durch eine Art Auslese im öffentlichen Leben gefunden und durch die Mitarbeit in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/77>, abgerufen am 15.05.2024.