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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Europäisch-asiatische Kulturbeziehungen in Innerasien
von R. Stulle

n ungeahnter Weise hat die Forschung des letzten Jahrhunderts
die alten Kulturländer Asiens der geschichtlichen Erkenntnis er¬
schlossen. Heute beginnt die Erschließung bisher wenig beachteter
Gebiete des innern Asiens. Ein geographisch wie geschichtlich
gleich schwer zugängliches Gebiet, das chinesische Turkestan, ist
das natürliche Bindeglied zwischen Westasien und China und als solches
jederzeit ein Durchgangsland für friedlichen Verkehr und kriegerische Unter¬
nehmungen gewesen. Seine Straßen sind zeitweise, zumal im dreizehnten
Jahrhundert, die Bahnen des größten Landverkehrs der Geschichte gewesen.
Die verschiedensten Kulturen haben sich hier in einer höchst merkwürdigen
Mischkultur vereinigt.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist Zentralasien der Schauplatz er¬
folgreicher wissenschaftlicher Forschung geworden. Die Reisen des Russen
Przewalsky und Sven Hedins haben das geographische Bild des Landes er¬
schlossen. Sven Hedin gab durch die Auffindung alter Ruinenstädte, die in
der Wüste Taklamakan begraben liegen, die Anregung zur archäologischen Er¬
forschung des Landes. Was wir aus chinesischen Berichten wußten, was heute
noch in der Volkssage der Türken als Erinnerung nachklingt, ist durch die
erfolgreichen Ausgrabungen von M. A. Stein, Grünwedel, Lecoq und dem
Russen Klementz erwiesen: hier blühte noch in den ersten nachchristlichen
Jahrhunderten eine eigenartige Mischkultur, aufgebaut aus indischen, chinesischen.
Persischen und hellenistischen Elementen. Unter ihnen war der Buddhismus
die vorherrschende Kulturmacht. Teile aus den bisher Verlornen Schriften
des großen persischen religiösen Reformators Mani sind bei Turfan entdeckt
worden; ihre Entzifferung ist für die Religionsgeschichte eine epochemachende
Tat. Ebenso sind für die Geschichte des buddhistischen Kanons wichtige Bruch¬
stücke in Sanskrit ans Licht gekommen. Der sogenannte "nördliche Kanon"
ist damit greifbar geworden. Endlich ist von N. Pischel die Hypothese auf¬
gestellt worden, daß die buddhistischen Einwirkungen, die in den ältesten
christlichen Erzählungen längst angenommen wurden, im Verkehr zwischen Bud¬
dhisten und Christen in Turkestan übernommen worden seien. Auch das bekannte
Symbol des Fisches für Christus soll indischer Herkunft und durch Turkestan
vermittelt worden sein. Die islamische Zeit Zentralasiens ist von Dutreuil




Europäisch-asiatische Kulturbeziehungen in Innerasien
von R. Stulle

n ungeahnter Weise hat die Forschung des letzten Jahrhunderts
die alten Kulturländer Asiens der geschichtlichen Erkenntnis er¬
schlossen. Heute beginnt die Erschließung bisher wenig beachteter
Gebiete des innern Asiens. Ein geographisch wie geschichtlich
gleich schwer zugängliches Gebiet, das chinesische Turkestan, ist
das natürliche Bindeglied zwischen Westasien und China und als solches
jederzeit ein Durchgangsland für friedlichen Verkehr und kriegerische Unter¬
nehmungen gewesen. Seine Straßen sind zeitweise, zumal im dreizehnten
Jahrhundert, die Bahnen des größten Landverkehrs der Geschichte gewesen.
Die verschiedensten Kulturen haben sich hier in einer höchst merkwürdigen
Mischkultur vereinigt.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist Zentralasien der Schauplatz er¬
folgreicher wissenschaftlicher Forschung geworden. Die Reisen des Russen
Przewalsky und Sven Hedins haben das geographische Bild des Landes er¬
schlossen. Sven Hedin gab durch die Auffindung alter Ruinenstädte, die in
der Wüste Taklamakan begraben liegen, die Anregung zur archäologischen Er¬
forschung des Landes. Was wir aus chinesischen Berichten wußten, was heute
noch in der Volkssage der Türken als Erinnerung nachklingt, ist durch die
erfolgreichen Ausgrabungen von M. A. Stein, Grünwedel, Lecoq und dem
Russen Klementz erwiesen: hier blühte noch in den ersten nachchristlichen
Jahrhunderten eine eigenartige Mischkultur, aufgebaut aus indischen, chinesischen.
Persischen und hellenistischen Elementen. Unter ihnen war der Buddhismus
die vorherrschende Kulturmacht. Teile aus den bisher Verlornen Schriften
des großen persischen religiösen Reformators Mani sind bei Turfan entdeckt
worden; ihre Entzifferung ist für die Religionsgeschichte eine epochemachende
Tat. Ebenso sind für die Geschichte des buddhistischen Kanons wichtige Bruch¬
stücke in Sanskrit ans Licht gekommen. Der sogenannte „nördliche Kanon"
ist damit greifbar geworden. Endlich ist von N. Pischel die Hypothese auf¬
gestellt worden, daß die buddhistischen Einwirkungen, die in den ältesten
christlichen Erzählungen längst angenommen wurden, im Verkehr zwischen Bud¬
dhisten und Christen in Turkestan übernommen worden seien. Auch das bekannte
Symbol des Fisches für Christus soll indischer Herkunft und durch Turkestan
vermittelt worden sein. Die islamische Zeit Zentralasiens ist von Dutreuil


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[0171] [Abbildung] Europäisch-asiatische Kulturbeziehungen in Innerasien von R. Stulle n ungeahnter Weise hat die Forschung des letzten Jahrhunderts die alten Kulturländer Asiens der geschichtlichen Erkenntnis er¬ schlossen. Heute beginnt die Erschließung bisher wenig beachteter Gebiete des innern Asiens. Ein geographisch wie geschichtlich gleich schwer zugängliches Gebiet, das chinesische Turkestan, ist das natürliche Bindeglied zwischen Westasien und China und als solches jederzeit ein Durchgangsland für friedlichen Verkehr und kriegerische Unter¬ nehmungen gewesen. Seine Straßen sind zeitweise, zumal im dreizehnten Jahrhundert, die Bahnen des größten Landverkehrs der Geschichte gewesen. Die verschiedensten Kulturen haben sich hier in einer höchst merkwürdigen Mischkultur vereinigt. Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist Zentralasien der Schauplatz er¬ folgreicher wissenschaftlicher Forschung geworden. Die Reisen des Russen Przewalsky und Sven Hedins haben das geographische Bild des Landes er¬ schlossen. Sven Hedin gab durch die Auffindung alter Ruinenstädte, die in der Wüste Taklamakan begraben liegen, die Anregung zur archäologischen Er¬ forschung des Landes. Was wir aus chinesischen Berichten wußten, was heute noch in der Volkssage der Türken als Erinnerung nachklingt, ist durch die erfolgreichen Ausgrabungen von M. A. Stein, Grünwedel, Lecoq und dem Russen Klementz erwiesen: hier blühte noch in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten eine eigenartige Mischkultur, aufgebaut aus indischen, chinesischen. Persischen und hellenistischen Elementen. Unter ihnen war der Buddhismus die vorherrschende Kulturmacht. Teile aus den bisher Verlornen Schriften des großen persischen religiösen Reformators Mani sind bei Turfan entdeckt worden; ihre Entzifferung ist für die Religionsgeschichte eine epochemachende Tat. Ebenso sind für die Geschichte des buddhistischen Kanons wichtige Bruch¬ stücke in Sanskrit ans Licht gekommen. Der sogenannte „nördliche Kanon" ist damit greifbar geworden. Endlich ist von N. Pischel die Hypothese auf¬ gestellt worden, daß die buddhistischen Einwirkungen, die in den ältesten christlichen Erzählungen längst angenommen wurden, im Verkehr zwischen Bud¬ dhisten und Christen in Turkestan übernommen worden seien. Auch das bekannte Symbol des Fisches für Christus soll indischer Herkunft und durch Turkestan vermittelt worden sein. Die islamische Zeit Zentralasiens ist von Dutreuil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/171>, abgerufen am 28.04.2024.