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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

Mich amüsierte das Gespräch; es war zu charakteristisch. Jener ehrliche
Brite war aufrichtig, ging aber in seiner Aufrichtigkeit zu weit. Man kann
wohl eine Liebhaberei für Gemüse und Früchte haben, aber beim Frühstück
sich nur mit einigen Äpfeln begnügen -- das ist undenkbar. Das Schweigen
seiner Genossen bewies, daß sie sich seiner schämten. Was er erzählte, deutete
an, daß er ein armer Schlucker oder ein Geizhals sein müsse. Um sich wieder
etwas in Respekt zu setzen, fiel ihm nichts besseres ein als zu beteuern, daß
er die Äpfel pfundweise verzehre. Ich mußte über den Kerl heimlich lachen;
ich durchschaute ihn. Er war ein Engländer durch und durch, denn dem ist
nichts verhaßter als Knauserei. Dieser Haß äußert sich oft in lächerlicher
oder nicht zu billigender Weise; nichtsdestoweniger ist er die Quelle unsrer
vortrefflichen Eigenschaften.

Ein Engländer wünscht vor allem gut und reichlich zu leben; darum
fürchtet und verabscheut er nichts so sehr wie die Armut. Daß er generös
sein und wegen seiner Gutherzigkeit geliebt sein will, ist lobenswert; tadelns¬
wert aber, daß er jeden, der nicht freigebig sein kann, als einen inferioren
und heruntergekommnen Menschen ansieht. Am deutlichsten treten alle seine
Fehler hervor, sobald er durch den Verlust seiner eignen Wohlhabenheit den
Respekt vor sich selbst verloren hat.

Wie ich heute in einem Zeitungsartikel gelesen habe, wird wieder einmal
ein Lobgesang auf die allgemeine Wehrpflicht angestimmt. Ähnliches fand ich
schon früher in den Journalen. Mit besonderm Vergnügen nehme ich aber
wahr, daß weitaus die Mehrzahl der Engländer nichts davon wissen will,
ebenso wie ich. Es ist jedoch sehr die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht
ein Ding der Unmöglichkeit für England bleiben wird. Jeder denkende Engländer
muß zu der Einsicht kommen, daß wir gegen die barbarischen Gelüste der Massen,
die nur bei auserlesnen Nationen langsam zurückgedrängt und notdürftig in
Schranken gehalten werden, keine einigermaßen geeigneten Schutzmittel besitzen.

Die Demokratie erhebt wütend ihre Fäuste gegen jeden verheißungsvoller
Fortschritt der Zivilisation; im nicht unnatürlichen Bunde mit ihr bedroht das
Wiedererwachen der auf den Militarismus sich stützenden monarchischen Willkür
unsre Zukunft in unheimlicher Weise. Da braucht es nur eines kriegslustiger
Genies, das keck sein Schwert erhebt, und die Nationen packen sich grimmig
an der Gurgel. Ist England in Gefahr, jeder Engländer wird kampfbereit
sein; in solcher Bedrängnis gibt es kein Besinnen. Aber welch ein beklagens¬
werter Wandel müßte bei unsern Inselbewohnern eintreten, wenn sie ohne un¬
mittelbar dringende Gefahr ihren Nacken unter das verfluchte Joch der allge¬
meinen Wehrpflicht beugen würden! Ich hoffe, daß sie die Freiheit ihrer
Manneswürde höher achten werden, als es sogar die Klugheit erheischt.




Englische Eigenart

Mich amüsierte das Gespräch; es war zu charakteristisch. Jener ehrliche
Brite war aufrichtig, ging aber in seiner Aufrichtigkeit zu weit. Man kann
wohl eine Liebhaberei für Gemüse und Früchte haben, aber beim Frühstück
sich nur mit einigen Äpfeln begnügen — das ist undenkbar. Das Schweigen
seiner Genossen bewies, daß sie sich seiner schämten. Was er erzählte, deutete
an, daß er ein armer Schlucker oder ein Geizhals sein müsse. Um sich wieder
etwas in Respekt zu setzen, fiel ihm nichts besseres ein als zu beteuern, daß
er die Äpfel pfundweise verzehre. Ich mußte über den Kerl heimlich lachen;
ich durchschaute ihn. Er war ein Engländer durch und durch, denn dem ist
nichts verhaßter als Knauserei. Dieser Haß äußert sich oft in lächerlicher
oder nicht zu billigender Weise; nichtsdestoweniger ist er die Quelle unsrer
vortrefflichen Eigenschaften.

Ein Engländer wünscht vor allem gut und reichlich zu leben; darum
fürchtet und verabscheut er nichts so sehr wie die Armut. Daß er generös
sein und wegen seiner Gutherzigkeit geliebt sein will, ist lobenswert; tadelns¬
wert aber, daß er jeden, der nicht freigebig sein kann, als einen inferioren
und heruntergekommnen Menschen ansieht. Am deutlichsten treten alle seine
Fehler hervor, sobald er durch den Verlust seiner eignen Wohlhabenheit den
Respekt vor sich selbst verloren hat.

Wie ich heute in einem Zeitungsartikel gelesen habe, wird wieder einmal
ein Lobgesang auf die allgemeine Wehrpflicht angestimmt. Ähnliches fand ich
schon früher in den Journalen. Mit besonderm Vergnügen nehme ich aber
wahr, daß weitaus die Mehrzahl der Engländer nichts davon wissen will,
ebenso wie ich. Es ist jedoch sehr die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht
ein Ding der Unmöglichkeit für England bleiben wird. Jeder denkende Engländer
muß zu der Einsicht kommen, daß wir gegen die barbarischen Gelüste der Massen,
die nur bei auserlesnen Nationen langsam zurückgedrängt und notdürftig in
Schranken gehalten werden, keine einigermaßen geeigneten Schutzmittel besitzen.

Die Demokratie erhebt wütend ihre Fäuste gegen jeden verheißungsvoller
Fortschritt der Zivilisation; im nicht unnatürlichen Bunde mit ihr bedroht das
Wiedererwachen der auf den Militarismus sich stützenden monarchischen Willkür
unsre Zukunft in unheimlicher Weise. Da braucht es nur eines kriegslustiger
Genies, das keck sein Schwert erhebt, und die Nationen packen sich grimmig
an der Gurgel. Ist England in Gefahr, jeder Engländer wird kampfbereit
sein; in solcher Bedrängnis gibt es kein Besinnen. Aber welch ein beklagens¬
werter Wandel müßte bei unsern Inselbewohnern eintreten, wenn sie ohne un¬
mittelbar dringende Gefahr ihren Nacken unter das verfluchte Joch der allge¬
meinen Wehrpflicht beugen würden! Ich hoffe, daß sie die Freiheit ihrer
Manneswürde höher achten werden, als es sogar die Klugheit erheischt.




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[0170] Englische Eigenart Mich amüsierte das Gespräch; es war zu charakteristisch. Jener ehrliche Brite war aufrichtig, ging aber in seiner Aufrichtigkeit zu weit. Man kann wohl eine Liebhaberei für Gemüse und Früchte haben, aber beim Frühstück sich nur mit einigen Äpfeln begnügen — das ist undenkbar. Das Schweigen seiner Genossen bewies, daß sie sich seiner schämten. Was er erzählte, deutete an, daß er ein armer Schlucker oder ein Geizhals sein müsse. Um sich wieder etwas in Respekt zu setzen, fiel ihm nichts besseres ein als zu beteuern, daß er die Äpfel pfundweise verzehre. Ich mußte über den Kerl heimlich lachen; ich durchschaute ihn. Er war ein Engländer durch und durch, denn dem ist nichts verhaßter als Knauserei. Dieser Haß äußert sich oft in lächerlicher oder nicht zu billigender Weise; nichtsdestoweniger ist er die Quelle unsrer vortrefflichen Eigenschaften. Ein Engländer wünscht vor allem gut und reichlich zu leben; darum fürchtet und verabscheut er nichts so sehr wie die Armut. Daß er generös sein und wegen seiner Gutherzigkeit geliebt sein will, ist lobenswert; tadelns¬ wert aber, daß er jeden, der nicht freigebig sein kann, als einen inferioren und heruntergekommnen Menschen ansieht. Am deutlichsten treten alle seine Fehler hervor, sobald er durch den Verlust seiner eignen Wohlhabenheit den Respekt vor sich selbst verloren hat. Wie ich heute in einem Zeitungsartikel gelesen habe, wird wieder einmal ein Lobgesang auf die allgemeine Wehrpflicht angestimmt. Ähnliches fand ich schon früher in den Journalen. Mit besonderm Vergnügen nehme ich aber wahr, daß weitaus die Mehrzahl der Engländer nichts davon wissen will, ebenso wie ich. Es ist jedoch sehr die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht ein Ding der Unmöglichkeit für England bleiben wird. Jeder denkende Engländer muß zu der Einsicht kommen, daß wir gegen die barbarischen Gelüste der Massen, die nur bei auserlesnen Nationen langsam zurückgedrängt und notdürftig in Schranken gehalten werden, keine einigermaßen geeigneten Schutzmittel besitzen. Die Demokratie erhebt wütend ihre Fäuste gegen jeden verheißungsvoller Fortschritt der Zivilisation; im nicht unnatürlichen Bunde mit ihr bedroht das Wiedererwachen der auf den Militarismus sich stützenden monarchischen Willkür unsre Zukunft in unheimlicher Weise. Da braucht es nur eines kriegslustiger Genies, das keck sein Schwert erhebt, und die Nationen packen sich grimmig an der Gurgel. Ist England in Gefahr, jeder Engländer wird kampfbereit sein; in solcher Bedrängnis gibt es kein Besinnen. Aber welch ein beklagens¬ werter Wandel müßte bei unsern Inselbewohnern eintreten, wenn sie ohne un¬ mittelbar dringende Gefahr ihren Nacken unter das verfluchte Joch der allge¬ meinen Wehrpflicht beugen würden! Ich hoffe, daß sie die Freiheit ihrer Manneswürde höher achten werden, als es sogar die Klugheit erheischt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/170>, abgerufen am 12.05.2024.