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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

als die vorhandnen wissenschaftlichen Wahrheiten, die künstlerischen und technischen
Vorbilder in unzähligen Kopien mit Variationen zu wiederholen. Seine letzte
Leistung bestand darin, mit seinem Staate dem Christentum das Vorbild zu
seiner kirchlichen Organisation zu leihen, der dann die Barbaren die neue
Lebenskraft zuführten. Die heutige Menschheit sieht sich durch die fortschreitende
Beherrschung der Naturkräfte vor neue, fast täglich wechselnde Aufgaben gestellt,
die neue Aussichten eröffnen, die Lust zum Vorwürtsstreben wecken, den Un¬
lustigen zum Streben und Arbeiten zwingen und damit den Geist jung er¬
halten, auch den philosophischen und theosophischen Grübeleien ihr Gefährliches
nehmen, weil der Zwang zur Arbeit die Mehrzahl hindert, sich ihnen ganz und
gar hinzugeben, und weil uns die Naturwissenschaft von der Herrschaft des
Aberglaubens erlöst hat. Aber wo immer dem einzelnen Stunden der Muße
vergönnt sind, da erwacht auch das metaphysische Bedürfnis wieder, das nur
der Glaube befriedigen kann, weil die Philosophie in Beziehung auf die letzten
Fragen heute so bankrott ist wie damals, als Lucian- dem Hermotimus die
Augen öffnete. Und Tod und Leiden sind, obwohl durch den Kulturfortschritt
in mancher Beziehung gemildert, nicht überwunden, weshalb die Menschheit
immer noch der christlichen Hoffnung bedarf. Endlich hat die Kirche jene
Gesundheitsregeln, die edle Völker von jeher instinktiv als religiöse Vorschriften
befolgt hatten, zu bewußten und als vernünftig erkannten Grundsätzen der
Kulturwelt erhoben, und diese wird sich davor hüten, sich von der religiösen
W Carl Zentsch urzel loszureißen, der sie entsprossen sind.




Englische Eigenart
George Gissing. Brix Förster von übersetzt und bearbeitet von
3

in Jubilüumsjahr kam es zutage, welche großen Kulturfortschritte
der gemeine Mann seit mehreren Jahrzehnten gemacht hat. Denn
überschaut man den Zeitraum von sechzig Jahren, so läßt sich
nicht leugnen, daß mancherlei im Leben der niedern Klasse besser
geworden ist. Sie haben zwar recht oft ihre Dickschädel aneinander
gestoßen, doch an der Gurgel packten sie sich nicht, und aus Zank und Streit
Zogen sie immer einen greifbaren Nutzen. Sie sind reinlicher geworden und
weniger dem Trunk ergeben; in allen Schichten hat die Roheit ab- und die
Bildung in jeder Weise zugenommen; gewisse alberne Gebräuche wurden ab¬
geschafft; mancherlei Elend, das Nachlässigkeit und Dummheit verschuldeten, ist
verschwunden. Das sind freilich nur Besserungen in einzelnen Zweigen des


Englische Eigenart

als die vorhandnen wissenschaftlichen Wahrheiten, die künstlerischen und technischen
Vorbilder in unzähligen Kopien mit Variationen zu wiederholen. Seine letzte
Leistung bestand darin, mit seinem Staate dem Christentum das Vorbild zu
seiner kirchlichen Organisation zu leihen, der dann die Barbaren die neue
Lebenskraft zuführten. Die heutige Menschheit sieht sich durch die fortschreitende
Beherrschung der Naturkräfte vor neue, fast täglich wechselnde Aufgaben gestellt,
die neue Aussichten eröffnen, die Lust zum Vorwürtsstreben wecken, den Un¬
lustigen zum Streben und Arbeiten zwingen und damit den Geist jung er¬
halten, auch den philosophischen und theosophischen Grübeleien ihr Gefährliches
nehmen, weil der Zwang zur Arbeit die Mehrzahl hindert, sich ihnen ganz und
gar hinzugeben, und weil uns die Naturwissenschaft von der Herrschaft des
Aberglaubens erlöst hat. Aber wo immer dem einzelnen Stunden der Muße
vergönnt sind, da erwacht auch das metaphysische Bedürfnis wieder, das nur
der Glaube befriedigen kann, weil die Philosophie in Beziehung auf die letzten
Fragen heute so bankrott ist wie damals, als Lucian- dem Hermotimus die
Augen öffnete. Und Tod und Leiden sind, obwohl durch den Kulturfortschritt
in mancher Beziehung gemildert, nicht überwunden, weshalb die Menschheit
immer noch der christlichen Hoffnung bedarf. Endlich hat die Kirche jene
Gesundheitsregeln, die edle Völker von jeher instinktiv als religiöse Vorschriften
befolgt hatten, zu bewußten und als vernünftig erkannten Grundsätzen der
Kulturwelt erhoben, und diese wird sich davor hüten, sich von der religiösen
W Carl Zentsch urzel loszureißen, der sie entsprossen sind.




Englische Eigenart
George Gissing. Brix Förster von übersetzt und bearbeitet von
3

in Jubilüumsjahr kam es zutage, welche großen Kulturfortschritte
der gemeine Mann seit mehreren Jahrzehnten gemacht hat. Denn
überschaut man den Zeitraum von sechzig Jahren, so läßt sich
nicht leugnen, daß mancherlei im Leben der niedern Klasse besser
geworden ist. Sie haben zwar recht oft ihre Dickschädel aneinander
gestoßen, doch an der Gurgel packten sie sich nicht, und aus Zank und Streit
Zogen sie immer einen greifbaren Nutzen. Sie sind reinlicher geworden und
weniger dem Trunk ergeben; in allen Schichten hat die Roheit ab- und die
Bildung in jeder Weise zugenommen; gewisse alberne Gebräuche wurden ab¬
geschafft; mancherlei Elend, das Nachlässigkeit und Dummheit verschuldeten, ist
verschwunden. Das sind freilich nur Besserungen in einzelnen Zweigen des


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[0469] Englische Eigenart als die vorhandnen wissenschaftlichen Wahrheiten, die künstlerischen und technischen Vorbilder in unzähligen Kopien mit Variationen zu wiederholen. Seine letzte Leistung bestand darin, mit seinem Staate dem Christentum das Vorbild zu seiner kirchlichen Organisation zu leihen, der dann die Barbaren die neue Lebenskraft zuführten. Die heutige Menschheit sieht sich durch die fortschreitende Beherrschung der Naturkräfte vor neue, fast täglich wechselnde Aufgaben gestellt, die neue Aussichten eröffnen, die Lust zum Vorwürtsstreben wecken, den Un¬ lustigen zum Streben und Arbeiten zwingen und damit den Geist jung er¬ halten, auch den philosophischen und theosophischen Grübeleien ihr Gefährliches nehmen, weil der Zwang zur Arbeit die Mehrzahl hindert, sich ihnen ganz und gar hinzugeben, und weil uns die Naturwissenschaft von der Herrschaft des Aberglaubens erlöst hat. Aber wo immer dem einzelnen Stunden der Muße vergönnt sind, da erwacht auch das metaphysische Bedürfnis wieder, das nur der Glaube befriedigen kann, weil die Philosophie in Beziehung auf die letzten Fragen heute so bankrott ist wie damals, als Lucian- dem Hermotimus die Augen öffnete. Und Tod und Leiden sind, obwohl durch den Kulturfortschritt in mancher Beziehung gemildert, nicht überwunden, weshalb die Menschheit immer noch der christlichen Hoffnung bedarf. Endlich hat die Kirche jene Gesundheitsregeln, die edle Völker von jeher instinktiv als religiöse Vorschriften befolgt hatten, zu bewußten und als vernünftig erkannten Grundsätzen der Kulturwelt erhoben, und diese wird sich davor hüten, sich von der religiösen W Carl Zentsch urzel loszureißen, der sie entsprossen sind. Englische Eigenart George Gissing. Brix Förster von übersetzt und bearbeitet von 3 in Jubilüumsjahr kam es zutage, welche großen Kulturfortschritte der gemeine Mann seit mehreren Jahrzehnten gemacht hat. Denn überschaut man den Zeitraum von sechzig Jahren, so läßt sich nicht leugnen, daß mancherlei im Leben der niedern Klasse besser geworden ist. Sie haben zwar recht oft ihre Dickschädel aneinander gestoßen, doch an der Gurgel packten sie sich nicht, und aus Zank und Streit Zogen sie immer einen greifbaren Nutzen. Sie sind reinlicher geworden und weniger dem Trunk ergeben; in allen Schichten hat die Roheit ab- und die Bildung in jeder Weise zugenommen; gewisse alberne Gebräuche wurden ab¬ geschafft; mancherlei Elend, das Nachlässigkeit und Dummheit verschuldeten, ist verschwunden. Das sind freilich nur Besserungen in einzelnen Zweigen des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/469>, abgerufen am 28.04.2024.