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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Volkslebens; ob sie die Anzeichen eines dauernd soliden Fortschrittes in all¬
gemeiner Kultur sind, läßt sich noch nicht entscheiden. Wie dem auch sei, jeden¬
falls hat der Mann aus dem Volke Ursache genug zum Jubilieren; auch besitzt
er Verständnis für den materiellen Aufschwung seiner Zeit und weiß ihn zu
schätzen, während für ihn die Streitfrage über den ethischen Wert der verflossenen
Periode entweder gar nicht existiert oder vollkommen unbegreiflich ist.

Laßt immerhin die Freudenfeuer auf den Hügeln Englands die Nacht durch¬
leuchten! Sie sind kein Zeichen serviler Liebedienerei oder gar käuflichen
Enthusiasmus. Das Volk bejubelt sich selbst, doch gedenkt es dabei mit auf¬
richtigem Dankgefühl jener Person, die der Repräsentant seines Ruhmes und
seiner Größe ist. Während einer langen Periode hat die konstitutionelle Ver¬
fassung des Staates die Probe glänzend bestanden. Man schaue auf die Ge¬
schichte andrer Königreiche zurück, und man wird gewahr werden, wie selten es
sich ereignet hat, daß Fürst und Volk miteinander über unblutig errungne
Siege Triumphe feierten.

Ist es wahr, daß das Laster der Heuchelei den Engländern tief im Fleisch
und Blute sitzt? Der Vorwurf stammt natürlich aus der Zeit der Rundköpfe;
vorher fand sich nicht eine Spur davon im Nationalcharakter. Das England
Chaucers und Shakespeares war gewiß nicht heuchlerisch. Ein Wandel trat
durch den Puritanismus ein; er flößte dem Volkskörper einen neuen Stoff
ein, der später als eingebürgerte Scheinheiligkeit in Moral und Religion dem
objektiven Beobachter mehr oder weniger deutlich erkennbar wurde. Die da¬
malige Geringschätzung des "Kavaliers" ist leicht verständlich; sie schuf den
traditionellen Cromwell, der so lange in den Augen der ganzen Welt als unser
ärgster Heuchler galt, bis Carlyle Widerspruch dagegen erhob. Mit dem Verfall
des reinen und ursprünglichen Puritanismus kam das Paradieren mit
Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit -- eine englische Spezialität -- in die Mode.
Auch heutzutage noch wird uns dieser Vorwurf beständig gemacht; er kommt
häufig aus dem Munde unsrer emanzipierten Jugend, er erscheint in Stercotyp-
druck als tägliche Warnung in der kontinentalen Presse. Die Ursache ist leicht
zu entdecken. Als Napoleon uns ein Krämervolk nannte, waren wir es am
allerwenigsten; erst später sind wir es im wahren Sinne des Wortes geworden.
So wurden auch mit Unrecht die Puritaner Heuchler genannt, während die
Engländer der Gegenwart viel mehr diesen Schimpf verdienen. Man sehe sich nur
unsre üppigen Geschäftsleute an: sie sind durchaus nicht skrupulös im Handel
und Wandel, lassen aber keine Gelegenheit vorübergehn, alle Welt glauben zu
machen, sie seien ein Muster von Moralität und Religiosität. So geht es bei
uns tatsächlich zu; so sieht England aus in den Augen unsrer schärfsten Zen¬
soren. Dies rechtfertigt alle, die uns der Heuchelei beschuldigen.

Doch ist das Wort nicht geschickt gewählt; man merkt ihm an, daß es
auf einem Mißverständnis beruht. Das Charakteristische eines echten Heuchlers
besteht darin, daß er sich einer löblichen Eigenschaft rühmt, die er nicht hat,


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Volkslebens; ob sie die Anzeichen eines dauernd soliden Fortschrittes in all¬
gemeiner Kultur sind, läßt sich noch nicht entscheiden. Wie dem auch sei, jeden¬
falls hat der Mann aus dem Volke Ursache genug zum Jubilieren; auch besitzt
er Verständnis für den materiellen Aufschwung seiner Zeit und weiß ihn zu
schätzen, während für ihn die Streitfrage über den ethischen Wert der verflossenen
Periode entweder gar nicht existiert oder vollkommen unbegreiflich ist.

Laßt immerhin die Freudenfeuer auf den Hügeln Englands die Nacht durch¬
leuchten! Sie sind kein Zeichen serviler Liebedienerei oder gar käuflichen
Enthusiasmus. Das Volk bejubelt sich selbst, doch gedenkt es dabei mit auf¬
richtigem Dankgefühl jener Person, die der Repräsentant seines Ruhmes und
seiner Größe ist. Während einer langen Periode hat die konstitutionelle Ver¬
fassung des Staates die Probe glänzend bestanden. Man schaue auf die Ge¬
schichte andrer Königreiche zurück, und man wird gewahr werden, wie selten es
sich ereignet hat, daß Fürst und Volk miteinander über unblutig errungne
Siege Triumphe feierten.

Ist es wahr, daß das Laster der Heuchelei den Engländern tief im Fleisch
und Blute sitzt? Der Vorwurf stammt natürlich aus der Zeit der Rundköpfe;
vorher fand sich nicht eine Spur davon im Nationalcharakter. Das England
Chaucers und Shakespeares war gewiß nicht heuchlerisch. Ein Wandel trat
durch den Puritanismus ein; er flößte dem Volkskörper einen neuen Stoff
ein, der später als eingebürgerte Scheinheiligkeit in Moral und Religion dem
objektiven Beobachter mehr oder weniger deutlich erkennbar wurde. Die da¬
malige Geringschätzung des „Kavaliers" ist leicht verständlich; sie schuf den
traditionellen Cromwell, der so lange in den Augen der ganzen Welt als unser
ärgster Heuchler galt, bis Carlyle Widerspruch dagegen erhob. Mit dem Verfall
des reinen und ursprünglichen Puritanismus kam das Paradieren mit
Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit — eine englische Spezialität — in die Mode.
Auch heutzutage noch wird uns dieser Vorwurf beständig gemacht; er kommt
häufig aus dem Munde unsrer emanzipierten Jugend, er erscheint in Stercotyp-
druck als tägliche Warnung in der kontinentalen Presse. Die Ursache ist leicht
zu entdecken. Als Napoleon uns ein Krämervolk nannte, waren wir es am
allerwenigsten; erst später sind wir es im wahren Sinne des Wortes geworden.
So wurden auch mit Unrecht die Puritaner Heuchler genannt, während die
Engländer der Gegenwart viel mehr diesen Schimpf verdienen. Man sehe sich nur
unsre üppigen Geschäftsleute an: sie sind durchaus nicht skrupulös im Handel
und Wandel, lassen aber keine Gelegenheit vorübergehn, alle Welt glauben zu
machen, sie seien ein Muster von Moralität und Religiosität. So geht es bei
uns tatsächlich zu; so sieht England aus in den Augen unsrer schärfsten Zen¬
soren. Dies rechtfertigt alle, die uns der Heuchelei beschuldigen.

Doch ist das Wort nicht geschickt gewählt; man merkt ihm an, daß es
auf einem Mißverständnis beruht. Das Charakteristische eines echten Heuchlers
besteht darin, daß er sich einer löblichen Eigenschaft rühmt, die er nicht hat,


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[0470] Englische Ligenar» Volkslebens; ob sie die Anzeichen eines dauernd soliden Fortschrittes in all¬ gemeiner Kultur sind, läßt sich noch nicht entscheiden. Wie dem auch sei, jeden¬ falls hat der Mann aus dem Volke Ursache genug zum Jubilieren; auch besitzt er Verständnis für den materiellen Aufschwung seiner Zeit und weiß ihn zu schätzen, während für ihn die Streitfrage über den ethischen Wert der verflossenen Periode entweder gar nicht existiert oder vollkommen unbegreiflich ist. Laßt immerhin die Freudenfeuer auf den Hügeln Englands die Nacht durch¬ leuchten! Sie sind kein Zeichen serviler Liebedienerei oder gar käuflichen Enthusiasmus. Das Volk bejubelt sich selbst, doch gedenkt es dabei mit auf¬ richtigem Dankgefühl jener Person, die der Repräsentant seines Ruhmes und seiner Größe ist. Während einer langen Periode hat die konstitutionelle Ver¬ fassung des Staates die Probe glänzend bestanden. Man schaue auf die Ge¬ schichte andrer Königreiche zurück, und man wird gewahr werden, wie selten es sich ereignet hat, daß Fürst und Volk miteinander über unblutig errungne Siege Triumphe feierten. Ist es wahr, daß das Laster der Heuchelei den Engländern tief im Fleisch und Blute sitzt? Der Vorwurf stammt natürlich aus der Zeit der Rundköpfe; vorher fand sich nicht eine Spur davon im Nationalcharakter. Das England Chaucers und Shakespeares war gewiß nicht heuchlerisch. Ein Wandel trat durch den Puritanismus ein; er flößte dem Volkskörper einen neuen Stoff ein, der später als eingebürgerte Scheinheiligkeit in Moral und Religion dem objektiven Beobachter mehr oder weniger deutlich erkennbar wurde. Die da¬ malige Geringschätzung des „Kavaliers" ist leicht verständlich; sie schuf den traditionellen Cromwell, der so lange in den Augen der ganzen Welt als unser ärgster Heuchler galt, bis Carlyle Widerspruch dagegen erhob. Mit dem Verfall des reinen und ursprünglichen Puritanismus kam das Paradieren mit Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit — eine englische Spezialität — in die Mode. Auch heutzutage noch wird uns dieser Vorwurf beständig gemacht; er kommt häufig aus dem Munde unsrer emanzipierten Jugend, er erscheint in Stercotyp- druck als tägliche Warnung in der kontinentalen Presse. Die Ursache ist leicht zu entdecken. Als Napoleon uns ein Krämervolk nannte, waren wir es am allerwenigsten; erst später sind wir es im wahren Sinne des Wortes geworden. So wurden auch mit Unrecht die Puritaner Heuchler genannt, während die Engländer der Gegenwart viel mehr diesen Schimpf verdienen. Man sehe sich nur unsre üppigen Geschäftsleute an: sie sind durchaus nicht skrupulös im Handel und Wandel, lassen aber keine Gelegenheit vorübergehn, alle Welt glauben zu machen, sie seien ein Muster von Moralität und Religiosität. So geht es bei uns tatsächlich zu; so sieht England aus in den Augen unsrer schärfsten Zen¬ soren. Dies rechtfertigt alle, die uns der Heuchelei beschuldigen. Doch ist das Wort nicht geschickt gewählt; man merkt ihm an, daß es auf einem Mißverständnis beruht. Das Charakteristische eines echten Heuchlers besteht darin, daß er sich einer löblichen Eigenschaft rühmt, die er nicht hat,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/470>, abgerufen am 13.05.2024.