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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Wien und Berlin als Städte gegensätzlicher Ergänzung
von Karl Dieterich

> chon in unsern frühern Betrachtungen über Leipzig und München
mußten gelegentliche Streiflichter oder Schlagschatten auf die junge
Riesenstadt an der Spree fallen, die ja immer mehr zu dem
Generalnenner zu werden droht, in dem alle die andern Städte¬
brüche des Reichs restlos aufgehen sollen. Eine vergleichende
! Charakteristik Berlins an sich ist ja darum kaum möglich, weil es
rin seiner eklektischen Kultur eigentlich alle andern in sich schließt, auf ihren
Schultern steht, an ihnen emporgestiegen ist und nun, ihnen den Fuß in den Nacken
setzend, sagt: so groß bin ich fast, wie ihr alle zusammen nicht seid in Nord und
Süd, du Hamburg und Leipzig und München; ihr seid ja nur Provinznester
und meiner Füße Schemel. So etwa spricht Berlin; im stillen aber denkt es,
wenn es einmal in sich geht, ganz anders, aber viel richtiger so: was wärst
du denn, du täppischer Bär, ohne die alten Kulturmenschen an der Elbe, der
Pleiße und der Jsar? Sie machen die Musik, und du tanzest danach, sie geben
den Ton an, und du setzest ihn in Bewegung und Kraft um; du hast zwar
wenig Genie und noch weniger Manieren, aber deine Bärenstärke ist auch etwas
wert; damit hast du ihnen doch allen den Rang abgetanzt.

Wohl hat auch Berlin sein Verdienst an seiner Machtstellung, aber sie ist
ganz andern Ursprungs als die der alten Hauptstädte West- und Mitteleuropas:
während London, Paris, Wien die Zentralsonnen gewesen sind, an denen sich
das gesamte Leben ihrer Länder entzündet hat und noch entzündet, tauchte
Berlin als eine kleine Nebensonne aus den Nebeln sumpfiger Niederungen
empor und wußte so geschickt das Licht der vielen deutschen Kultursonncn auf¬
zufangen, daß sie schließlich selbst als eine Art Zeutralsonne dastand und die ander"
zu überstrahlen begann. Wie es aber mit diesem ihrem Glänze beschaffen ist, kann
man erst dann ermessen, wenn man eine der alten Kultursonnen ins Auge
faßt, und zwar die, die nach ihr die stärkste Leuchtkraft in der Sphäre deutscher
Kultur entfaltet, also Wien. Die Idee, die beiden Hauptstädte, die des alten
und des neuen Deutschen Reichs, zu vergleichen, liegt nahe, ja in der Luft,
und so sind fast zugleich zwei kundige Beobachter auf die hohe Warte der
Literatur gestiegen und haben ihre Wahrnehmungen dem Publikum verkündet,
der eine in der ausgesprochnen Form eines Vergleichs (Alfred H. Fried,
Wien -- Berlin, Wien und Leipzig, o. I.), der andre nur mit gelegentlichen
Seitenblicken, insofern er seine Beobachtungen in Form von Briefen an eine
Berliner Freundin mitteilt (Fr. Servaes, Wien, Stätten der Kultur, Bd. 8,
Leipzig, Klinkhardt und Biermann, o. I.).

Es sollen hier nun nicht die Gegensätze in dem Charakter beider Städte,
wie sie Fried systematisch, Servaes beiläufig hervorheben, uoch einmal zusammen¬
gefaßt werden, vielmehr habe ich mir eine andre Aufgabe gestellt, nämlich im




Wien und Berlin als Städte gegensätzlicher Ergänzung
von Karl Dieterich

> chon in unsern frühern Betrachtungen über Leipzig und München
mußten gelegentliche Streiflichter oder Schlagschatten auf die junge
Riesenstadt an der Spree fallen, die ja immer mehr zu dem
Generalnenner zu werden droht, in dem alle die andern Städte¬
brüche des Reichs restlos aufgehen sollen. Eine vergleichende
! Charakteristik Berlins an sich ist ja darum kaum möglich, weil es
rin seiner eklektischen Kultur eigentlich alle andern in sich schließt, auf ihren
Schultern steht, an ihnen emporgestiegen ist und nun, ihnen den Fuß in den Nacken
setzend, sagt: so groß bin ich fast, wie ihr alle zusammen nicht seid in Nord und
Süd, du Hamburg und Leipzig und München; ihr seid ja nur Provinznester
und meiner Füße Schemel. So etwa spricht Berlin; im stillen aber denkt es,
wenn es einmal in sich geht, ganz anders, aber viel richtiger so: was wärst
du denn, du täppischer Bär, ohne die alten Kulturmenschen an der Elbe, der
Pleiße und der Jsar? Sie machen die Musik, und du tanzest danach, sie geben
den Ton an, und du setzest ihn in Bewegung und Kraft um; du hast zwar
wenig Genie und noch weniger Manieren, aber deine Bärenstärke ist auch etwas
wert; damit hast du ihnen doch allen den Rang abgetanzt.

Wohl hat auch Berlin sein Verdienst an seiner Machtstellung, aber sie ist
ganz andern Ursprungs als die der alten Hauptstädte West- und Mitteleuropas:
während London, Paris, Wien die Zentralsonnen gewesen sind, an denen sich
das gesamte Leben ihrer Länder entzündet hat und noch entzündet, tauchte
Berlin als eine kleine Nebensonne aus den Nebeln sumpfiger Niederungen
empor und wußte so geschickt das Licht der vielen deutschen Kultursonncn auf¬
zufangen, daß sie schließlich selbst als eine Art Zeutralsonne dastand und die ander»
zu überstrahlen begann. Wie es aber mit diesem ihrem Glänze beschaffen ist, kann
man erst dann ermessen, wenn man eine der alten Kultursonnen ins Auge
faßt, und zwar die, die nach ihr die stärkste Leuchtkraft in der Sphäre deutscher
Kultur entfaltet, also Wien. Die Idee, die beiden Hauptstädte, die des alten
und des neuen Deutschen Reichs, zu vergleichen, liegt nahe, ja in der Luft,
und so sind fast zugleich zwei kundige Beobachter auf die hohe Warte der
Literatur gestiegen und haben ihre Wahrnehmungen dem Publikum verkündet,
der eine in der ausgesprochnen Form eines Vergleichs (Alfred H. Fried,
Wien — Berlin, Wien und Leipzig, o. I.), der andre nur mit gelegentlichen
Seitenblicken, insofern er seine Beobachtungen in Form von Briefen an eine
Berliner Freundin mitteilt (Fr. Servaes, Wien, Stätten der Kultur, Bd. 8,
Leipzig, Klinkhardt und Biermann, o. I.).

Es sollen hier nun nicht die Gegensätze in dem Charakter beider Städte,
wie sie Fried systematisch, Servaes beiläufig hervorheben, uoch einmal zusammen¬
gefaßt werden, vielmehr habe ich mir eine andre Aufgabe gestellt, nämlich im


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[0616] [Abbildung] Wien und Berlin als Städte gegensätzlicher Ergänzung von Karl Dieterich > chon in unsern frühern Betrachtungen über Leipzig und München mußten gelegentliche Streiflichter oder Schlagschatten auf die junge Riesenstadt an der Spree fallen, die ja immer mehr zu dem Generalnenner zu werden droht, in dem alle die andern Städte¬ brüche des Reichs restlos aufgehen sollen. Eine vergleichende ! Charakteristik Berlins an sich ist ja darum kaum möglich, weil es rin seiner eklektischen Kultur eigentlich alle andern in sich schließt, auf ihren Schultern steht, an ihnen emporgestiegen ist und nun, ihnen den Fuß in den Nacken setzend, sagt: so groß bin ich fast, wie ihr alle zusammen nicht seid in Nord und Süd, du Hamburg und Leipzig und München; ihr seid ja nur Provinznester und meiner Füße Schemel. So etwa spricht Berlin; im stillen aber denkt es, wenn es einmal in sich geht, ganz anders, aber viel richtiger so: was wärst du denn, du täppischer Bär, ohne die alten Kulturmenschen an der Elbe, der Pleiße und der Jsar? Sie machen die Musik, und du tanzest danach, sie geben den Ton an, und du setzest ihn in Bewegung und Kraft um; du hast zwar wenig Genie und noch weniger Manieren, aber deine Bärenstärke ist auch etwas wert; damit hast du ihnen doch allen den Rang abgetanzt. Wohl hat auch Berlin sein Verdienst an seiner Machtstellung, aber sie ist ganz andern Ursprungs als die der alten Hauptstädte West- und Mitteleuropas: während London, Paris, Wien die Zentralsonnen gewesen sind, an denen sich das gesamte Leben ihrer Länder entzündet hat und noch entzündet, tauchte Berlin als eine kleine Nebensonne aus den Nebeln sumpfiger Niederungen empor und wußte so geschickt das Licht der vielen deutschen Kultursonncn auf¬ zufangen, daß sie schließlich selbst als eine Art Zeutralsonne dastand und die ander» zu überstrahlen begann. Wie es aber mit diesem ihrem Glänze beschaffen ist, kann man erst dann ermessen, wenn man eine der alten Kultursonnen ins Auge faßt, und zwar die, die nach ihr die stärkste Leuchtkraft in der Sphäre deutscher Kultur entfaltet, also Wien. Die Idee, die beiden Hauptstädte, die des alten und des neuen Deutschen Reichs, zu vergleichen, liegt nahe, ja in der Luft, und so sind fast zugleich zwei kundige Beobachter auf die hohe Warte der Literatur gestiegen und haben ihre Wahrnehmungen dem Publikum verkündet, der eine in der ausgesprochnen Form eines Vergleichs (Alfred H. Fried, Wien — Berlin, Wien und Leipzig, o. I.), der andre nur mit gelegentlichen Seitenblicken, insofern er seine Beobachtungen in Form von Briefen an eine Berliner Freundin mitteilt (Fr. Servaes, Wien, Stätten der Kultur, Bd. 8, Leipzig, Klinkhardt und Biermann, o. I.). Es sollen hier nun nicht die Gegensätze in dem Charakter beider Städte, wie sie Fried systematisch, Servaes beiläufig hervorheben, uoch einmal zusammen¬ gefaßt werden, vielmehr habe ich mir eine andre Aufgabe gestellt, nämlich im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/616>, abgerufen am 28.04.2024.