Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethe als Freimaurer

Schöne.*) Deshalb durfte der Freimaurer Goethe im Epilog zu Schillers Glocke
seinem Freunde nachrufen:

Mit leichter Mühe lassen sich so in Goethes Werken freimaurerische Ge¬
danken und Sinnsprüche finden; mit seinem Geist ist ein neuer Geist in unser
Leben eingetreten, das Gefühl der Menschlichkeit, das lebhafte Bewußtsein der
Menschenwürde. Am frühesten hat der Dichter in der Iphigenie den frei¬
maurerischen Grundgedanken der Gleichberechtigung der Menschen und Völker
ausgesprochen; auch der Westöstliche Divan ist voll von solchen Grundsätzen,
sodaß man diese Dichtung geradezu das freimaurerische Glaubensbekenntnis
Goethes genannt hat; ebenso deutet Delle die Fabel von Wilhelm Meister im
freimaurerischen Sinne.

Selbstverständlich enthalten die Epigramme und Sprüche eine Fülle
maurerischer Weisheit, und manche Lieder aus dem Anfang der achtziger Jahre
bezeugen den Einfluß, den frcimcmrerischcs Wesen auf des Dichters Gemüt ge¬
wonnen hatte. Und nun erst der Faust! Theodor Schäfer in Bremen hat
nach Delle in einer Logenkorrespondenz dazu bemerkt: Ein solches Freimaurer¬
lehrbuch, eine solche Meisterinstruktion ist auch Goethes Faust, den nur der
recht versteh" kann, der seiner Natur nach selbst Freimaurer ist: denn gerade
die beiden großen Freimaurerideen sind sein Inhalt: vom Fall des Menschen
handelt der erste Teil des Faust und von seiner Aufrichtung aus dem Falle
der zweite Teil, und namentlich dessen Schluß ist so freimaurerisch und meisterhaft,
daß er ein unschätzbarer Kommentar zu unsrer Ordenslehre genannt werden
kann und eine der großartigsten Antworten, die je ein Genius auf die un¬
zähligen Fragen der gequälten Menschenseele gegeben hat; denn vor unsers
Daseins uraltem Rätsel stehn wir noch immer wie Kinder, mögen wir uns auch
manchmal einbilden, allmählich älter und verständiger geworden zu sein.

Man braucht nicht Freimaurer zu sein und kann das Deilesche Buch doch
mit Gewinn lesen; zum Verständnis Goethes und zu einem tiefern Einblick in das
W R. Krieg esen der Maurerei zu des Dichters Zeit tut es gute Dienste.





G. Delle, Freimaurerlieder als Quellen zu Schillers Lied "An die Freude".
Wortgetreue Nachdrucke bisher noch unbekannter Quellen mit einer Einleitung über das Ver¬
hältnis der Freimaurer zu Schiller. Leipzig, 1907.
Grenzboten III 190978
Goethe als Freimaurer

Schöne.*) Deshalb durfte der Freimaurer Goethe im Epilog zu Schillers Glocke
seinem Freunde nachrufen:

Mit leichter Mühe lassen sich so in Goethes Werken freimaurerische Ge¬
danken und Sinnsprüche finden; mit seinem Geist ist ein neuer Geist in unser
Leben eingetreten, das Gefühl der Menschlichkeit, das lebhafte Bewußtsein der
Menschenwürde. Am frühesten hat der Dichter in der Iphigenie den frei¬
maurerischen Grundgedanken der Gleichberechtigung der Menschen und Völker
ausgesprochen; auch der Westöstliche Divan ist voll von solchen Grundsätzen,
sodaß man diese Dichtung geradezu das freimaurerische Glaubensbekenntnis
Goethes genannt hat; ebenso deutet Delle die Fabel von Wilhelm Meister im
freimaurerischen Sinne.

Selbstverständlich enthalten die Epigramme und Sprüche eine Fülle
maurerischer Weisheit, und manche Lieder aus dem Anfang der achtziger Jahre
bezeugen den Einfluß, den frcimcmrerischcs Wesen auf des Dichters Gemüt ge¬
wonnen hatte. Und nun erst der Faust! Theodor Schäfer in Bremen hat
nach Delle in einer Logenkorrespondenz dazu bemerkt: Ein solches Freimaurer¬
lehrbuch, eine solche Meisterinstruktion ist auch Goethes Faust, den nur der
recht versteh» kann, der seiner Natur nach selbst Freimaurer ist: denn gerade
die beiden großen Freimaurerideen sind sein Inhalt: vom Fall des Menschen
handelt der erste Teil des Faust und von seiner Aufrichtung aus dem Falle
der zweite Teil, und namentlich dessen Schluß ist so freimaurerisch und meisterhaft,
daß er ein unschätzbarer Kommentar zu unsrer Ordenslehre genannt werden
kann und eine der großartigsten Antworten, die je ein Genius auf die un¬
zähligen Fragen der gequälten Menschenseele gegeben hat; denn vor unsers
Daseins uraltem Rätsel stehn wir noch immer wie Kinder, mögen wir uns auch
manchmal einbilden, allmählich älter und verständiger geworden zu sein.

Man braucht nicht Freimaurer zu sein und kann das Deilesche Buch doch
mit Gewinn lesen; zum Verständnis Goethes und zu einem tiefern Einblick in das
W R. Krieg esen der Maurerei zu des Dichters Zeit tut es gute Dienste.





G. Delle, Freimaurerlieder als Quellen zu Schillers Lied „An die Freude".
Wortgetreue Nachdrucke bisher noch unbekannter Quellen mit einer Einleitung über das Ver¬
hältnis der Freimaurer zu Schiller. Leipzig, 1907.
Grenzboten III 190978
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0615" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314318"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethe als Freimaurer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3115" prev="#ID_3114"> Schöne.*) Deshalb durfte der Freimaurer Goethe im Epilog zu Schillers Glocke<lb/>
seinem Freunde nachrufen:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_48" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_3116"> Mit leichter Mühe lassen sich so in Goethes Werken freimaurerische Ge¬<lb/>
danken und Sinnsprüche finden; mit seinem Geist ist ein neuer Geist in unser<lb/>
Leben eingetreten, das Gefühl der Menschlichkeit, das lebhafte Bewußtsein der<lb/>
Menschenwürde. Am frühesten hat der Dichter in der Iphigenie den frei¬<lb/>
maurerischen Grundgedanken der Gleichberechtigung der Menschen und Völker<lb/>
ausgesprochen; auch der Westöstliche Divan ist voll von solchen Grundsätzen,<lb/>
sodaß man diese Dichtung geradezu das freimaurerische Glaubensbekenntnis<lb/>
Goethes genannt hat; ebenso deutet Delle die Fabel von Wilhelm Meister im<lb/>
freimaurerischen Sinne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3117"> Selbstverständlich enthalten die Epigramme und Sprüche eine Fülle<lb/>
maurerischer Weisheit, und manche Lieder aus dem Anfang der achtziger Jahre<lb/>
bezeugen den Einfluß, den frcimcmrerischcs Wesen auf des Dichters Gemüt ge¬<lb/>
wonnen hatte. Und nun erst der Faust! Theodor Schäfer in Bremen hat<lb/>
nach Delle in einer Logenkorrespondenz dazu bemerkt: Ein solches Freimaurer¬<lb/>
lehrbuch, eine solche Meisterinstruktion ist auch Goethes Faust, den nur der<lb/>
recht versteh» kann, der seiner Natur nach selbst Freimaurer ist: denn gerade<lb/>
die beiden großen Freimaurerideen sind sein Inhalt: vom Fall des Menschen<lb/>
handelt der erste Teil des Faust und von seiner Aufrichtung aus dem Falle<lb/>
der zweite Teil, und namentlich dessen Schluß ist so freimaurerisch und meisterhaft,<lb/>
daß er ein unschätzbarer Kommentar zu unsrer Ordenslehre genannt werden<lb/>
kann und eine der großartigsten Antworten, die je ein Genius auf die un¬<lb/>
zähligen Fragen der gequälten Menschenseele gegeben hat; denn vor unsers<lb/>
Daseins uraltem Rätsel stehn wir noch immer wie Kinder, mögen wir uns auch<lb/>
manchmal einbilden, allmählich älter und verständiger geworden zu sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3118"> Man braucht nicht Freimaurer zu sein und kann das Deilesche Buch doch<lb/>
mit Gewinn lesen; zum Verständnis Goethes und zu einem tiefern Einblick in das<lb/>
W<note type="byline"> R. Krieg</note> esen der Maurerei zu des Dichters Zeit tut es gute Dienste.  </p><lb/>
          <note xml:id="FID_31" place="foot"> G. Delle, Freimaurerlieder als Quellen zu Schillers Lied &#x201E;An die Freude".<lb/>
Wortgetreue Nachdrucke bisher noch unbekannter Quellen mit einer Einleitung über das Ver¬<lb/>
hältnis der Freimaurer zu Schiller. Leipzig, 1907.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 190978</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0615] Goethe als Freimaurer Schöne.*) Deshalb durfte der Freimaurer Goethe im Epilog zu Schillers Glocke seinem Freunde nachrufen: Mit leichter Mühe lassen sich so in Goethes Werken freimaurerische Ge¬ danken und Sinnsprüche finden; mit seinem Geist ist ein neuer Geist in unser Leben eingetreten, das Gefühl der Menschlichkeit, das lebhafte Bewußtsein der Menschenwürde. Am frühesten hat der Dichter in der Iphigenie den frei¬ maurerischen Grundgedanken der Gleichberechtigung der Menschen und Völker ausgesprochen; auch der Westöstliche Divan ist voll von solchen Grundsätzen, sodaß man diese Dichtung geradezu das freimaurerische Glaubensbekenntnis Goethes genannt hat; ebenso deutet Delle die Fabel von Wilhelm Meister im freimaurerischen Sinne. Selbstverständlich enthalten die Epigramme und Sprüche eine Fülle maurerischer Weisheit, und manche Lieder aus dem Anfang der achtziger Jahre bezeugen den Einfluß, den frcimcmrerischcs Wesen auf des Dichters Gemüt ge¬ wonnen hatte. Und nun erst der Faust! Theodor Schäfer in Bremen hat nach Delle in einer Logenkorrespondenz dazu bemerkt: Ein solches Freimaurer¬ lehrbuch, eine solche Meisterinstruktion ist auch Goethes Faust, den nur der recht versteh» kann, der seiner Natur nach selbst Freimaurer ist: denn gerade die beiden großen Freimaurerideen sind sein Inhalt: vom Fall des Menschen handelt der erste Teil des Faust und von seiner Aufrichtung aus dem Falle der zweite Teil, und namentlich dessen Schluß ist so freimaurerisch und meisterhaft, daß er ein unschätzbarer Kommentar zu unsrer Ordenslehre genannt werden kann und eine der großartigsten Antworten, die je ein Genius auf die un¬ zähligen Fragen der gequälten Menschenseele gegeben hat; denn vor unsers Daseins uraltem Rätsel stehn wir noch immer wie Kinder, mögen wir uns auch manchmal einbilden, allmählich älter und verständiger geworden zu sein. Man braucht nicht Freimaurer zu sein und kann das Deilesche Buch doch mit Gewinn lesen; zum Verständnis Goethes und zu einem tiefern Einblick in das W R. Krieg esen der Maurerei zu des Dichters Zeit tut es gute Dienste. G. Delle, Freimaurerlieder als Quellen zu Schillers Lied „An die Freude". Wortgetreue Nachdrucke bisher noch unbekannter Quellen mit einer Einleitung über das Ver¬ hältnis der Freimaurer zu Schiller. Leipzig, 1907. Grenzboten III 190978

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/615
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/615>, abgerufen am 13.05.2024.