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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Ersten gewesen war, hatte drei Töchter, "Damen (wie Helbig, sächsischer
Legationssekretär in Se. Petersburg während der letzten Regierungsjahre Katharinas
der Zweiten berichtet), von deren Reizen und Galanterien die alten Höflinge in
Petersburg noch jetzt zu erzählen wissen"; sie machten die glänzendsten Partien,
und die mittlere von ihnen, die wie ihre schöne Großmutter Matrjona hieß,
wurde die Frau des Sergius Saltykow, "bekannt durch seine Schönheit und
seine Liebeshandel, besonders--am Hofe --" (so mit den Gedankenstrichen bei
Helbig); denn vor der Ehe, im Jahre 1753, war er mit der Großfürstin, der
spätern Kaiserin Katharina der Zweiten, in inniger Freundschaft verbunden.
Katharina schenkte im Herbste 1754 einem Sohne das Leben, dem Kaiser Paul
unseligen Andenkens.

Der Kaiser Paul ist der Stammvater aller Glieder des regierenden
russischen Kaiserhauses.




(Lharcckter
Ans den Aufzeichnungen eines Lcmdedelinemnes
Franz Naht von

M!s war im Juni jenes denkwürdigen Jahres, in dem ich den Ent¬
schluß gefaßt hatte, ein paar Wochen an irgendeinem anderen Fleck
der Erde zu verbringen als auf meinem Gute. Aus mir selbst
heraus hätte ich diesen Entschluß wohl kaum gefaßt, aber in bestimmten
- Zwischcnniumen überkommt mich eine ganz merkwürdige Stimmung,
in der es mir geradezu unmöglich erscheint, mein Leben nach meinem eigenen Willen
zu leben. Jedes Vertrauen zu mir selbst verschwindet aus mir, ich verliere die
Fähigkeit, mich zu meinen Mitmenschen in irgendein Verhältnis zu setzen und
Wert gegen Wert zu halten. Ich sehe mich -- nur mir selbst überlassen -- immer
tiefer und tiefer sinken und zuletzt gänzlich verkommen. Es ist begreiflich, daß ich
in solchen Zeiten von jedermann sehr leickt zu beeinflussen bin und daß ich mich
an jedes Wort, an jeden hingeworfenen Rat anklammere, als könne ich mich
dadurch vor dein sicheren Verhängnisse retten.

Damals, in jenem denkwürdigen Jahre, wurde dieses Wort von meiner Tante
ausgesprochen. Von der freundlichen Exzellenztante, die die Herzensgüte selbst war
und nur die eine Gewohnheit hatte, ihr Haar -- obwohl sie schon fünf- oder sechs-
undsechzig Jahre alt war -- noch immer rotblond zu färben und ihr liebes,
faltiges Gesicht mit einer ganz feinen/ beinahe bläulich schimmernden Schicht zu
überziehen. Ich konnte niemals herausfinden, ob diese Schicht nur aus Puder
oder aus ganz zart hingehauchter Schminke bestand.


Charakter

Ersten gewesen war, hatte drei Töchter, „Damen (wie Helbig, sächsischer
Legationssekretär in Se. Petersburg während der letzten Regierungsjahre Katharinas
der Zweiten berichtet), von deren Reizen und Galanterien die alten Höflinge in
Petersburg noch jetzt zu erzählen wissen"; sie machten die glänzendsten Partien,
und die mittlere von ihnen, die wie ihre schöne Großmutter Matrjona hieß,
wurde die Frau des Sergius Saltykow, „bekannt durch seine Schönheit und
seine Liebeshandel, besonders--am Hofe —" (so mit den Gedankenstrichen bei
Helbig); denn vor der Ehe, im Jahre 1753, war er mit der Großfürstin, der
spätern Kaiserin Katharina der Zweiten, in inniger Freundschaft verbunden.
Katharina schenkte im Herbste 1754 einem Sohne das Leben, dem Kaiser Paul
unseligen Andenkens.

Der Kaiser Paul ist der Stammvater aller Glieder des regierenden
russischen Kaiserhauses.




(Lharcckter
Ans den Aufzeichnungen eines Lcmdedelinemnes
Franz Naht von

M!s war im Juni jenes denkwürdigen Jahres, in dem ich den Ent¬
schluß gefaßt hatte, ein paar Wochen an irgendeinem anderen Fleck
der Erde zu verbringen als auf meinem Gute. Aus mir selbst
heraus hätte ich diesen Entschluß wohl kaum gefaßt, aber in bestimmten
- Zwischcnniumen überkommt mich eine ganz merkwürdige Stimmung,
in der es mir geradezu unmöglich erscheint, mein Leben nach meinem eigenen Willen
zu leben. Jedes Vertrauen zu mir selbst verschwindet aus mir, ich verliere die
Fähigkeit, mich zu meinen Mitmenschen in irgendein Verhältnis zu setzen und
Wert gegen Wert zu halten. Ich sehe mich — nur mir selbst überlassen — immer
tiefer und tiefer sinken und zuletzt gänzlich verkommen. Es ist begreiflich, daß ich
in solchen Zeiten von jedermann sehr leickt zu beeinflussen bin und daß ich mich
an jedes Wort, an jeden hingeworfenen Rat anklammere, als könne ich mich
dadurch vor dein sicheren Verhängnisse retten.

Damals, in jenem denkwürdigen Jahre, wurde dieses Wort von meiner Tante
ausgesprochen. Von der freundlichen Exzellenztante, die die Herzensgüte selbst war
und nur die eine Gewohnheit hatte, ihr Haar — obwohl sie schon fünf- oder sechs-
undsechzig Jahre alt war — noch immer rotblond zu färben und ihr liebes,
faltiges Gesicht mit einer ganz feinen/ beinahe bläulich schimmernden Schicht zu
überziehen. Ich konnte niemals herausfinden, ob diese Schicht nur aus Puder
oder aus ganz zart hingehauchter Schminke bestand.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/500>, abgerufen am 06.05.2024.