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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken
Lrzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v. Reyher von
Drittes Kapitel: Die hohe Polizei.

Ungefähr in der Mitte des Fleckens an der scharfen Biegung, die die Chaussee
dort machte, lag das Gasthaus Tschernow, ein großes einstöckiges Gebäude mit
der Wohnung des Wirts im Hofe und mit mehreren Zimmern in der vorderen
Front, die teils als Absteigequartier für Reisende, teils als Gaststube dienten.
Am Tage verirrte sich selten ein im Flecken Ansässiger dahin, mit Ausnahme
einiger jungen Leute, die dort das Mittagessen einnahmen. Auch kam es vor,
daß zwei Kaufleute miteinander etwas abzumachen hatten, was sie vor den Ihrigen
verheimlichen wollten; dann ließen sie sich in einem stillen Zimmer Tschernows
die Teemaschine geben. Am Abend jedoch ging es manchmal recht lärmend her,
denn die goldene Jugend des Fleckens, meist noch bartlose Kaufmannssöhne und
Ladengehilfen, hielt hier ihre ungezwungenen Zusammenkünfte. Wladimir Jwa-
nowitsch Wolski, der Polizeiaufseher des Fleckens, ein junger Mann von etwa
vierundzwanzig Jahren, war ebenfalls in diesen Zirkel geraten, da er hier oft
auch zu Abend zu speisen pflegte. Er paßte eigentlich nicht recht zu den anderen,
denn er besaß kein Geld; da er jedoch kein Spielverderber war, die meisten an
Alter übertraf und kraft seines Amtes ihnen das Lärmen und Unfugtreiben zwar
nicht hätte legen, doch aber unbequem und unangehm hätte machen können, so
wurde er im ganzen gern gesehen und galt nach stillschweigender Abmachung stets
als Gast. Tschernow hatte bedeutende Einnahme von den jungen Taugenichtsen,
bediente und behütete sie aufs beste und wäre eher bereit gewesen, sich in Stücke
reißen zu lassen, als daß er jemand von ihnen verraten oder bloßgestellt hätte.

Von dem Gasthause Tschernows führte eine kurze Quergasse zu dem Haupt-
Platze des Fleckens. Dieser Platz war sogar gepflastert, denn an ihm befand sich
die Kirche mit dem Pastorat, standen die beiden Schulen, das Postamt, die
Apotheke und das Regierungsgebäude, in dem das Gericht und die Bezirks¬
polizei ihren Sitz hatten. Das Gefängnis gehörte eigentlich auch noch hierher,
war aber aus Platzmangel etwas weiter in eine Querstraße gerückt.

In der Wohnung des Gefängnisaufsehers gab es die übliche Kartenpartie.
Um den Tisch saß der Wirt mit dem Postmeister, dem Arzt des Fleckens und dem
jungen Polizeiaufseher beim Whist. Sie spielten nicht hoch. Sie hatten den Preis
so angesetzt, daß der, der an einem Abend großes Unglück hatte und alle Robber




Im Flecken
Lrzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v. Reyher von
Drittes Kapitel: Die hohe Polizei.

Ungefähr in der Mitte des Fleckens an der scharfen Biegung, die die Chaussee
dort machte, lag das Gasthaus Tschernow, ein großes einstöckiges Gebäude mit
der Wohnung des Wirts im Hofe und mit mehreren Zimmern in der vorderen
Front, die teils als Absteigequartier für Reisende, teils als Gaststube dienten.
Am Tage verirrte sich selten ein im Flecken Ansässiger dahin, mit Ausnahme
einiger jungen Leute, die dort das Mittagessen einnahmen. Auch kam es vor,
daß zwei Kaufleute miteinander etwas abzumachen hatten, was sie vor den Ihrigen
verheimlichen wollten; dann ließen sie sich in einem stillen Zimmer Tschernows
die Teemaschine geben. Am Abend jedoch ging es manchmal recht lärmend her,
denn die goldene Jugend des Fleckens, meist noch bartlose Kaufmannssöhne und
Ladengehilfen, hielt hier ihre ungezwungenen Zusammenkünfte. Wladimir Jwa-
nowitsch Wolski, der Polizeiaufseher des Fleckens, ein junger Mann von etwa
vierundzwanzig Jahren, war ebenfalls in diesen Zirkel geraten, da er hier oft
auch zu Abend zu speisen pflegte. Er paßte eigentlich nicht recht zu den anderen,
denn er besaß kein Geld; da er jedoch kein Spielverderber war, die meisten an
Alter übertraf und kraft seines Amtes ihnen das Lärmen und Unfugtreiben zwar
nicht hätte legen, doch aber unbequem und unangehm hätte machen können, so
wurde er im ganzen gern gesehen und galt nach stillschweigender Abmachung stets
als Gast. Tschernow hatte bedeutende Einnahme von den jungen Taugenichtsen,
bediente und behütete sie aufs beste und wäre eher bereit gewesen, sich in Stücke
reißen zu lassen, als daß er jemand von ihnen verraten oder bloßgestellt hätte.

Von dem Gasthause Tschernows führte eine kurze Quergasse zu dem Haupt-
Platze des Fleckens. Dieser Platz war sogar gepflastert, denn an ihm befand sich
die Kirche mit dem Pastorat, standen die beiden Schulen, das Postamt, die
Apotheke und das Regierungsgebäude, in dem das Gericht und die Bezirks¬
polizei ihren Sitz hatten. Das Gefängnis gehörte eigentlich auch noch hierher,
war aber aus Platzmangel etwas weiter in eine Querstraße gerückt.

In der Wohnung des Gefängnisaufsehers gab es die übliche Kartenpartie.
Um den Tisch saß der Wirt mit dem Postmeister, dem Arzt des Fleckens und dem
jungen Polizeiaufseher beim Whist. Sie spielten nicht hoch. Sie hatten den Preis
so angesetzt, daß der, der an einem Abend großes Unglück hatte und alle Robber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/183>, abgerufen am 29.04.2024.