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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Aberglaube in Thüringen

Aberglaube in Thüringen

is heute sind die mitteldeutschen Gegenden, Franken, Hessen,
Thüringen und das von Mitteldeutschen besiedelte Kolonialland
Schlesien ein besonders ergiebiges Gebiet für alte Märchen und
Sagen, festliche und sonst volkstümliche Gebräuche, durchsichtig
halbverwischte Mythen und mythisch uralte Riten geblieben. Wie
ist uns das lieb geworden, was die Gebrüder Grimm, von Hessen ausgehend,
gesammelt haben, wie anziehend poetisch nimmt sich diese Wohlerhaltenheit der
thüringischen Märchen und naiven Gebräuche bei dem liebenswerten Ludwig
Bechstein ausi Dankbar verfolgen wir die rettende Tätigkeit der emsig weiter
bestrebten "Folkloristik" und wissen es, wie da überall noch die alten großen
deutschen Götter trotz der verwitterten Züge kenntlich sind, oder die vielgestaltige
Frau Holle, die auch die gefahrvolle Frau im Hörselberge ist.

Die richtige Wissenschaft kümmert sich zwar um Affektionswerte nicht. Bei
ihr müssen einmal notwendig alle Blumen Heu werden, sie erntet scharf mit¬
nehmend und scharf abgrenzend auf den strengen Nutzen hin, und der kommt ja
auch heraus. Dafür sind dann aber jene vielen Gebildeten und Halbgelehrten
da, die mit einem lebhaften Gefühlsdilettantismus bei den volkstümlichen Dingen
liebevoll verweilen. Was ist das, sagen sie, für ein reiches schönes Bilderbuch,
was da alles bei den ländlichen Leuten noch lebendig ist. Welche Treue besitzt
doch unser Volk; mit welcher Liebe hat es diese uralten Versinnbildlichungen und
Naturphantasien bis in die materielle Gegenwart bewahrt!

Hier wird doch wenigstens, was der Zugeknöpftheit der Wissenschaft nicht
zusteht, an das Volk auch selbst gedacht. Diese liebevollen Freunde des alten
heimatlichen Schatzgutes stellen sich unwillkürlich vor, das Volk auf dem Lande
hänge an diesen Schätzen mit derselben konservativen Gefühlsromantik wie wir,
nur weniger bewußt, mit einer hierin nicht weiter gebildeten Naivität, aber eben
aus erhaltender Treue. -- Hand aufs Herz, -- was hat uns bisher in diesem un¬
willkürlichen Denkfehler, den wir alle begingen, gestört? Wann stellten wir uns
einmal, die wir so stolz auf wissenschaftliche Methodik sind, die methodische Grund¬
frage, aus welchen wirklichen Kräften denn eigentlich diese alten Mythenreste so
zähe noch im Volke lebendig sind? Etwa weil das Volk weiß, daß das germanische
Altertümer sind? Weil es darin die Versinnbildlichung einer altheiliger Ehrfurcht
vor den Naturgewalten fühlt? Oder überhaupt nur, weil ihm diese Dinge naiv¬
poetisch sind?

Da ist eine ungelehrte Dame hinabgestiegen in den mythischen Hollenbrunnen,
eine Schriftstellerin mit klugem und feinem Sinn aus vielem ungestörten Denken,
und mit einem Herzen, das so stark und jung wie alle ihre schöne Kraft
geblieben ist. Sommer für Sommer hat sie da bei ihrer thüringischen Frau Holle
still entrückt gelebt, und so ist sie mit dieser bekannt geworden, wie bisher noch
niemals ein seine Fragebogen versendender Folklorist. Und ihr, die nur einfach
gerne immer wieder da ist, ohne Neugier und Eilfertigkeit, ihr, die so seelenruhig
die ganze obere Welt hinter sich läßt und stillen und klugen Sinnes mit der
Frau Holle sich so gut versteht, ihr hat diese allmählich Stück für Stück ihre


Aberglaube in Thüringen

Aberglaube in Thüringen

is heute sind die mitteldeutschen Gegenden, Franken, Hessen,
Thüringen und das von Mitteldeutschen besiedelte Kolonialland
Schlesien ein besonders ergiebiges Gebiet für alte Märchen und
Sagen, festliche und sonst volkstümliche Gebräuche, durchsichtig
halbverwischte Mythen und mythisch uralte Riten geblieben. Wie
ist uns das lieb geworden, was die Gebrüder Grimm, von Hessen ausgehend,
gesammelt haben, wie anziehend poetisch nimmt sich diese Wohlerhaltenheit der
thüringischen Märchen und naiven Gebräuche bei dem liebenswerten Ludwig
Bechstein ausi Dankbar verfolgen wir die rettende Tätigkeit der emsig weiter
bestrebten „Folkloristik" und wissen es, wie da überall noch die alten großen
deutschen Götter trotz der verwitterten Züge kenntlich sind, oder die vielgestaltige
Frau Holle, die auch die gefahrvolle Frau im Hörselberge ist.

Die richtige Wissenschaft kümmert sich zwar um Affektionswerte nicht. Bei
ihr müssen einmal notwendig alle Blumen Heu werden, sie erntet scharf mit¬
nehmend und scharf abgrenzend auf den strengen Nutzen hin, und der kommt ja
auch heraus. Dafür sind dann aber jene vielen Gebildeten und Halbgelehrten
da, die mit einem lebhaften Gefühlsdilettantismus bei den volkstümlichen Dingen
liebevoll verweilen. Was ist das, sagen sie, für ein reiches schönes Bilderbuch,
was da alles bei den ländlichen Leuten noch lebendig ist. Welche Treue besitzt
doch unser Volk; mit welcher Liebe hat es diese uralten Versinnbildlichungen und
Naturphantasien bis in die materielle Gegenwart bewahrt!

Hier wird doch wenigstens, was der Zugeknöpftheit der Wissenschaft nicht
zusteht, an das Volk auch selbst gedacht. Diese liebevollen Freunde des alten
heimatlichen Schatzgutes stellen sich unwillkürlich vor, das Volk auf dem Lande
hänge an diesen Schätzen mit derselben konservativen Gefühlsromantik wie wir,
nur weniger bewußt, mit einer hierin nicht weiter gebildeten Naivität, aber eben
aus erhaltender Treue. — Hand aufs Herz, — was hat uns bisher in diesem un¬
willkürlichen Denkfehler, den wir alle begingen, gestört? Wann stellten wir uns
einmal, die wir so stolz auf wissenschaftliche Methodik sind, die methodische Grund¬
frage, aus welchen wirklichen Kräften denn eigentlich diese alten Mythenreste so
zähe noch im Volke lebendig sind? Etwa weil das Volk weiß, daß das germanische
Altertümer sind? Weil es darin die Versinnbildlichung einer altheiliger Ehrfurcht
vor den Naturgewalten fühlt? Oder überhaupt nur, weil ihm diese Dinge naiv¬
poetisch sind?

Da ist eine ungelehrte Dame hinabgestiegen in den mythischen Hollenbrunnen,
eine Schriftstellerin mit klugem und feinem Sinn aus vielem ungestörten Denken,
und mit einem Herzen, das so stark und jung wie alle ihre schöne Kraft
geblieben ist. Sommer für Sommer hat sie da bei ihrer thüringischen Frau Holle
still entrückt gelebt, und so ist sie mit dieser bekannt geworden, wie bisher noch
niemals ein seine Fragebogen versendender Folklorist. Und ihr, die nur einfach
gerne immer wieder da ist, ohne Neugier und Eilfertigkeit, ihr, die so seelenruhig
die ganze obere Welt hinter sich läßt und stillen und klugen Sinnes mit der
Frau Holle sich so gut versteht, ihr hat diese allmählich Stück für Stück ihre


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[0200] Aberglaube in Thüringen Aberglaube in Thüringen is heute sind die mitteldeutschen Gegenden, Franken, Hessen, Thüringen und das von Mitteldeutschen besiedelte Kolonialland Schlesien ein besonders ergiebiges Gebiet für alte Märchen und Sagen, festliche und sonst volkstümliche Gebräuche, durchsichtig halbverwischte Mythen und mythisch uralte Riten geblieben. Wie ist uns das lieb geworden, was die Gebrüder Grimm, von Hessen ausgehend, gesammelt haben, wie anziehend poetisch nimmt sich diese Wohlerhaltenheit der thüringischen Märchen und naiven Gebräuche bei dem liebenswerten Ludwig Bechstein ausi Dankbar verfolgen wir die rettende Tätigkeit der emsig weiter bestrebten „Folkloristik" und wissen es, wie da überall noch die alten großen deutschen Götter trotz der verwitterten Züge kenntlich sind, oder die vielgestaltige Frau Holle, die auch die gefahrvolle Frau im Hörselberge ist. Die richtige Wissenschaft kümmert sich zwar um Affektionswerte nicht. Bei ihr müssen einmal notwendig alle Blumen Heu werden, sie erntet scharf mit¬ nehmend und scharf abgrenzend auf den strengen Nutzen hin, und der kommt ja auch heraus. Dafür sind dann aber jene vielen Gebildeten und Halbgelehrten da, die mit einem lebhaften Gefühlsdilettantismus bei den volkstümlichen Dingen liebevoll verweilen. Was ist das, sagen sie, für ein reiches schönes Bilderbuch, was da alles bei den ländlichen Leuten noch lebendig ist. Welche Treue besitzt doch unser Volk; mit welcher Liebe hat es diese uralten Versinnbildlichungen und Naturphantasien bis in die materielle Gegenwart bewahrt! Hier wird doch wenigstens, was der Zugeknöpftheit der Wissenschaft nicht zusteht, an das Volk auch selbst gedacht. Diese liebevollen Freunde des alten heimatlichen Schatzgutes stellen sich unwillkürlich vor, das Volk auf dem Lande hänge an diesen Schätzen mit derselben konservativen Gefühlsromantik wie wir, nur weniger bewußt, mit einer hierin nicht weiter gebildeten Naivität, aber eben aus erhaltender Treue. — Hand aufs Herz, — was hat uns bisher in diesem un¬ willkürlichen Denkfehler, den wir alle begingen, gestört? Wann stellten wir uns einmal, die wir so stolz auf wissenschaftliche Methodik sind, die methodische Grund¬ frage, aus welchen wirklichen Kräften denn eigentlich diese alten Mythenreste so zähe noch im Volke lebendig sind? Etwa weil das Volk weiß, daß das germanische Altertümer sind? Weil es darin die Versinnbildlichung einer altheiliger Ehrfurcht vor den Naturgewalten fühlt? Oder überhaupt nur, weil ihm diese Dinge naiv¬ poetisch sind? Da ist eine ungelehrte Dame hinabgestiegen in den mythischen Hollenbrunnen, eine Schriftstellerin mit klugem und feinem Sinn aus vielem ungestörten Denken, und mit einem Herzen, das so stark und jung wie alle ihre schöne Kraft geblieben ist. Sommer für Sommer hat sie da bei ihrer thüringischen Frau Holle still entrückt gelebt, und so ist sie mit dieser bekannt geworden, wie bisher noch niemals ein seine Fragebogen versendender Folklorist. Und ihr, die nur einfach gerne immer wieder da ist, ohne Neugier und Eilfertigkeit, ihr, die so seelenruhig die ganze obere Welt hinter sich läßt und stillen und klugen Sinnes mit der Frau Holle sich so gut versteht, ihr hat diese allmählich Stück für Stück ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/200>, abgerufen am 29.04.2024.