Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Beweisaufnahme Wert legen könnten, ist der Gerichtshof gar nicht in der Lage,
die Beweisaufnahme abzuschneiden. Eine Möglichkeit, die Geschworenen selbst im
Laufe der Hauptverhandlung über einen Beweisantrag Beschluß fassen zu lassen,
gibt das Gesetz nicht; es ist auch sehr zweifelhaft, ob dies technisch ausführbar
wäre. Und zweitens: die Strafkammer begründet ihr Urteil schriftlich und sie ist
daher in der Lage, die Erwägungen, aus denen sie die beantragte Beweisaufnahme
ablehnt, in den schriftlichen Urteilsgriinden niederzulegen und sich damit vor einer
Aufhebung des Urteils wegen Beschränkung der Verteidigung zu schützen. Die
Geschworenen dagegen begründen ihr Urteil nicht. Wäre also beispielsweise Frau
von Schonebeck verurteilt worden, so wäre sie jederzeit in der Lage gewesen,
Revision einzulegen und diese mit der Einschränkung ihrer Verteidigung zu
begründen; und es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß das Reichsgericht
das Schwurgerichtsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhand¬
lung und Entscheidung zurückverwiesen hätte mit der Begründung, daß immerhin
mit der wenn auch vielleicht entfernten Möglichkeit gerechnet werden müsse, daß
die Geschworenen auf Grund der beantragten, aber abgeschnittenen Beweisaufnahme
zu einer anderen Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Goeben und damit zu
einer anderen Entscheidung der Schuldfrage gelangt wären. Das Reichsgericht
wäre namentlich nicht etwa in der Lage, die Revision mit der Begründung zurück¬
zuweisen, daß, wenn die Geschworenen auf die beantragte Beweisaufnahme Gewicht
gelegt hätten, sie einen Fehler begangen hätten. Dem würde, abgesehen von
anderen Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, der Grundsatz
entgegenstehen, daß über die Schuldfrage nur die Geschworenen, nicht aber die
rechtsgelehrten Richter zu entscheiden haben.

Man trete von diesen Gesichtspunkten aus an eine Prüfung derjenigen
Sensationsprozesse der letzten Jahre heran, die durch die Ausdehnung der Beweis¬
aufnahme in der Öffentlichkeit unliebsames Aufsehen erregt haben, und man wird
finden, daß die Ursache meist die hier nachgewiesene ist. Das Geschworenengericht
ist der Liebling der sogenannten öffentlichen Meinung; will man das Schwur¬
gericht, so muß man auch diejenigen Mängel mit in den Kauf nehmen, die un¬
trennbar damit verbunden sind, man schiebe aber die Schuld nicht dem Gerichts¬
hofe zu, der wahrlich nicht das mindeste Interesse an einer solchen Ausdehnung
der Verhandlung hat.


Landrichter Dr. Riedinge


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Beweisaufnahme Wert legen könnten, ist der Gerichtshof gar nicht in der Lage,
die Beweisaufnahme abzuschneiden. Eine Möglichkeit, die Geschworenen selbst im
Laufe der Hauptverhandlung über einen Beweisantrag Beschluß fassen zu lassen,
gibt das Gesetz nicht; es ist auch sehr zweifelhaft, ob dies technisch ausführbar
wäre. Und zweitens: die Strafkammer begründet ihr Urteil schriftlich und sie ist
daher in der Lage, die Erwägungen, aus denen sie die beantragte Beweisaufnahme
ablehnt, in den schriftlichen Urteilsgriinden niederzulegen und sich damit vor einer
Aufhebung des Urteils wegen Beschränkung der Verteidigung zu schützen. Die
Geschworenen dagegen begründen ihr Urteil nicht. Wäre also beispielsweise Frau
von Schonebeck verurteilt worden, so wäre sie jederzeit in der Lage gewesen,
Revision einzulegen und diese mit der Einschränkung ihrer Verteidigung zu
begründen; und es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß das Reichsgericht
das Schwurgerichtsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhand¬
lung und Entscheidung zurückverwiesen hätte mit der Begründung, daß immerhin
mit der wenn auch vielleicht entfernten Möglichkeit gerechnet werden müsse, daß
die Geschworenen auf Grund der beantragten, aber abgeschnittenen Beweisaufnahme
zu einer anderen Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Goeben und damit zu
einer anderen Entscheidung der Schuldfrage gelangt wären. Das Reichsgericht
wäre namentlich nicht etwa in der Lage, die Revision mit der Begründung zurück¬
zuweisen, daß, wenn die Geschworenen auf die beantragte Beweisaufnahme Gewicht
gelegt hätten, sie einen Fehler begangen hätten. Dem würde, abgesehen von
anderen Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, der Grundsatz
entgegenstehen, daß über die Schuldfrage nur die Geschworenen, nicht aber die
rechtsgelehrten Richter zu entscheiden haben.

Man trete von diesen Gesichtspunkten aus an eine Prüfung derjenigen
Sensationsprozesse der letzten Jahre heran, die durch die Ausdehnung der Beweis¬
aufnahme in der Öffentlichkeit unliebsames Aufsehen erregt haben, und man wird
finden, daß die Ursache meist die hier nachgewiesene ist. Das Geschworenengericht
ist der Liebling der sogenannten öffentlichen Meinung; will man das Schwur¬
gericht, so muß man auch diejenigen Mängel mit in den Kauf nehmen, die un¬
trennbar damit verbunden sind, man schiebe aber die Schuld nicht dem Gerichts¬
hofe zu, der wahrlich nicht das mindeste Interesse an einer solchen Ausdehnung
der Verhandlung hat.


Landrichter Dr. Riedinge


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317150"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_917" prev="#ID_916"> Beweisaufnahme Wert legen könnten, ist der Gerichtshof gar nicht in der Lage,<lb/>
die Beweisaufnahme abzuschneiden. Eine Möglichkeit, die Geschworenen selbst im<lb/>
Laufe der Hauptverhandlung über einen Beweisantrag Beschluß fassen zu lassen,<lb/>
gibt das Gesetz nicht; es ist auch sehr zweifelhaft, ob dies technisch ausführbar<lb/>
wäre. Und zweitens: die Strafkammer begründet ihr Urteil schriftlich und sie ist<lb/>
daher in der Lage, die Erwägungen, aus denen sie die beantragte Beweisaufnahme<lb/>
ablehnt, in den schriftlichen Urteilsgriinden niederzulegen und sich damit vor einer<lb/>
Aufhebung des Urteils wegen Beschränkung der Verteidigung zu schützen. Die<lb/>
Geschworenen dagegen begründen ihr Urteil nicht. Wäre also beispielsweise Frau<lb/>
von Schonebeck verurteilt worden, so wäre sie jederzeit in der Lage gewesen,<lb/>
Revision einzulegen und diese mit der Einschränkung ihrer Verteidigung zu<lb/>
begründen; und es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß das Reichsgericht<lb/>
das Schwurgerichtsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhand¬<lb/>
lung und Entscheidung zurückverwiesen hätte mit der Begründung, daß immerhin<lb/>
mit der wenn auch vielleicht entfernten Möglichkeit gerechnet werden müsse, daß<lb/>
die Geschworenen auf Grund der beantragten, aber abgeschnittenen Beweisaufnahme<lb/>
zu einer anderen Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Goeben und damit zu<lb/>
einer anderen Entscheidung der Schuldfrage gelangt wären. Das Reichsgericht<lb/>
wäre namentlich nicht etwa in der Lage, die Revision mit der Begründung zurück¬<lb/>
zuweisen, daß, wenn die Geschworenen auf die beantragte Beweisaufnahme Gewicht<lb/>
gelegt hätten, sie einen Fehler begangen hätten. Dem würde, abgesehen von<lb/>
anderen Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, der Grundsatz<lb/>
entgegenstehen, daß über die Schuldfrage nur die Geschworenen, nicht aber die<lb/>
rechtsgelehrten Richter zu entscheiden haben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_918"> Man trete von diesen Gesichtspunkten aus an eine Prüfung derjenigen<lb/>
Sensationsprozesse der letzten Jahre heran, die durch die Ausdehnung der Beweis¬<lb/>
aufnahme in der Öffentlichkeit unliebsames Aufsehen erregt haben, und man wird<lb/>
finden, daß die Ursache meist die hier nachgewiesene ist. Das Geschworenengericht<lb/>
ist der Liebling der sogenannten öffentlichen Meinung; will man das Schwur¬<lb/>
gericht, so muß man auch diejenigen Mängel mit in den Kauf nehmen, die un¬<lb/>
trennbar damit verbunden sind, man schiebe aber die Schuld nicht dem Gerichts¬<lb/>
hofe zu, der wahrlich nicht das mindeste Interesse an einer solchen Ausdehnung<lb/>
der Verhandlung hat.</p><lb/>
            <note type="byline"> Landrichter Dr. Riedinge</note><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0199] Maßgebliches und Unmaßgebliches Beweisaufnahme Wert legen könnten, ist der Gerichtshof gar nicht in der Lage, die Beweisaufnahme abzuschneiden. Eine Möglichkeit, die Geschworenen selbst im Laufe der Hauptverhandlung über einen Beweisantrag Beschluß fassen zu lassen, gibt das Gesetz nicht; es ist auch sehr zweifelhaft, ob dies technisch ausführbar wäre. Und zweitens: die Strafkammer begründet ihr Urteil schriftlich und sie ist daher in der Lage, die Erwägungen, aus denen sie die beantragte Beweisaufnahme ablehnt, in den schriftlichen Urteilsgriinden niederzulegen und sich damit vor einer Aufhebung des Urteils wegen Beschränkung der Verteidigung zu schützen. Die Geschworenen dagegen begründen ihr Urteil nicht. Wäre also beispielsweise Frau von Schonebeck verurteilt worden, so wäre sie jederzeit in der Lage gewesen, Revision einzulegen und diese mit der Einschränkung ihrer Verteidigung zu begründen; und es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß das Reichsgericht das Schwurgerichtsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhand¬ lung und Entscheidung zurückverwiesen hätte mit der Begründung, daß immerhin mit der wenn auch vielleicht entfernten Möglichkeit gerechnet werden müsse, daß die Geschworenen auf Grund der beantragten, aber abgeschnittenen Beweisaufnahme zu einer anderen Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Goeben und damit zu einer anderen Entscheidung der Schuldfrage gelangt wären. Das Reichsgericht wäre namentlich nicht etwa in der Lage, die Revision mit der Begründung zurück¬ zuweisen, daß, wenn die Geschworenen auf die beantragte Beweisaufnahme Gewicht gelegt hätten, sie einen Fehler begangen hätten. Dem würde, abgesehen von anderen Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, der Grundsatz entgegenstehen, daß über die Schuldfrage nur die Geschworenen, nicht aber die rechtsgelehrten Richter zu entscheiden haben. Man trete von diesen Gesichtspunkten aus an eine Prüfung derjenigen Sensationsprozesse der letzten Jahre heran, die durch die Ausdehnung der Beweis¬ aufnahme in der Öffentlichkeit unliebsames Aufsehen erregt haben, und man wird finden, daß die Ursache meist die hier nachgewiesene ist. Das Geschworenengericht ist der Liebling der sogenannten öffentlichen Meinung; will man das Schwur¬ gericht, so muß man auch diejenigen Mängel mit in den Kauf nehmen, die un¬ trennbar damit verbunden sind, man schiebe aber die Schuld nicht dem Gerichts¬ hofe zu, der wahrlich nicht das mindeste Interesse an einer solchen Ausdehnung der Verhandlung hat. Landrichter Dr. Riedinge

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/199
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/199>, abgerufen am 15.05.2024.