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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegcl

Der Reichstag -- Das Regierungsprogramm -- Die Christlich-sozialen --
Vom Hansabund -- Brasilien -- Mexiko -- Rußlands Eisenbahnpläne --
Rußlands Wirtschaft.

Am Dienstag, den 22., ist der Reichstag nach halbjähriger Pause zur letzten
Session in dieser Legislaturperiode zusammengetreten. Angesichts der im kommenden
Jahre bevorstehenden Neuwahlen war vorauszusehen, daß die Verhandlungen im
Wallotbau von vornherein einen agitatorischen Charakter annehmen würden. Nicht
vorauszusehen war indessen, daß die Reichsregierung schon in der ersten Woche
so offen Farbe bekennen würde, wie es geschehen. In der Fleischnotdebätte hat
der Herr Staatssekretär des Innern, Dr. Delbrück, seine Rede geschlossen: "Es
wäre grundfalsch, wenn wir aus einem vorübergehenden Anlaß, wie dem in diesen
Tagen besprochenen, oder aus allgemein theoretischen Erwägungen rütteln wollten
an der Zoll- und Wirtschaftspolitik, die uns auf die Höhe gebracht hat, die ich
eben geschildert habe. .. Ich kann nur dem Wunsche Ausdruck geben, daß das
deutsche Volk die Einsicht besitzen wird, uns auch später einen Reichstag hierher
zu schicken, der uns die Möglichkeit gibt, unsere bisherige Wirtschaftspolitik fort¬
zuführen." Das amtliche Stenogramm verzeichnet an dieser Stelle "Lebhafter
Beifall rechts!" -- In der Debatte über die Rede des Kaisers zu Königsberg, die
in Nummer 47 der "Grenzboten" S. !Z83 nach dem autentischen Text wieder¬
gegeben ist, kennzeichnete der Herr Reichskanzler seine Stellung dahin, daß er sich
mit seiner "Auffassung der Stellung des Kaisers und Königs auf verfassungs¬
mäßigen Boden befinde". Vorher hatte er unterstrichen, daß er die gegensätzliche
Stellung des Kaisers zu Tagesfragen billige.

Das Negierungsprogramm ist somit dasselbe wie das der deutschkonser¬
vativen Partei und des Zentrums. Wir können nicht behaupten, daß uns die sich
hieraus ergebenden Perspektiven sonderlich heiter stimmen. Man braucht kein
Freihändler zu sein, um einzusehen, daß unsere Wirtschaftspolitik einiger wichtiger
Korrekturen bedarf, vor allen Dingen solcher, die die Ausbreitung des bäuerlichen
Grundbesitzes und damit der Vieherzeugung unterstützen. Der theoretischen Frage,
ob die Regierung sich nunmehr als eine parlamentarische Parteiregierung
festgelegt habe, scheint uns zunächst keinerlei Bedeutung innczuwohnen.
Herr von Bethmann nimmt für sich, wenn wir seine Tätigkeit recht beur¬
teilen, lediglich die Stellung eines Geschäftsministers in Anspruch, der unter
Benutzung der gerade vorhandenen Mittel und Parteikonstellatiouen ver¬
fassungsmäßig regieren will. Erst wenn er sein und seiner Minister Verbleiben
im Amt vom Ausfall der nächsten Wahlen abhängig machte, dann könnte
von der Einführung des parlamentarischen Systems in Deutschland gesprochen
werden. Auch als Gegner der ganzen Regierungsmethode des fünften Kanzlers




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegcl

Der Reichstag — Das Regierungsprogramm — Die Christlich-sozialen —
Vom Hansabund — Brasilien — Mexiko — Rußlands Eisenbahnpläne —
Rußlands Wirtschaft.

Am Dienstag, den 22., ist der Reichstag nach halbjähriger Pause zur letzten
Session in dieser Legislaturperiode zusammengetreten. Angesichts der im kommenden
Jahre bevorstehenden Neuwahlen war vorauszusehen, daß die Verhandlungen im
Wallotbau von vornherein einen agitatorischen Charakter annehmen würden. Nicht
vorauszusehen war indessen, daß die Reichsregierung schon in der ersten Woche
so offen Farbe bekennen würde, wie es geschehen. In der Fleischnotdebätte hat
der Herr Staatssekretär des Innern, Dr. Delbrück, seine Rede geschlossen: „Es
wäre grundfalsch, wenn wir aus einem vorübergehenden Anlaß, wie dem in diesen
Tagen besprochenen, oder aus allgemein theoretischen Erwägungen rütteln wollten
an der Zoll- und Wirtschaftspolitik, die uns auf die Höhe gebracht hat, die ich
eben geschildert habe. .. Ich kann nur dem Wunsche Ausdruck geben, daß das
deutsche Volk die Einsicht besitzen wird, uns auch später einen Reichstag hierher
zu schicken, der uns die Möglichkeit gibt, unsere bisherige Wirtschaftspolitik fort¬
zuführen." Das amtliche Stenogramm verzeichnet an dieser Stelle „Lebhafter
Beifall rechts!" — In der Debatte über die Rede des Kaisers zu Königsberg, die
in Nummer 47 der „Grenzboten" S. !Z83 nach dem autentischen Text wieder¬
gegeben ist, kennzeichnete der Herr Reichskanzler seine Stellung dahin, daß er sich
mit seiner „Auffassung der Stellung des Kaisers und Königs auf verfassungs¬
mäßigen Boden befinde". Vorher hatte er unterstrichen, daß er die gegensätzliche
Stellung des Kaisers zu Tagesfragen billige.

Das Negierungsprogramm ist somit dasselbe wie das der deutschkonser¬
vativen Partei und des Zentrums. Wir können nicht behaupten, daß uns die sich
hieraus ergebenden Perspektiven sonderlich heiter stimmen. Man braucht kein
Freihändler zu sein, um einzusehen, daß unsere Wirtschaftspolitik einiger wichtiger
Korrekturen bedarf, vor allen Dingen solcher, die die Ausbreitung des bäuerlichen
Grundbesitzes und damit der Vieherzeugung unterstützen. Der theoretischen Frage,
ob die Regierung sich nunmehr als eine parlamentarische Parteiregierung
festgelegt habe, scheint uns zunächst keinerlei Bedeutung innczuwohnen.
Herr von Bethmann nimmt für sich, wenn wir seine Tätigkeit recht beur¬
teilen, lediglich die Stellung eines Geschäftsministers in Anspruch, der unter
Benutzung der gerade vorhandenen Mittel und Parteikonstellatiouen ver¬
fassungsmäßig regieren will. Erst wenn er sein und seiner Minister Verbleiben
im Amt vom Ausfall der nächsten Wahlen abhängig machte, dann könnte
von der Einführung des parlamentarischen Systems in Deutschland gesprochen
werden. Auch als Gegner der ganzen Regierungsmethode des fünften Kanzlers


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[0447] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegcl Der Reichstag — Das Regierungsprogramm — Die Christlich-sozialen — Vom Hansabund — Brasilien — Mexiko — Rußlands Eisenbahnpläne — Rußlands Wirtschaft. Am Dienstag, den 22., ist der Reichstag nach halbjähriger Pause zur letzten Session in dieser Legislaturperiode zusammengetreten. Angesichts der im kommenden Jahre bevorstehenden Neuwahlen war vorauszusehen, daß die Verhandlungen im Wallotbau von vornherein einen agitatorischen Charakter annehmen würden. Nicht vorauszusehen war indessen, daß die Reichsregierung schon in der ersten Woche so offen Farbe bekennen würde, wie es geschehen. In der Fleischnotdebätte hat der Herr Staatssekretär des Innern, Dr. Delbrück, seine Rede geschlossen: „Es wäre grundfalsch, wenn wir aus einem vorübergehenden Anlaß, wie dem in diesen Tagen besprochenen, oder aus allgemein theoretischen Erwägungen rütteln wollten an der Zoll- und Wirtschaftspolitik, die uns auf die Höhe gebracht hat, die ich eben geschildert habe. .. Ich kann nur dem Wunsche Ausdruck geben, daß das deutsche Volk die Einsicht besitzen wird, uns auch später einen Reichstag hierher zu schicken, der uns die Möglichkeit gibt, unsere bisherige Wirtschaftspolitik fort¬ zuführen." Das amtliche Stenogramm verzeichnet an dieser Stelle „Lebhafter Beifall rechts!" — In der Debatte über die Rede des Kaisers zu Königsberg, die in Nummer 47 der „Grenzboten" S. !Z83 nach dem autentischen Text wieder¬ gegeben ist, kennzeichnete der Herr Reichskanzler seine Stellung dahin, daß er sich mit seiner „Auffassung der Stellung des Kaisers und Königs auf verfassungs¬ mäßigen Boden befinde". Vorher hatte er unterstrichen, daß er die gegensätzliche Stellung des Kaisers zu Tagesfragen billige. Das Negierungsprogramm ist somit dasselbe wie das der deutschkonser¬ vativen Partei und des Zentrums. Wir können nicht behaupten, daß uns die sich hieraus ergebenden Perspektiven sonderlich heiter stimmen. Man braucht kein Freihändler zu sein, um einzusehen, daß unsere Wirtschaftspolitik einiger wichtiger Korrekturen bedarf, vor allen Dingen solcher, die die Ausbreitung des bäuerlichen Grundbesitzes und damit der Vieherzeugung unterstützen. Der theoretischen Frage, ob die Regierung sich nunmehr als eine parlamentarische Parteiregierung festgelegt habe, scheint uns zunächst keinerlei Bedeutung innczuwohnen. Herr von Bethmann nimmt für sich, wenn wir seine Tätigkeit recht beur¬ teilen, lediglich die Stellung eines Geschäftsministers in Anspruch, der unter Benutzung der gerade vorhandenen Mittel und Parteikonstellatiouen ver¬ fassungsmäßig regieren will. Erst wenn er sein und seiner Minister Verbleiben im Amt vom Ausfall der nächsten Wahlen abhängig machte, dann könnte von der Einführung des parlamentarischen Systems in Deutschland gesprochen werden. Auch als Gegner der ganzen Regierungsmethode des fünften Kanzlers

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/447>, abgerufen am 29.04.2024.