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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

das bereits in sechs Auflagen verbreitet und kürzlich durch Wilhelm Henckel
unsern: Publikum' vermittelt wurde. Im fünften Akt seiner Tragödie bringt
Mereshkowskn den scheußlichen Vorgang, wie die Verschworenen den jammervoll
aus seinem Bett springenden und an allen Gliedern zitternden Paul auf die
Erde werfen und mit einer Offiziersschärpe erdrosseln, in aller Ausführlichkeit
zur Tarstellung. Die Szene dürste ohnegleichen in unserer zeitgenössischen
dramatischen Literatur sein und müßte auf der Bühne eine furchtbare Wirkung
ausüben. Mit äußerster Knappheit hat Mereshkowskn diesen Stoff dramatisch
zusammengefaßt und dabei eine ganz neue Seite seines Talents gezeigt. Er
ist sicherlich nicht der Mann, sich auf dem Wege, den ihm das Wachsen seiner
Kraft vorschreibt, durch polizeiliche Vorschriften aufhalten zu lassen. Mit einem
jugendlichen Schönheitsrausch hat er begonnen und die Schule der großen
Meister der Renaissance durchgemacht. Als Erforscher und Darsteller der Kunst
hat er die schlimme Hexe Kritik all des Staubtrockenen entkleidet, das ihr so
häufig anhaftet und sie als in reicher Schönheit erblühendes Weib unserm
Herzen nahe geführt. Er ist jung und stark, trotz der Fülle seines Wissens
von keinerlei blasser Theorie angekränkelt, einer der interessantesten Männer,
die neuerdings im russischen Geistesleben aufgetaucht siud, und verheißt uns
noch mauche Überraschungen, denen wir mit Vertrauen und Spannung
entgegensehen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichs spiegel

Aufruhr -- Schuld der Regierung daran -- Russische Reminiszenzen --
Ausländische Journalisten -- Kassel.

Wer hätte es wohl noch vor zwei Jahren für möglich gehalten, daß des
Deutschen Reiches Hauptstadt den Schauplatz für Vorgänge abgeben könnte, wie
wir sie während der abgelaufenen Woche im Moabiter Stadtteil mit angesehen
haben? Wer hätte noch vor einem Jahre daran gezweifelt, daß jeder Versuch
eines Aufruhrs binnen wenigen Stunden unterdrückt sein würde?! Und heute
haben wir nicht nur einen regelrechten Aufruhr erlebt, wir haben uns auch über¬
zeugen müssen, daß die Staatsgewalt sich drei Nächte mit dem Gesinde! herum¬
schlagen mußte, ehe sie wieder Herr der Situation werden konnte!

Steht Deutschland am Vorabend der Revolution? Das heißt sind in Deutschland
die staatlichen Organe bereits derart leblos geworden, daß eine Bewegung von
unten sie umstürzen könnte? Wir möchten daran nicht glauben. Aber wir
erkennen so viele Analogien mit der Vorgeschichte früherer Zusammenbruche, vor allen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

das bereits in sechs Auflagen verbreitet und kürzlich durch Wilhelm Henckel
unsern: Publikum' vermittelt wurde. Im fünften Akt seiner Tragödie bringt
Mereshkowskn den scheußlichen Vorgang, wie die Verschworenen den jammervoll
aus seinem Bett springenden und an allen Gliedern zitternden Paul auf die
Erde werfen und mit einer Offiziersschärpe erdrosseln, in aller Ausführlichkeit
zur Tarstellung. Die Szene dürste ohnegleichen in unserer zeitgenössischen
dramatischen Literatur sein und müßte auf der Bühne eine furchtbare Wirkung
ausüben. Mit äußerster Knappheit hat Mereshkowskn diesen Stoff dramatisch
zusammengefaßt und dabei eine ganz neue Seite seines Talents gezeigt. Er
ist sicherlich nicht der Mann, sich auf dem Wege, den ihm das Wachsen seiner
Kraft vorschreibt, durch polizeiliche Vorschriften aufhalten zu lassen. Mit einem
jugendlichen Schönheitsrausch hat er begonnen und die Schule der großen
Meister der Renaissance durchgemacht. Als Erforscher und Darsteller der Kunst
hat er die schlimme Hexe Kritik all des Staubtrockenen entkleidet, das ihr so
häufig anhaftet und sie als in reicher Schönheit erblühendes Weib unserm
Herzen nahe geführt. Er ist jung und stark, trotz der Fülle seines Wissens
von keinerlei blasser Theorie angekränkelt, einer der interessantesten Männer,
die neuerdings im russischen Geistesleben aufgetaucht siud, und verheißt uns
noch mauche Überraschungen, denen wir mit Vertrauen und Spannung
entgegensehen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichs spiegel

Aufruhr — Schuld der Regierung daran — Russische Reminiszenzen —
Ausländische Journalisten — Kassel.

Wer hätte es wohl noch vor zwei Jahren für möglich gehalten, daß des
Deutschen Reiches Hauptstadt den Schauplatz für Vorgänge abgeben könnte, wie
wir sie während der abgelaufenen Woche im Moabiter Stadtteil mit angesehen
haben? Wer hätte noch vor einem Jahre daran gezweifelt, daß jeder Versuch
eines Aufruhrs binnen wenigen Stunden unterdrückt sein würde?! Und heute
haben wir nicht nur einen regelrechten Aufruhr erlebt, wir haben uns auch über¬
zeugen müssen, daß die Staatsgewalt sich drei Nächte mit dem Gesinde! herum¬
schlagen mußte, ehe sie wieder Herr der Situation werden konnte!

Steht Deutschland am Vorabend der Revolution? Das heißt sind in Deutschland
die staatlichen Organe bereits derart leblos geworden, daß eine Bewegung von
unten sie umstürzen könnte? Wir möchten daran nicht glauben. Aber wir
erkennen so viele Analogien mit der Vorgeschichte früherer Zusammenbruche, vor allen


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[0049] Maßgebliches und Unmaßgebliches das bereits in sechs Auflagen verbreitet und kürzlich durch Wilhelm Henckel unsern: Publikum' vermittelt wurde. Im fünften Akt seiner Tragödie bringt Mereshkowskn den scheußlichen Vorgang, wie die Verschworenen den jammervoll aus seinem Bett springenden und an allen Gliedern zitternden Paul auf die Erde werfen und mit einer Offiziersschärpe erdrosseln, in aller Ausführlichkeit zur Tarstellung. Die Szene dürste ohnegleichen in unserer zeitgenössischen dramatischen Literatur sein und müßte auf der Bühne eine furchtbare Wirkung ausüben. Mit äußerster Knappheit hat Mereshkowskn diesen Stoff dramatisch zusammengefaßt und dabei eine ganz neue Seite seines Talents gezeigt. Er ist sicherlich nicht der Mann, sich auf dem Wege, den ihm das Wachsen seiner Kraft vorschreibt, durch polizeiliche Vorschriften aufhalten zu lassen. Mit einem jugendlichen Schönheitsrausch hat er begonnen und die Schule der großen Meister der Renaissance durchgemacht. Als Erforscher und Darsteller der Kunst hat er die schlimme Hexe Kritik all des Staubtrockenen entkleidet, das ihr so häufig anhaftet und sie als in reicher Schönheit erblühendes Weib unserm Herzen nahe geführt. Er ist jung und stark, trotz der Fülle seines Wissens von keinerlei blasser Theorie angekränkelt, einer der interessantesten Männer, die neuerdings im russischen Geistesleben aufgetaucht siud, und verheißt uns noch mauche Überraschungen, denen wir mit Vertrauen und Spannung entgegensehen. Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichs spiegel Aufruhr — Schuld der Regierung daran — Russische Reminiszenzen — Ausländische Journalisten — Kassel. Wer hätte es wohl noch vor zwei Jahren für möglich gehalten, daß des Deutschen Reiches Hauptstadt den Schauplatz für Vorgänge abgeben könnte, wie wir sie während der abgelaufenen Woche im Moabiter Stadtteil mit angesehen haben? Wer hätte noch vor einem Jahre daran gezweifelt, daß jeder Versuch eines Aufruhrs binnen wenigen Stunden unterdrückt sein würde?! Und heute haben wir nicht nur einen regelrechten Aufruhr erlebt, wir haben uns auch über¬ zeugen müssen, daß die Staatsgewalt sich drei Nächte mit dem Gesinde! herum¬ schlagen mußte, ehe sie wieder Herr der Situation werden konnte! Steht Deutschland am Vorabend der Revolution? Das heißt sind in Deutschland die staatlichen Organe bereits derart leblos geworden, daß eine Bewegung von unten sie umstürzen könnte? Wir möchten daran nicht glauben. Aber wir erkennen so viele Analogien mit der Vorgeschichte früherer Zusammenbruche, vor allen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/49>, abgerufen am 29.04.2024.