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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Volksliedes bis ins neunzehnte Jahrhundert,
satirische nud didaktische Prosa wie auch geist¬
liches Drama erwachsen aus demselben Boden,
Mit einer feinsinnigen Analyse von Holbeins
Totentänzen und Albrecht Dürers Hauptwerken
schliesst Francke diesen ersten Band.

Das aber ist in dein schönen Buche doch
das Schönste, die Wärme, mit der der Verfasser
über die alten Lieder seiner deutschen Heimat
spricht^ doller Wehmut gedenkt er in den
WidniungSversen seiner Heimat:

Dr, Gelo Lerche
Philosophie

Hans Dankberg: Vom Wesen der Moral.
Eine Physik der Sitten, Stuttgart, Julius
Hoffmann, Preis M, 3,--. Die Überschrift
des Buches hat mich zunächst abgeschreckt.
Denn gegen das Thema Moral haben uns
schlimme Erfahrungen mißtrauisch gemacht und
mehr noch gegen die in "Moral" reisenden
Wcmderliterate". Zwei Schlagworte dröhnen
uns in den Ohren, und um sie drängen sich
Scharen begeisterter Anhänger: alte und neue
Moral, Riesige rote Plakate laden zu Ver¬
sammlungen ein, wo beim Klappern der
Biergläser verhalte Gewalten erdrosselt werden
sollen und wo die anschließende Diskussion
über die schwierigsten Punkte böllige Klarheit
bringen soll.

Nichts dergleichen finden wir in Dankbergs
Buch, Dankberg will nicht andere Leute über¬
zeugen, bekehren und umlaufen. Ihm ist die
Moral kein sinnloses Schreckgespenst, kein feuer¬
speiender Drache, Ihm ist die Moral ein
interessantes Phänomen, das aus bestimmten
sozialen Lagen herauswächst, wie das Edelweis
dem Boden des Hochgebirges und die Seerose
dem Sumpf entsprießt.

Mit einer Raturgeschichte der Moral beginnt
der Verfasser. Nur die ringsum drohende
Not hat einen Gesamtwillcn über die Wünsche
des einzelnen hinauswachsen lassen. Aus Not¬
wehr, wohlverstandener Notwehr hat die Gesell¬
schaft moralische Anschauungen schaffen müssen,
nur dem Entstehen und Wachsen der Kultur

[Spaltenumbruch]

einen Boden zu schaffen und freizuhalten. Also
reine Jwangsinomente sind die Grundlage der
Moral, und mit ihrer Notwendigkeit begründet
der Verfasser die bon ihm anerkannten mora¬
lischen Gebote. Es sind im wesentlichen die¬
selben, die auch Gesellschaft und Religion
gegen immer zunehmende Angriffe zu ver¬
teidigen haben.

Den Ausführungen des Verfassers haftet
um aber ein Erdgeruch an, der die Stärke
des Buches bildet und manchen Gegner be¬
zwingen kann, manchem Freund der gleichen
Güter aber auch die Bundesgenossenschaft ver¬
leiden wird.

Nach einer EuistehuugSgeschichte der Moral
spricht der Verfasser von den Machtmittel",
durch die die Moral ihre Widersacher zu Boden
gehalten hat. Physische Kraft und geistige
Überlegenheit werden gegen sie machtlos. Die
Moral verfügte über die.Kraft der Gesamtheit,
beim Urteil über den einzelnen gab sie den
Maßstab, sie sprach ihm die Ehre zu, wenn
er sich unterwarf; sie bestimmte seine Pflichten,
ja bis in das innerste Denken des einzelnen
drang sie hinein und schuf sein Gewissen. In
diesem Zusammenhang folgt dann die Dar¬
stellung, wie Ehre und Pflicht, die ursprünglich
nur von außen gegebene Gebote enthielten,
zu immer selbständigeren Motiven des Han¬
delns werden. Hier scheint mir auch der
Höhepunkt des Buches zu liegen.

Widerspruch werden die Ausführungen des
Verfassers finden, daß nach moralischen Grund¬
sätzen nur das innerstaatliche Leben zu be¬
urteilen sei. Der gefangene Offizier, der trotz
seines Ehrenwortes weiterkämpft, wird aber
der Mißachtung nicht ohne Grund verfallen-
Die Kraft der Moral beruht darauf, daß sie
Selbstzweck geworden ist und eine Beurteilung
nach dem Maßstabe einer Schädigung der
Gesamtheit durch die einzelne Tat nicht dulden
darf. Anfechtbar erscheint mir auch der Abschnitt
des Buches, der sich mit der Bildung einer
Sondermoral innerhalb der verschiedenen
sozialen Schichten befaßt. Den Zweikampf
vom Standpunkt eines konsequentenUtilitaristcn
betrachtet und anerkannt zu sehen war Gegen¬
stand meines Interesses und meiner Sympathie.
Alles in allem ein trotziges wertvolles und
,
Dr. y. Stein jugendfrischeS Buch.

[Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Volksliedes bis ins neunzehnte Jahrhundert,
satirische nud didaktische Prosa wie auch geist¬
liches Drama erwachsen aus demselben Boden,
Mit einer feinsinnigen Analyse von Holbeins
Totentänzen und Albrecht Dürers Hauptwerken
schliesst Francke diesen ersten Band.

Das aber ist in dein schönen Buche doch
das Schönste, die Wärme, mit der der Verfasser
über die alten Lieder seiner deutschen Heimat
spricht^ doller Wehmut gedenkt er in den
WidniungSversen seiner Heimat:

Dr, Gelo Lerche
Philosophie

Hans Dankberg: Vom Wesen der Moral.
Eine Physik der Sitten, Stuttgart, Julius
Hoffmann, Preis M, 3,—. Die Überschrift
des Buches hat mich zunächst abgeschreckt.
Denn gegen das Thema Moral haben uns
schlimme Erfahrungen mißtrauisch gemacht und
mehr noch gegen die in „Moral" reisenden
Wcmderliterate». Zwei Schlagworte dröhnen
uns in den Ohren, und um sie drängen sich
Scharen begeisterter Anhänger: alte und neue
Moral, Riesige rote Plakate laden zu Ver¬
sammlungen ein, wo beim Klappern der
Biergläser verhalte Gewalten erdrosselt werden
sollen und wo die anschließende Diskussion
über die schwierigsten Punkte böllige Klarheit
bringen soll.

Nichts dergleichen finden wir in Dankbergs
Buch, Dankberg will nicht andere Leute über¬
zeugen, bekehren und umlaufen. Ihm ist die
Moral kein sinnloses Schreckgespenst, kein feuer¬
speiender Drache, Ihm ist die Moral ein
interessantes Phänomen, das aus bestimmten
sozialen Lagen herauswächst, wie das Edelweis
dem Boden des Hochgebirges und die Seerose
dem Sumpf entsprießt.

Mit einer Raturgeschichte der Moral beginnt
der Verfasser. Nur die ringsum drohende
Not hat einen Gesamtwillcn über die Wünsche
des einzelnen hinauswachsen lassen. Aus Not¬
wehr, wohlverstandener Notwehr hat die Gesell¬
schaft moralische Anschauungen schaffen müssen,
nur dem Entstehen und Wachsen der Kultur

[Spaltenumbruch]

einen Boden zu schaffen und freizuhalten. Also
reine Jwangsinomente sind die Grundlage der
Moral, und mit ihrer Notwendigkeit begründet
der Verfasser die bon ihm anerkannten mora¬
lischen Gebote. Es sind im wesentlichen die¬
selben, die auch Gesellschaft und Religion
gegen immer zunehmende Angriffe zu ver¬
teidigen haben.

Den Ausführungen des Verfassers haftet
um aber ein Erdgeruch an, der die Stärke
des Buches bildet und manchen Gegner be¬
zwingen kann, manchem Freund der gleichen
Güter aber auch die Bundesgenossenschaft ver¬
leiden wird.

Nach einer EuistehuugSgeschichte der Moral
spricht der Verfasser von den Machtmittel»,
durch die die Moral ihre Widersacher zu Boden
gehalten hat. Physische Kraft und geistige
Überlegenheit werden gegen sie machtlos. Die
Moral verfügte über die.Kraft der Gesamtheit,
beim Urteil über den einzelnen gab sie den
Maßstab, sie sprach ihm die Ehre zu, wenn
er sich unterwarf; sie bestimmte seine Pflichten,
ja bis in das innerste Denken des einzelnen
drang sie hinein und schuf sein Gewissen. In
diesem Zusammenhang folgt dann die Dar¬
stellung, wie Ehre und Pflicht, die ursprünglich
nur von außen gegebene Gebote enthielten,
zu immer selbständigeren Motiven des Han¬
delns werden. Hier scheint mir auch der
Höhepunkt des Buches zu liegen.

Widerspruch werden die Ausführungen des
Verfassers finden, daß nach moralischen Grund¬
sätzen nur das innerstaatliche Leben zu be¬
urteilen sei. Der gefangene Offizier, der trotz
seines Ehrenwortes weiterkämpft, wird aber
der Mißachtung nicht ohne Grund verfallen-
Die Kraft der Moral beruht darauf, daß sie
Selbstzweck geworden ist und eine Beurteilung
nach dem Maßstabe einer Schädigung der
Gesamtheit durch die einzelne Tat nicht dulden
darf. Anfechtbar erscheint mir auch der Abschnitt
des Buches, der sich mit der Bildung einer
Sondermoral innerhalb der verschiedenen
sozialen Schichten befaßt. Den Zweikampf
vom Standpunkt eines konsequentenUtilitaristcn
betrachtet und anerkannt zu sehen war Gegen¬
stand meines Interesses und meiner Sympathie.
Alles in allem ein trotziges wertvolles und
,
Dr. y. Stein jugendfrischeS Buch.

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[0406] Maßgebliches und Unmaßgebliches Volksliedes bis ins neunzehnte Jahrhundert, satirische nud didaktische Prosa wie auch geist¬ liches Drama erwachsen aus demselben Boden, Mit einer feinsinnigen Analyse von Holbeins Totentänzen und Albrecht Dürers Hauptwerken schliesst Francke diesen ersten Band. Das aber ist in dein schönen Buche doch das Schönste, die Wärme, mit der der Verfasser über die alten Lieder seiner deutschen Heimat spricht^ doller Wehmut gedenkt er in den WidniungSversen seiner Heimat: Dr, Gelo Lerche Philosophie Hans Dankberg: Vom Wesen der Moral. Eine Physik der Sitten, Stuttgart, Julius Hoffmann, Preis M, 3,—. Die Überschrift des Buches hat mich zunächst abgeschreckt. Denn gegen das Thema Moral haben uns schlimme Erfahrungen mißtrauisch gemacht und mehr noch gegen die in „Moral" reisenden Wcmderliterate». Zwei Schlagworte dröhnen uns in den Ohren, und um sie drängen sich Scharen begeisterter Anhänger: alte und neue Moral, Riesige rote Plakate laden zu Ver¬ sammlungen ein, wo beim Klappern der Biergläser verhalte Gewalten erdrosselt werden sollen und wo die anschließende Diskussion über die schwierigsten Punkte böllige Klarheit bringen soll. Nichts dergleichen finden wir in Dankbergs Buch, Dankberg will nicht andere Leute über¬ zeugen, bekehren und umlaufen. Ihm ist die Moral kein sinnloses Schreckgespenst, kein feuer¬ speiender Drache, Ihm ist die Moral ein interessantes Phänomen, das aus bestimmten sozialen Lagen herauswächst, wie das Edelweis dem Boden des Hochgebirges und die Seerose dem Sumpf entsprießt. Mit einer Raturgeschichte der Moral beginnt der Verfasser. Nur die ringsum drohende Not hat einen Gesamtwillcn über die Wünsche des einzelnen hinauswachsen lassen. Aus Not¬ wehr, wohlverstandener Notwehr hat die Gesell¬ schaft moralische Anschauungen schaffen müssen, nur dem Entstehen und Wachsen der Kultur einen Boden zu schaffen und freizuhalten. Also reine Jwangsinomente sind die Grundlage der Moral, und mit ihrer Notwendigkeit begründet der Verfasser die bon ihm anerkannten mora¬ lischen Gebote. Es sind im wesentlichen die¬ selben, die auch Gesellschaft und Religion gegen immer zunehmende Angriffe zu ver¬ teidigen haben. Den Ausführungen des Verfassers haftet um aber ein Erdgeruch an, der die Stärke des Buches bildet und manchen Gegner be¬ zwingen kann, manchem Freund der gleichen Güter aber auch die Bundesgenossenschaft ver¬ leiden wird. Nach einer EuistehuugSgeschichte der Moral spricht der Verfasser von den Machtmittel», durch die die Moral ihre Widersacher zu Boden gehalten hat. Physische Kraft und geistige Überlegenheit werden gegen sie machtlos. Die Moral verfügte über die.Kraft der Gesamtheit, beim Urteil über den einzelnen gab sie den Maßstab, sie sprach ihm die Ehre zu, wenn er sich unterwarf; sie bestimmte seine Pflichten, ja bis in das innerste Denken des einzelnen drang sie hinein und schuf sein Gewissen. In diesem Zusammenhang folgt dann die Dar¬ stellung, wie Ehre und Pflicht, die ursprünglich nur von außen gegebene Gebote enthielten, zu immer selbständigeren Motiven des Han¬ delns werden. Hier scheint mir auch der Höhepunkt des Buches zu liegen. Widerspruch werden die Ausführungen des Verfassers finden, daß nach moralischen Grund¬ sätzen nur das innerstaatliche Leben zu be¬ urteilen sei. Der gefangene Offizier, der trotz seines Ehrenwortes weiterkämpft, wird aber der Mißachtung nicht ohne Grund verfallen- Die Kraft der Moral beruht darauf, daß sie Selbstzweck geworden ist und eine Beurteilung nach dem Maßstabe einer Schädigung der Gesamtheit durch die einzelne Tat nicht dulden darf. Anfechtbar erscheint mir auch der Abschnitt des Buches, der sich mit der Bildung einer Sondermoral innerhalb der verschiedenen sozialen Schichten befaßt. Den Zweikampf vom Standpunkt eines konsequentenUtilitaristcn betrachtet und anerkannt zu sehen war Gegen¬ stand meines Interesses und meiner Sympathie. Alles in allem ein trotziges wertvolles und , Dr. y. Stein jugendfrischeS Buch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/406>, abgerufen am 03.05.2024.