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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Entschuldigungen gibt es dafür nicht.
Draußen im Reiche sprießt und blüht es wie
von neuem lockenden Leben, Überall, wo
deutsche Kultur um der Arbeit ist, hat man
ein offenes Auge und ein warmes Herz für die
redliche Tat eines ernsthaften Dichters und
Wahrheiisnchers, Nur in Berlin hat man bessere
Dinge zu tun. Hier müszte ein schlechtes Stück
bon Gerhart Hauptmann zu einem lächer¬
lichen Scheinerfolge auffrisiert werden. Hier
mußte die armselige Aviatikertragödie des
Artisten Vollmöllcr ("Wielnnd") unter Haus¬
schlüsselpfiffen und wildem Hohngelächter bis
zu Ende gespielt werden. Hier mußte man
an einem einzigen Tage fünf verschiedene
Pariser Possen ans der Taufe heben, Und
hier hat nur der etwas zu bedeuten, der das
Geschäft des Anreißens versteht und mit der
großen Reklametrommel betriebsam von Haus
zu Hans zieht,

Lavemrt eonsulos! Berlin hat einen Ruf
zu verlieren. Und, wenn kein Wunder ge¬
schieht, ist der Tag nicht mehr fern, an dem
ernster Gesinnte nur noch mit Achselzucken
und wehmütigen Spotte reagieren werden,
wenn die Rede auf die "erste Theaterstndt
der Welt" kommt,

Dr. Arthur Westpha
Naturwissenschaften

Natur -- Geist -- Technik. Der bekannte
Wiener Pflanzenphysiologe Julius v. Wiesuer
hat eine größere Anzahl voneinander un¬
abhängiger Reden und Essays zu einem Buch
vereinigt (Verlag von Wilhelm Engelmann,
1910), Alle, bis auf zwei dieser wertvolle"
Arbeiten, haben bereits der Öffentlichkeit gehört,
aber da sie zum größten Teil in Zeitschriften
und Zeitungen verstreut waren, wird im vor¬
liegenden Bande einem weiten Leserkreis etwas
Neues geboten, WieSncr vergräbt sich nicht
lediglich in die Einzelforschung, er weiß sein
spezielles Arbeitsgebiet auch von hoher Warte
aus zu betrachten. In seiner hier aufs neue
zum Abdruck gelangten Rektoratsrede kenn¬
zeichnet er die Beziehungen der Pflanzen-
Physiologie zu den anderen Wissenschaften, und
zwar nicht "ur zu den Naturwissenschaften
und der Medizin, sondern auch zu den Geistes-
wissenschaften, zur Soziologie, Geschichte,
Philosophie usw, in geistvoller Weise, Besonders

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wertvoll sind natürlich Wiesuers Berichte über
Ergebnisse seiner speziellen Studien, etwa über
die letzten Lebenseinheiten, über den Licht-
genuß der Pflanzen, über das Papier in
seiner geschichtlichen Entwicklung usw. Aber
auch Wiesners Schilderungen der Lebens¬
arbeit berühmter Fachgenossen, seines Lehrers
Franz Angers, des ersten Pflanzenphysiologen
seiner Zeit, des Niederländers Sugeu-Housz,
der in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts als Arzt und Naturforscher in
Wien wirkte, FechuerS und Gregor Mendels
sind überaus fesselnd. Sehr beachtenswert
sind WiesnerS Ausführungen über Darwin,
die ihm zugleich Gelegenheit geben, die Lei¬
stungen LinnüK ins rechte Licht zu setzen,
Linus ist, nach WieSner, durchaus nicht der
starre Vertreter der absoluten Konstanz der
Arten, als welcher er Darwin und auch heute
noch in der öffentlichen Meinung gilt, viel¬
mehr hat auch er seine deszendenztheoretischen
Auffassungen gehabt, obgleich er eine Lösung
der Transformationsproblcme vorläufig für
unmöglich hielt. In Darwin sieht Wicsner
den Begründer der modernen Biologie, er hält
aber seine Selektionslehre mit dem Kampf
ums Dasein als Ursache des Aufstiegs der
Organismen zu höheren Formen für gescheitert,
Energisch weist Wiesner auf die Mängel einer
auf den erweiterten Darwinismus begründeten
Weltanschauung hin und empfiehlt, angesichts
der Ausschreitungen des Haeckelschen Monisten-
buudeS, dringend ein Zurückgreifen auf die
Schriften K. E. v, Baers. Überhaupt ist es
WicSners Bestreben, die Spekulation in den
Naturwissenschaften in die geeigneten Schranken
zu verweisen. Ans Wiesners Auseinander¬
setzungen scheint aber Hervorzugeheu, daß er
die Bedeutung der metaphysischen Spekulation
für die Naturwissenschaften immerhin höher
einschätzt als die Philosophische, d,h. erkeuntniS-
theoretische Bearbeitung in der Naturwissen-
schaft geltender Begriffe, was um so mehr
befremden muß, als ja gerade die Erkenntnis¬
theorie gegen die wild wuchernden natur¬
philosophischen Spekulationen ein Bollwerk zu
bilden geeignet ist. Der naive Realismus ist
gewiß der für die Naturforscher zweckmäßige
Standpunkt und ist jenen von den Philosophen
nur baun zum Borwurf gemacht worden,
wenn sie sich ohne erkenntnisthevretischc Bor-

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Grenzboten I 191156
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Entschuldigungen gibt es dafür nicht.
Draußen im Reiche sprießt und blüht es wie
von neuem lockenden Leben, Überall, wo
deutsche Kultur um der Arbeit ist, hat man
ein offenes Auge und ein warmes Herz für die
redliche Tat eines ernsthaften Dichters und
Wahrheiisnchers, Nur in Berlin hat man bessere
Dinge zu tun. Hier müszte ein schlechtes Stück
bon Gerhart Hauptmann zu einem lächer¬
lichen Scheinerfolge auffrisiert werden. Hier
mußte die armselige Aviatikertragödie des
Artisten Vollmöllcr („Wielnnd") unter Haus¬
schlüsselpfiffen und wildem Hohngelächter bis
zu Ende gespielt werden. Hier mußte man
an einem einzigen Tage fünf verschiedene
Pariser Possen ans der Taufe heben, Und
hier hat nur der etwas zu bedeuten, der das
Geschäft des Anreißens versteht und mit der
großen Reklametrommel betriebsam von Haus
zu Hans zieht,

Lavemrt eonsulos! Berlin hat einen Ruf
zu verlieren. Und, wenn kein Wunder ge¬
schieht, ist der Tag nicht mehr fern, an dem
ernster Gesinnte nur noch mit Achselzucken
und wehmütigen Spotte reagieren werden,
wenn die Rede auf die „erste Theaterstndt
der Welt" kommt,

Dr. Arthur Westpha
Naturwissenschaften

Natur — Geist — Technik. Der bekannte
Wiener Pflanzenphysiologe Julius v. Wiesuer
hat eine größere Anzahl voneinander un¬
abhängiger Reden und Essays zu einem Buch
vereinigt (Verlag von Wilhelm Engelmann,
1910), Alle, bis auf zwei dieser wertvolle»
Arbeiten, haben bereits der Öffentlichkeit gehört,
aber da sie zum größten Teil in Zeitschriften
und Zeitungen verstreut waren, wird im vor¬
liegenden Bande einem weiten Leserkreis etwas
Neues geboten, WieSncr vergräbt sich nicht
lediglich in die Einzelforschung, er weiß sein
spezielles Arbeitsgebiet auch von hoher Warte
aus zu betrachten. In seiner hier aufs neue
zum Abdruck gelangten Rektoratsrede kenn¬
zeichnet er die Beziehungen der Pflanzen-
Physiologie zu den anderen Wissenschaften, und
zwar nicht »ur zu den Naturwissenschaften
und der Medizin, sondern auch zu den Geistes-
wissenschaften, zur Soziologie, Geschichte,
Philosophie usw, in geistvoller Weise, Besonders

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wertvoll sind natürlich Wiesuers Berichte über
Ergebnisse seiner speziellen Studien, etwa über
die letzten Lebenseinheiten, über den Licht-
genuß der Pflanzen, über das Papier in
seiner geschichtlichen Entwicklung usw. Aber
auch Wiesners Schilderungen der Lebens¬
arbeit berühmter Fachgenossen, seines Lehrers
Franz Angers, des ersten Pflanzenphysiologen
seiner Zeit, des Niederländers Sugeu-Housz,
der in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts als Arzt und Naturforscher in
Wien wirkte, FechuerS und Gregor Mendels
sind überaus fesselnd. Sehr beachtenswert
sind WiesnerS Ausführungen über Darwin,
die ihm zugleich Gelegenheit geben, die Lei¬
stungen LinnüK ins rechte Licht zu setzen,
Linus ist, nach WieSner, durchaus nicht der
starre Vertreter der absoluten Konstanz der
Arten, als welcher er Darwin und auch heute
noch in der öffentlichen Meinung gilt, viel¬
mehr hat auch er seine deszendenztheoretischen
Auffassungen gehabt, obgleich er eine Lösung
der Transformationsproblcme vorläufig für
unmöglich hielt. In Darwin sieht Wicsner
den Begründer der modernen Biologie, er hält
aber seine Selektionslehre mit dem Kampf
ums Dasein als Ursache des Aufstiegs der
Organismen zu höheren Formen für gescheitert,
Energisch weist Wiesner auf die Mängel einer
auf den erweiterten Darwinismus begründeten
Weltanschauung hin und empfiehlt, angesichts
der Ausschreitungen des Haeckelschen Monisten-
buudeS, dringend ein Zurückgreifen auf die
Schriften K. E. v, Baers. Überhaupt ist es
WicSners Bestreben, die Spekulation in den
Naturwissenschaften in die geeigneten Schranken
zu verweisen. Ans Wiesners Auseinander¬
setzungen scheint aber Hervorzugeheu, daß er
die Bedeutung der metaphysischen Spekulation
für die Naturwissenschaften immerhin höher
einschätzt als die Philosophische, d,h. erkeuntniS-
theoretische Bearbeitung in der Naturwissen-
schaft geltender Begriffe, was um so mehr
befremden muß, als ja gerade die Erkenntnis¬
theorie gegen die wild wuchernden natur¬
philosophischen Spekulationen ein Bollwerk zu
bilden geeignet ist. Der naive Realismus ist
gewiß der für die Naturforscher zweckmäßige
Standpunkt und ist jenen von den Philosophen
nur baun zum Borwurf gemacht worden,
wenn sie sich ohne erkenntnisthevretischc Bor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/455>, abgerufen am 03.05.2024.