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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Sorge und der Leichtsinn

Die Sorge und der Leichtsinn
Line moderne Parabel
Lothar Brieger - Ulasservogcl- von

MWH
Mffschemesdin Lamet beerbte in sehr jugendlichem Alter seinen Vater,
einen außerordentlich reichen Kaufherrn. Aber er hatte nicht die
geringste Lust, das Geschäft weiterzuführen. Nie war ihm irgendein
Beruf mit seinen Kümmernissen nahe, getreten, und bei dem Gedanken
an die Zukunft hatte sich sein Herz noch nie zusammengekrümmt.
So verkaufte er denn den Laden an einen, der anders dachte als er, und führte
sein sorgloses Leben weiter. Auf seiner Stirne thronte das Glück. Er war groß
und schön, und sein dunkles Gelock fiel keck und verwegen herab bis auf seine
blauen Augen, aus denen die Sorglosigkeit nie getrübter Jugend lachte. Wenn
er auf seinem arabischen Pferde durch die Straßen von Medina ritt, erröteten die
Frauen unter ihren Tüchern, und manches duftende Brieflein flog heimlich in sein
Haus. Er aber liebte sie alle, die Frauen und die Rosen und die ganze Welt.
Und er war überzeugt, daß das nie anders werden könnte, sondern immer so
bleiben müßte.

Eines Tages war Dschemesdin über Land geritten zu einen: Freunde. Da
hatte er sich bei Wein und Frauen verspätet, und als er heimkehrte, war es tief-
dunkle Nacht. Fröhlich trabte er dahin, auf seinen Lippen den Geschmack des
letzten Bechers Wein und die erste Strophe eines neuen Liebeslieds. Da trat
ihm an einer Biegung des Weges ein altes Weib entgegen und gebot ihm an¬
zuhalten.

"Wer bist du," fragte der Jüngling, "die du Dschemesdin Lamet zu befehlen
wagst?"

"Kennst du mich nicht?" antwortete das Weib. "Wenn du dich nachts
schlaflos auf deinem Lager wälztest und schwere Gedanken an die Zukunft deine
Stirn erdrückten, dann saß ich unsichtbar an deiner Seite."

"Ich schlafe immer gut", antwortete Dschemesdin.

"Oder wenn dich eine Frau verließ, an der du mit allen Fasern deines
Herzens hingst, und sie lachte deiner -- da trat ich dir nahe."

"Mich lieben alle Frauen", erwiderte Dschemesdin.

"Erinnerst du dich der Stunde, in der dich dein bester Freund verriet? Ich
war die Stunde!"

"Mich verriet noch nie ein Freund!" sagte Dschemesdin.

"Ich bin die Sorge!" sprach plötzlich das Weib. "Nun sollst du mich endlich
kennen lernen!" Und sie streckte ihren langen grauen Arm nach ihm aus.

Aber ehe der Arm den Jüngling erreichte, dörrte er und schrumpfte zusammen
und siel kraftlos herab. Da rief das Weib:

"Warum hast du mir nicht gleich gesagt, wer du bist, und daß ich dich nicht
versuchen kann. Du bist mein Herr, du bist der ganzen Welt Gebieter, denn du
bist der Leichtsinn!"

Und das graue Weib trat schnell vom Wege zurück und verbeugte sich tief.

Dschemesdin aber ritt lachend weiter.




Die Sorge und der Leichtsinn

Die Sorge und der Leichtsinn
Line moderne Parabel
Lothar Brieger - Ulasservogcl- von

MWH
Mffschemesdin Lamet beerbte in sehr jugendlichem Alter seinen Vater,
einen außerordentlich reichen Kaufherrn. Aber er hatte nicht die
geringste Lust, das Geschäft weiterzuführen. Nie war ihm irgendein
Beruf mit seinen Kümmernissen nahe, getreten, und bei dem Gedanken
an die Zukunft hatte sich sein Herz noch nie zusammengekrümmt.
So verkaufte er denn den Laden an einen, der anders dachte als er, und führte
sein sorgloses Leben weiter. Auf seiner Stirne thronte das Glück. Er war groß
und schön, und sein dunkles Gelock fiel keck und verwegen herab bis auf seine
blauen Augen, aus denen die Sorglosigkeit nie getrübter Jugend lachte. Wenn
er auf seinem arabischen Pferde durch die Straßen von Medina ritt, erröteten die
Frauen unter ihren Tüchern, und manches duftende Brieflein flog heimlich in sein
Haus. Er aber liebte sie alle, die Frauen und die Rosen und die ganze Welt.
Und er war überzeugt, daß das nie anders werden könnte, sondern immer so
bleiben müßte.

Eines Tages war Dschemesdin über Land geritten zu einen: Freunde. Da
hatte er sich bei Wein und Frauen verspätet, und als er heimkehrte, war es tief-
dunkle Nacht. Fröhlich trabte er dahin, auf seinen Lippen den Geschmack des
letzten Bechers Wein und die erste Strophe eines neuen Liebeslieds. Da trat
ihm an einer Biegung des Weges ein altes Weib entgegen und gebot ihm an¬
zuhalten.

„Wer bist du," fragte der Jüngling, „die du Dschemesdin Lamet zu befehlen
wagst?"

„Kennst du mich nicht?" antwortete das Weib. „Wenn du dich nachts
schlaflos auf deinem Lager wälztest und schwere Gedanken an die Zukunft deine
Stirn erdrückten, dann saß ich unsichtbar an deiner Seite."

„Ich schlafe immer gut", antwortete Dschemesdin.

„Oder wenn dich eine Frau verließ, an der du mit allen Fasern deines
Herzens hingst, und sie lachte deiner — da trat ich dir nahe."

„Mich lieben alle Frauen", erwiderte Dschemesdin.

„Erinnerst du dich der Stunde, in der dich dein bester Freund verriet? Ich
war die Stunde!"

„Mich verriet noch nie ein Freund!" sagte Dschemesdin.

„Ich bin die Sorge!" sprach plötzlich das Weib. „Nun sollst du mich endlich
kennen lernen!" Und sie streckte ihren langen grauen Arm nach ihm aus.

Aber ehe der Arm den Jüngling erreichte, dörrte er und schrumpfte zusammen
und siel kraftlos herab. Da rief das Weib:

„Warum hast du mir nicht gleich gesagt, wer du bist, und daß ich dich nicht
versuchen kann. Du bist mein Herr, du bist der ganzen Welt Gebieter, denn du
bist der Leichtsinn!"

Und das graue Weib trat schnell vom Wege zurück und verbeugte sich tief.

Dschemesdin aber ritt lachend weiter.




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[0646] Die Sorge und der Leichtsinn Die Sorge und der Leichtsinn Line moderne Parabel Lothar Brieger - Ulasservogcl- von MWH Mffschemesdin Lamet beerbte in sehr jugendlichem Alter seinen Vater, einen außerordentlich reichen Kaufherrn. Aber er hatte nicht die geringste Lust, das Geschäft weiterzuführen. Nie war ihm irgendein Beruf mit seinen Kümmernissen nahe, getreten, und bei dem Gedanken an die Zukunft hatte sich sein Herz noch nie zusammengekrümmt. So verkaufte er denn den Laden an einen, der anders dachte als er, und führte sein sorgloses Leben weiter. Auf seiner Stirne thronte das Glück. Er war groß und schön, und sein dunkles Gelock fiel keck und verwegen herab bis auf seine blauen Augen, aus denen die Sorglosigkeit nie getrübter Jugend lachte. Wenn er auf seinem arabischen Pferde durch die Straßen von Medina ritt, erröteten die Frauen unter ihren Tüchern, und manches duftende Brieflein flog heimlich in sein Haus. Er aber liebte sie alle, die Frauen und die Rosen und die ganze Welt. Und er war überzeugt, daß das nie anders werden könnte, sondern immer so bleiben müßte. Eines Tages war Dschemesdin über Land geritten zu einen: Freunde. Da hatte er sich bei Wein und Frauen verspätet, und als er heimkehrte, war es tief- dunkle Nacht. Fröhlich trabte er dahin, auf seinen Lippen den Geschmack des letzten Bechers Wein und die erste Strophe eines neuen Liebeslieds. Da trat ihm an einer Biegung des Weges ein altes Weib entgegen und gebot ihm an¬ zuhalten. „Wer bist du," fragte der Jüngling, „die du Dschemesdin Lamet zu befehlen wagst?" „Kennst du mich nicht?" antwortete das Weib. „Wenn du dich nachts schlaflos auf deinem Lager wälztest und schwere Gedanken an die Zukunft deine Stirn erdrückten, dann saß ich unsichtbar an deiner Seite." „Ich schlafe immer gut", antwortete Dschemesdin. „Oder wenn dich eine Frau verließ, an der du mit allen Fasern deines Herzens hingst, und sie lachte deiner — da trat ich dir nahe." „Mich lieben alle Frauen", erwiderte Dschemesdin. „Erinnerst du dich der Stunde, in der dich dein bester Freund verriet? Ich war die Stunde!" „Mich verriet noch nie ein Freund!" sagte Dschemesdin. „Ich bin die Sorge!" sprach plötzlich das Weib. „Nun sollst du mich endlich kennen lernen!" Und sie streckte ihren langen grauen Arm nach ihm aus. Aber ehe der Arm den Jüngling erreichte, dörrte er und schrumpfte zusammen und siel kraftlos herab. Da rief das Weib: „Warum hast du mir nicht gleich gesagt, wer du bist, und daß ich dich nicht versuchen kann. Du bist mein Herr, du bist der ganzen Welt Gebieter, denn du bist der Leichtsinn!" Und das graue Weib trat schnell vom Wege zurück und verbeugte sich tief. Dschemesdin aber ritt lachend weiter.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/646>, abgerufen am 03.05.2024.