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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

diesen derben Knnipfszenc". Wer nun sind eben
die Bnuerngeschichten ebenso meilenweit von
oberflächlicher oder verlogener Heiterkeit ivie
von Brutalität entfernt. Es fehlt weder der
Schmerz noch der Gedanke, eS fehlt anch
nicht das tüchtige Streben nach ernsten
Zielen -- nur das; tapferer Frohsinn und
frische Gesundheit immer wieder die wunder-
volle Basis bilden. Es ist, als habe auch
an den Björnson der Banerugeschichten die
Botschaft gelautet:

v. R.
Grazia Deledda: Bis an die Grenze.
München,VerlagderSüddeutschenMonntshefte.

"Alle Politische Annäherung hat die tiefe
Kluft zwischen romanischem und germanischem
Geist nicht auszufüllen vermocht, und Italien
erwidert die Zurückhaltung selbst der litera-
rischen Kreise Deutschlands gegenüber seiner
Literatur in bollein Maße. . ." So schrieb
Paul Heyse 1904 im Vorwort zum fünften
Bande seiner "Italienischen Dichter", und waS
dieser größte lebende Mittler zwischen der
italienischen und deutschen Dichtung damals
meinte, dürfte -- zum mindesten für Deutsch¬
land -- auch heute noch volle Geltung haben.
Die Kenntnis von der modernen italienischen
Literatur beschränkt sich hier zumeist doch auf
zwei Autoren, auf Ada Regri und Gabriele
d'Aununzio. Jene ist eine ehrliche und be¬
deutende Dichterin, doch durch Parteifanatis¬
mus ins Enge gebannt, bei diesen: liegen
Dichter und Jongleur in ewigem Streit, und
wenn anch der Jongleur nicht immer der
Stärkere ist, so vergiftet er doch immer das
Zutrauen zur Aufrichtigkeit des Dichters. Da
ist es denn verdienstvoll, eine ebenso um¬
fassende wie maßvolle und ehrliche Dichtung
Grazia Deleddas den Deutschen zugänglich
gemacht zu haben. Der Roman "Bis an die
Grenze" zeichnet nur wenige Menschen, aber
diese wenigen mit ungemeiner Schärfe, und
hinter ihnen steht deutlich erkennbar ein ganzes
Volk und mehr als das: eine der größten
Erdenmächte, die katholische Kirche. "Der

[Spaltenumbruch]

Mensch kann nicht leben ohne Freiheit oder
die Hoffnung auf Freiheit." DaS in seiner
Schlichtheit fast triviale Wort des Arztes
Francesco Fais ist der Leitsatz der Dichtung,
in der aber nur nichts von dem zu finden
ist, was man als Konsegueuz dieser Meinung
in ihr suchen könnte. Denn einmal ist dus
Buch nicht fanatisch antiklerikal; es stellt neben
den verbohrten Kleriker auch den sympathischen,
eS berichtet nicht von übermüßigen geistlichen
Schandtaten. Sodann, und darin liegt seine
Originalität, malt es andere Wirkungen des
übermäßigen klerikalen Druckes ans als die
so oft und bis zum Überdruß oft beschriebenen.
Grazia Deledda zeichnet keine Menschen, die
unter diesem Joch verdumpfen, auch niclit
eigentlich solche, die zu Frevlern werden,
sondern solche, die durch die ausschließliche
und zwangsweise Hinlenkung auf das Himm¬
lische den irdischen Boden unter den Füßen
verliere!?, die freudlos und unnütz werden.
Der junge Priester, der Gavina suus liebt
und von ihr nicht aus Abneigung, sondern
aus Furcht vor der Sünde zurückgewiesen
wird, endet durch Selbstmord; die zu reli¬
giösen Verzückungen neigende Michela, bei
der er Trost sucht, verfällt dem Wahnsinn;
Gabina selber findet nur ganz zuletzt und
allmählich aus solchen Gefahren den Weg ins
Freie. Und nun ist es wunderschön, daß ihr
Führer ins Leben, der Freigeist Francesco,
den sie mehr aus Angst und Hilflosigkeit als
aus Liebe heiratet, der mir langsam ihre
Seele gewinnt, kein Mann der großen Worte
und der Intoleranz ist. Er bekämpft nicht
Gavinas religiöses Gefühl, er entwickelt ihr
bei seiner Werbung anch kein Programm.
Er weist sie uur auf das Leben hin, von dem
sie sich in der Überspannung des Gottsuchens
abgekehrt hat. "Wir brauchen nur ein wenig
mit den anderen zu leben, unser Glück mit
anderer Leid zu vergleichen und unser Leid mit
anderer Glück! Und wir müssen zu begreifen,
zu widerstehen suchen, in Gemeinschaft mit
der Natur leben, sie bewundern und uns
ihrer erfreuen, wenn sie schön ist, gegen sie
ankämpfen, wenn sie uns feindlich ist, stolz
sein, daß wir Menschen sind, glücklich, daß
wir gesund sind, und zufrieden, wenn wir
uns und anderen zu nützen vermögen.. ."

R. O. [Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

diesen derben Knnipfszenc». Wer nun sind eben
die Bnuerngeschichten ebenso meilenweit von
oberflächlicher oder verlogener Heiterkeit ivie
von Brutalität entfernt. Es fehlt weder der
Schmerz noch der Gedanke, eS fehlt anch
nicht das tüchtige Streben nach ernsten
Zielen — nur das; tapferer Frohsinn und
frische Gesundheit immer wieder die wunder-
volle Basis bilden. Es ist, als habe auch
an den Björnson der Banerugeschichten die
Botschaft gelautet:

v. R.
Grazia Deledda: Bis an die Grenze.
München,VerlagderSüddeutschenMonntshefte.

„Alle Politische Annäherung hat die tiefe
Kluft zwischen romanischem und germanischem
Geist nicht auszufüllen vermocht, und Italien
erwidert die Zurückhaltung selbst der litera-
rischen Kreise Deutschlands gegenüber seiner
Literatur in bollein Maße. . ." So schrieb
Paul Heyse 1904 im Vorwort zum fünften
Bande seiner „Italienischen Dichter", und waS
dieser größte lebende Mittler zwischen der
italienischen und deutschen Dichtung damals
meinte, dürfte — zum mindesten für Deutsch¬
land — auch heute noch volle Geltung haben.
Die Kenntnis von der modernen italienischen
Literatur beschränkt sich hier zumeist doch auf
zwei Autoren, auf Ada Regri und Gabriele
d'Aununzio. Jene ist eine ehrliche und be¬
deutende Dichterin, doch durch Parteifanatis¬
mus ins Enge gebannt, bei diesen: liegen
Dichter und Jongleur in ewigem Streit, und
wenn anch der Jongleur nicht immer der
Stärkere ist, so vergiftet er doch immer das
Zutrauen zur Aufrichtigkeit des Dichters. Da
ist es denn verdienstvoll, eine ebenso um¬
fassende wie maßvolle und ehrliche Dichtung
Grazia Deleddas den Deutschen zugänglich
gemacht zu haben. Der Roman „Bis an die
Grenze" zeichnet nur wenige Menschen, aber
diese wenigen mit ungemeiner Schärfe, und
hinter ihnen steht deutlich erkennbar ein ganzes
Volk und mehr als das: eine der größten
Erdenmächte, die katholische Kirche. „Der

[Spaltenumbruch]

Mensch kann nicht leben ohne Freiheit oder
die Hoffnung auf Freiheit." DaS in seiner
Schlichtheit fast triviale Wort des Arztes
Francesco Fais ist der Leitsatz der Dichtung,
in der aber nur nichts von dem zu finden
ist, was man als Konsegueuz dieser Meinung
in ihr suchen könnte. Denn einmal ist dus
Buch nicht fanatisch antiklerikal; es stellt neben
den verbohrten Kleriker auch den sympathischen,
eS berichtet nicht von übermüßigen geistlichen
Schandtaten. Sodann, und darin liegt seine
Originalität, malt es andere Wirkungen des
übermäßigen klerikalen Druckes ans als die
so oft und bis zum Überdruß oft beschriebenen.
Grazia Deledda zeichnet keine Menschen, die
unter diesem Joch verdumpfen, auch niclit
eigentlich solche, die zu Frevlern werden,
sondern solche, die durch die ausschließliche
und zwangsweise Hinlenkung auf das Himm¬
lische den irdischen Boden unter den Füßen
verliere!?, die freudlos und unnütz werden.
Der junge Priester, der Gavina suus liebt
und von ihr nicht aus Abneigung, sondern
aus Furcht vor der Sünde zurückgewiesen
wird, endet durch Selbstmord; die zu reli¬
giösen Verzückungen neigende Michela, bei
der er Trost sucht, verfällt dem Wahnsinn;
Gabina selber findet nur ganz zuletzt und
allmählich aus solchen Gefahren den Weg ins
Freie. Und nun ist es wunderschön, daß ihr
Führer ins Leben, der Freigeist Francesco,
den sie mehr aus Angst und Hilflosigkeit als
aus Liebe heiratet, der mir langsam ihre
Seele gewinnt, kein Mann der großen Worte
und der Intoleranz ist. Er bekämpft nicht
Gavinas religiöses Gefühl, er entwickelt ihr
bei seiner Werbung anch kein Programm.
Er weist sie uur auf das Leben hin, von dem
sie sich in der Überspannung des Gottsuchens
abgekehrt hat. „Wir brauchen nur ein wenig
mit den anderen zu leben, unser Glück mit
anderer Leid zu vergleichen und unser Leid mit
anderer Glück! Und wir müssen zu begreifen,
zu widerstehen suchen, in Gemeinschaft mit
der Natur leben, sie bewundern und uns
ihrer erfreuen, wenn sie schön ist, gegen sie
ankämpfen, wenn sie uns feindlich ist, stolz
sein, daß wir Menschen sind, glücklich, daß
wir gesund sind, und zufrieden, wenn wir
uns und anderen zu nützen vermögen.. ."

R. O. [Ende Spaltensatz]


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[0143] Maßgebliches und Unmaßgebliches diesen derben Knnipfszenc». Wer nun sind eben die Bnuerngeschichten ebenso meilenweit von oberflächlicher oder verlogener Heiterkeit ivie von Brutalität entfernt. Es fehlt weder der Schmerz noch der Gedanke, eS fehlt anch nicht das tüchtige Streben nach ernsten Zielen — nur das; tapferer Frohsinn und frische Gesundheit immer wieder die wunder- volle Basis bilden. Es ist, als habe auch an den Björnson der Banerugeschichten die Botschaft gelautet: v. R. Grazia Deledda: Bis an die Grenze. München,VerlagderSüddeutschenMonntshefte. „Alle Politische Annäherung hat die tiefe Kluft zwischen romanischem und germanischem Geist nicht auszufüllen vermocht, und Italien erwidert die Zurückhaltung selbst der litera- rischen Kreise Deutschlands gegenüber seiner Literatur in bollein Maße. . ." So schrieb Paul Heyse 1904 im Vorwort zum fünften Bande seiner „Italienischen Dichter", und waS dieser größte lebende Mittler zwischen der italienischen und deutschen Dichtung damals meinte, dürfte — zum mindesten für Deutsch¬ land — auch heute noch volle Geltung haben. Die Kenntnis von der modernen italienischen Literatur beschränkt sich hier zumeist doch auf zwei Autoren, auf Ada Regri und Gabriele d'Aununzio. Jene ist eine ehrliche und be¬ deutende Dichterin, doch durch Parteifanatis¬ mus ins Enge gebannt, bei diesen: liegen Dichter und Jongleur in ewigem Streit, und wenn anch der Jongleur nicht immer der Stärkere ist, so vergiftet er doch immer das Zutrauen zur Aufrichtigkeit des Dichters. Da ist es denn verdienstvoll, eine ebenso um¬ fassende wie maßvolle und ehrliche Dichtung Grazia Deleddas den Deutschen zugänglich gemacht zu haben. Der Roman „Bis an die Grenze" zeichnet nur wenige Menschen, aber diese wenigen mit ungemeiner Schärfe, und hinter ihnen steht deutlich erkennbar ein ganzes Volk und mehr als das: eine der größten Erdenmächte, die katholische Kirche. „Der Mensch kann nicht leben ohne Freiheit oder die Hoffnung auf Freiheit." DaS in seiner Schlichtheit fast triviale Wort des Arztes Francesco Fais ist der Leitsatz der Dichtung, in der aber nur nichts von dem zu finden ist, was man als Konsegueuz dieser Meinung in ihr suchen könnte. Denn einmal ist dus Buch nicht fanatisch antiklerikal; es stellt neben den verbohrten Kleriker auch den sympathischen, eS berichtet nicht von übermüßigen geistlichen Schandtaten. Sodann, und darin liegt seine Originalität, malt es andere Wirkungen des übermäßigen klerikalen Druckes ans als die so oft und bis zum Überdruß oft beschriebenen. Grazia Deledda zeichnet keine Menschen, die unter diesem Joch verdumpfen, auch niclit eigentlich solche, die zu Frevlern werden, sondern solche, die durch die ausschließliche und zwangsweise Hinlenkung auf das Himm¬ lische den irdischen Boden unter den Füßen verliere!?, die freudlos und unnütz werden. Der junge Priester, der Gavina suus liebt und von ihr nicht aus Abneigung, sondern aus Furcht vor der Sünde zurückgewiesen wird, endet durch Selbstmord; die zu reli¬ giösen Verzückungen neigende Michela, bei der er Trost sucht, verfällt dem Wahnsinn; Gabina selber findet nur ganz zuletzt und allmählich aus solchen Gefahren den Weg ins Freie. Und nun ist es wunderschön, daß ihr Führer ins Leben, der Freigeist Francesco, den sie mehr aus Angst und Hilflosigkeit als aus Liebe heiratet, der mir langsam ihre Seele gewinnt, kein Mann der großen Worte und der Intoleranz ist. Er bekämpft nicht Gavinas religiöses Gefühl, er entwickelt ihr bei seiner Werbung anch kein Programm. Er weist sie uur auf das Leben hin, von dem sie sich in der Überspannung des Gottsuchens abgekehrt hat. „Wir brauchen nur ein wenig mit den anderen zu leben, unser Glück mit anderer Leid zu vergleichen und unser Leid mit anderer Glück! Und wir müssen zu begreifen, zu widerstehen suchen, in Gemeinschaft mit der Natur leben, sie bewundern und uns ihrer erfreuen, wenn sie schön ist, gegen sie ankämpfen, wenn sie uns feindlich ist, stolz sein, daß wir Menschen sind, glücklich, daß wir gesund sind, und zufrieden, wenn wir uns und anderen zu nützen vermögen.. ." R. O.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/143>, abgerufen am 26.05.2024.