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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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langem Suchen freudestrahlend irgendein
Erkenntnis finden, das ihnen, weil es ge¬
druckt ist, unumstößliche Wahrheit bedeutet
und, weil sie es zitieren können, jede Ver¬
antwortlichkeit nimmt. Und oftmals ist dann
noch obendrein dieser Fall, den sie irgendwo
"bereits entschieden"gefundcnhäben,beiderViel-
gcstoltigkeit der Tatbestände ein ganz anderer,
und die Entscheidung, an die sie sich nach
"dilettantischem HeruiustocheruamTatbestande"
freudig klammern, ist bei näherer Betrachtung
auf etwas ganz anderes abgestellt, oder --
um mit dem Reichsgericht in gelegentlicher
Sprachcntgleisung zu reden -- jener Fall ist
ganz anders "gelagert". -- Wenn man bei
wirklich zweifelhaften Fragen sich aus oberst-
richterlichcnEntscheidungcnAnhaltsPunktesuchen
will und es, wie gesagt, der Takt verlangt,
daß man in. bestrittenen Rechtsfragen nicht
ohne triftige Gründe von Grundsätzen abweicht,
die durch jahrelange Judikatur mehr oder
minder festgelegt sind, so ist dagegen nichts
einzuwenden; wenngleich es auch hier keinen
schönen Eindruck macht, wenn man unter
Verzicht auf jede Kritik sinnlos Gründe aus
Entscheidungen anderer Rechtsfälle abschreibt
oder wörtlich zitiert. Wenn aber jüngere und
ältere Juristen, wie es leider häufig der Fall
ist, von vornherein einen Versuch, selbst eine
Lösung zu finden, gar nicht wagen, sondern
in den EntscheidungSsammluugen stöbern, ob
sie nichtirgendeinausgefalleneS Präjudiz finden,
das diesen oder einen "ähnlichen" Fall
behandelt, anstatt ihren gesunden Menschen¬
verstand -- falls er noch vorhanden ist --
ein wenig arbeiten zu lassen, so ist das sehr
trostlos. Und wenn das Landgericht in
sich bei Entscheidung eines Falles auf ein
irgendwo unglücklicherweise veröffentlichtes
Urteil des Landgerichts U. beruft und dieses
gewissermaßen als Rechtsquelle zitiert, so spricht
es sich damit selber sein Urteil. Bei diesem
Verfahren hört natürlich jede wirkliche Recht¬
sprechung und -findung auf, und wir können
an Stelle wissenschaftlich vorgebildeter Juristen
Subalternbeamte setzen, die dann an der Hand
von Jahrbüchern und Entscheidungsscnnm-
luugen das Recht so anwenden wie die Unter¬
offiziere ihr Exerzierreglement.

Gott sei Dank ist die Zahl der Juristen,
ob beamtet oder nicht, die Prüjudizienkult

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treiben, einstweilen noch eine recht geringe,
wie ich annehmen Null. Allein es steht zu
befürchten, daß sie bei noch umfangreicherer
und noch leichter zu handhabender Veröffent¬
lichung von Entscheidungen (es fehlen noch
die Entscheidungen der Paar tausend Amts¬
gerichte) steigen wird. Und das allerdings
wäre entsetzlich. Da kann man denn vielleicht
auf den phantastischen Zukunftsgedanken
kommen, daß, ähnlich wie der alte Justinian
das Konnnentnrschreiben zu seinem Gesetz
untersagte,, einmal ein Reichsgesetz entsteht,
in dem die Veröffentlichung von Entscheidungen
deutscher Gerichte mit Ausnahme der amtlichen
Ausgaben von Entscheidungen der höchsten
Gerichte unter entsprechender Strafandrohung
verboten wird.

Dr. Baron v. Stempe
Schöne Literatur
Björnsoir:WcrdcuhohcuBergcn. Baueru-
geschichten. 2 Bände. Leipzig, F.W.Grunow.

Es ist nicht sehr gerecht, daß der Heraus¬
geber der Björnsonschen Banerngeschichten die
bisher erschienenen deutschen Ausgaben als
"unzulänglich" erklärt, zumal eS auch seiner
eigenen nicht um gelegentlichen Härten und
Flüchtigkeiten fehlt. Es ist zum mindesten
sehr unklug, "diese ersten Werke Björnsons
sein Bleibendes" im Gegensatz zu den
"späteren oft an der Moderne krankenden"
Schöpfungen zu nennen (weil, "was man
die Moderne zu nennen Pflegt, eine Mode¬
torheit ist, die vorübergehen wird wie alle
Moden"). AbernunUiergißtdie Entrüstung über
diese kleinen Entgleisungen, sobald man in
Björnsons Dichtungen selber eingedrungen
ist. Geschichten wie "der Falbe" oder die
"gefährliche Freierei" oder der "fröhliche
Bursch" sind so große Kunstwerke, daß sie
kräftigend wirken wie der Anblick einer
großen Natur selber. Björnson ist ein uner¬
schöpflicher Meister im Beschreiben des
Lachens. Wie Kinder lachen und wie alte
Leute, wie die, denen das Lachen eine übliche
Tätigkeit, und die, denen es nnr selten
kommt, das weiß er immer wieder auszu¬
malen. Und ein ebenso großer und viel¬
seitiger Meister ist er im Darstellen kräftiger
und doch im Grunde gemütlicher Prügeleien.
Es liegt eine Art Nibelungen-Freudigkeit in

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langem Suchen freudestrahlend irgendein
Erkenntnis finden, das ihnen, weil es ge¬
druckt ist, unumstößliche Wahrheit bedeutet
und, weil sie es zitieren können, jede Ver¬
antwortlichkeit nimmt. Und oftmals ist dann
noch obendrein dieser Fall, den sie irgendwo
„bereits entschieden"gefundcnhäben,beiderViel-
gcstoltigkeit der Tatbestände ein ganz anderer,
und die Entscheidung, an die sie sich nach
„dilettantischem HeruiustocheruamTatbestande"
freudig klammern, ist bei näherer Betrachtung
auf etwas ganz anderes abgestellt, oder —
um mit dem Reichsgericht in gelegentlicher
Sprachcntgleisung zu reden — jener Fall ist
ganz anders „gelagert". — Wenn man bei
wirklich zweifelhaften Fragen sich aus oberst-
richterlichcnEntscheidungcnAnhaltsPunktesuchen
will und es, wie gesagt, der Takt verlangt,
daß man in. bestrittenen Rechtsfragen nicht
ohne triftige Gründe von Grundsätzen abweicht,
die durch jahrelange Judikatur mehr oder
minder festgelegt sind, so ist dagegen nichts
einzuwenden; wenngleich es auch hier keinen
schönen Eindruck macht, wenn man unter
Verzicht auf jede Kritik sinnlos Gründe aus
Entscheidungen anderer Rechtsfälle abschreibt
oder wörtlich zitiert. Wenn aber jüngere und
ältere Juristen, wie es leider häufig der Fall
ist, von vornherein einen Versuch, selbst eine
Lösung zu finden, gar nicht wagen, sondern
in den EntscheidungSsammluugen stöbern, ob
sie nichtirgendeinausgefalleneS Präjudiz finden,
das diesen oder einen „ähnlichen" Fall
behandelt, anstatt ihren gesunden Menschen¬
verstand — falls er noch vorhanden ist —
ein wenig arbeiten zu lassen, so ist das sehr
trostlos. Und wenn das Landgericht in
sich bei Entscheidung eines Falles auf ein
irgendwo unglücklicherweise veröffentlichtes
Urteil des Landgerichts U. beruft und dieses
gewissermaßen als Rechtsquelle zitiert, so spricht
es sich damit selber sein Urteil. Bei diesem
Verfahren hört natürlich jede wirkliche Recht¬
sprechung und -findung auf, und wir können
an Stelle wissenschaftlich vorgebildeter Juristen
Subalternbeamte setzen, die dann an der Hand
von Jahrbüchern und Entscheidungsscnnm-
luugen das Recht so anwenden wie die Unter¬
offiziere ihr Exerzierreglement.

Gott sei Dank ist die Zahl der Juristen,
ob beamtet oder nicht, die Prüjudizienkult

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treiben, einstweilen noch eine recht geringe,
wie ich annehmen Null. Allein es steht zu
befürchten, daß sie bei noch umfangreicherer
und noch leichter zu handhabender Veröffent¬
lichung von Entscheidungen (es fehlen noch
die Entscheidungen der Paar tausend Amts¬
gerichte) steigen wird. Und das allerdings
wäre entsetzlich. Da kann man denn vielleicht
auf den phantastischen Zukunftsgedanken
kommen, daß, ähnlich wie der alte Justinian
das Konnnentnrschreiben zu seinem Gesetz
untersagte,, einmal ein Reichsgesetz entsteht,
in dem die Veröffentlichung von Entscheidungen
deutscher Gerichte mit Ausnahme der amtlichen
Ausgaben von Entscheidungen der höchsten
Gerichte unter entsprechender Strafandrohung
verboten wird.

Dr. Baron v. Stempe
Schöne Literatur
Björnsoir:WcrdcuhohcuBergcn. Baueru-
geschichten. 2 Bände. Leipzig, F.W.Grunow.

Es ist nicht sehr gerecht, daß der Heraus¬
geber der Björnsonschen Banerngeschichten die
bisher erschienenen deutschen Ausgaben als
„unzulänglich" erklärt, zumal eS auch seiner
eigenen nicht um gelegentlichen Härten und
Flüchtigkeiten fehlt. Es ist zum mindesten
sehr unklug, „diese ersten Werke Björnsons
sein Bleibendes" im Gegensatz zu den
„späteren oft an der Moderne krankenden"
Schöpfungen zu nennen (weil, „was man
die Moderne zu nennen Pflegt, eine Mode¬
torheit ist, die vorübergehen wird wie alle
Moden"). AbernunUiergißtdie Entrüstung über
diese kleinen Entgleisungen, sobald man in
Björnsons Dichtungen selber eingedrungen
ist. Geschichten wie „der Falbe" oder die
„gefährliche Freierei" oder der „fröhliche
Bursch" sind so große Kunstwerke, daß sie
kräftigend wirken wie der Anblick einer
großen Natur selber. Björnson ist ein uner¬
schöpflicher Meister im Beschreiben des
Lachens. Wie Kinder lachen und wie alte
Leute, wie die, denen das Lachen eine übliche
Tätigkeit, und die, denen es nnr selten
kommt, das weiß er immer wieder auszu¬
malen. Und ein ebenso großer und viel¬
seitiger Meister ist er im Darstellen kräftiger
und doch im Grunde gemütlicher Prügeleien.
Es liegt eine Art Nibelungen-Freudigkeit in

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[0142] Maßgebliches und Unmaßgebliches langem Suchen freudestrahlend irgendein Erkenntnis finden, das ihnen, weil es ge¬ druckt ist, unumstößliche Wahrheit bedeutet und, weil sie es zitieren können, jede Ver¬ antwortlichkeit nimmt. Und oftmals ist dann noch obendrein dieser Fall, den sie irgendwo „bereits entschieden"gefundcnhäben,beiderViel- gcstoltigkeit der Tatbestände ein ganz anderer, und die Entscheidung, an die sie sich nach „dilettantischem HeruiustocheruamTatbestande" freudig klammern, ist bei näherer Betrachtung auf etwas ganz anderes abgestellt, oder — um mit dem Reichsgericht in gelegentlicher Sprachcntgleisung zu reden — jener Fall ist ganz anders „gelagert". — Wenn man bei wirklich zweifelhaften Fragen sich aus oberst- richterlichcnEntscheidungcnAnhaltsPunktesuchen will und es, wie gesagt, der Takt verlangt, daß man in. bestrittenen Rechtsfragen nicht ohne triftige Gründe von Grundsätzen abweicht, die durch jahrelange Judikatur mehr oder minder festgelegt sind, so ist dagegen nichts einzuwenden; wenngleich es auch hier keinen schönen Eindruck macht, wenn man unter Verzicht auf jede Kritik sinnlos Gründe aus Entscheidungen anderer Rechtsfälle abschreibt oder wörtlich zitiert. Wenn aber jüngere und ältere Juristen, wie es leider häufig der Fall ist, von vornherein einen Versuch, selbst eine Lösung zu finden, gar nicht wagen, sondern in den EntscheidungSsammluugen stöbern, ob sie nichtirgendeinausgefalleneS Präjudiz finden, das diesen oder einen „ähnlichen" Fall behandelt, anstatt ihren gesunden Menschen¬ verstand — falls er noch vorhanden ist — ein wenig arbeiten zu lassen, so ist das sehr trostlos. Und wenn das Landgericht in sich bei Entscheidung eines Falles auf ein irgendwo unglücklicherweise veröffentlichtes Urteil des Landgerichts U. beruft und dieses gewissermaßen als Rechtsquelle zitiert, so spricht es sich damit selber sein Urteil. Bei diesem Verfahren hört natürlich jede wirkliche Recht¬ sprechung und -findung auf, und wir können an Stelle wissenschaftlich vorgebildeter Juristen Subalternbeamte setzen, die dann an der Hand von Jahrbüchern und Entscheidungsscnnm- luugen das Recht so anwenden wie die Unter¬ offiziere ihr Exerzierreglement. Gott sei Dank ist die Zahl der Juristen, ob beamtet oder nicht, die Prüjudizienkult treiben, einstweilen noch eine recht geringe, wie ich annehmen Null. Allein es steht zu befürchten, daß sie bei noch umfangreicherer und noch leichter zu handhabender Veröffent¬ lichung von Entscheidungen (es fehlen noch die Entscheidungen der Paar tausend Amts¬ gerichte) steigen wird. Und das allerdings wäre entsetzlich. Da kann man denn vielleicht auf den phantastischen Zukunftsgedanken kommen, daß, ähnlich wie der alte Justinian das Konnnentnrschreiben zu seinem Gesetz untersagte,, einmal ein Reichsgesetz entsteht, in dem die Veröffentlichung von Entscheidungen deutscher Gerichte mit Ausnahme der amtlichen Ausgaben von Entscheidungen der höchsten Gerichte unter entsprechender Strafandrohung verboten wird. Dr. Baron v. Stempe Schöne Literatur Björnsoir:WcrdcuhohcuBergcn. Baueru- geschichten. 2 Bände. Leipzig, F.W.Grunow. Es ist nicht sehr gerecht, daß der Heraus¬ geber der Björnsonschen Banerngeschichten die bisher erschienenen deutschen Ausgaben als „unzulänglich" erklärt, zumal eS auch seiner eigenen nicht um gelegentlichen Härten und Flüchtigkeiten fehlt. Es ist zum mindesten sehr unklug, „diese ersten Werke Björnsons sein Bleibendes" im Gegensatz zu den „späteren oft an der Moderne krankenden" Schöpfungen zu nennen (weil, „was man die Moderne zu nennen Pflegt, eine Mode¬ torheit ist, die vorübergehen wird wie alle Moden"). AbernunUiergißtdie Entrüstung über diese kleinen Entgleisungen, sobald man in Björnsons Dichtungen selber eingedrungen ist. Geschichten wie „der Falbe" oder die „gefährliche Freierei" oder der „fröhliche Bursch" sind so große Kunstwerke, daß sie kräftigend wirken wie der Anblick einer großen Natur selber. Björnson ist ein uner¬ schöpflicher Meister im Beschreiben des Lachens. Wie Kinder lachen und wie alte Leute, wie die, denen das Lachen eine übliche Tätigkeit, und die, denen es nnr selten kommt, das weiß er immer wieder auszu¬ malen. Und ein ebenso großer und viel¬ seitiger Meister ist er im Darstellen kräftiger und doch im Grunde gemütlicher Prügeleien. Es liegt eine Art Nibelungen-Freudigkeit in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/142>, abgerufen am 17.06.2024.