Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Exotische Musik

Exotische Musik
von Dr. Lrich Fischer

or etwas mehr als zwei Jahren erregte die Ausstellung einer
größeren Sammlung chinesischer Gemälde in der Königlichen Aka¬
demie der Künste zu Berlin erhebliches Aufsehen. Das Laien¬
publikum zwar betrachtete die exotischen Kunstwerke bis auf wenige
Ausnahmen mit leisem Unbehagen; aber die Mehrzahl der Künstler
und Kritiker war von ehrlicher Begeisterung ergriffen. In den Besprechungen
der Ausstellung wurde vielfach darauf hingewiesen, welchen Nutzen unsere Kunst
aus der ostasiatischen ziehen könne und wie bestimmend diese auch bereits auf
die europäische Malerei eingewirkt habe.

Wenn es demnach scheint, als ob die bildenden Künste der Chinesen für
uns verständlich und wertvoll sein können, so müßte man vermuten, daß wir
auch deren höchste und vornehmste Kunst, die Musik, in ihrer von chinesischen
Dichtern und Gelehrten so oft und überschwänglich gepriesenen Schönheit bei
eingehenderen Studium zu begreifen oder wenigstens zu ahnen imstande wären.
Das trifft in der Regel aber keineswegs zu. Wohl ist hin und wieder eine
chinesische Melodie von einem unserer Komponisten verwendet worden, aber es
handelt sich dabei lediglich um den Versuch, dem poetischen Vorwurf, der irgendwie
auf China Bezug nimmt, auch ethnographisch gerecht zu werden. Daß solchen
musikethnographischen Zitaten nur ein geringer künstlerischer Wert beizumessen
ist, hat neben anderen Karl Maria v. Weber offen bekannt, dessen "Turandot"-
Ouvertüre mit ihrem Hauptthema, das dem I. I. Rousseauschen "Oietionnaire
c!e musiczue" entnommen ist, eines der ältesten und bekanntesten Beispiele bildet.

Daß uns die Musik der exotischen Kulturen, besonders Chinas, so unver¬
ständlich, oft sogar widerwärtig und absurd ("bizarr" nenntWeber seine "Turcmdot"-
Melodie) erscheint, liegt nun offenbar daran, daß in ihr vielfach ganz andere
formale Momente wesentlich sind als in unserer Tonkunst. Aber auch das
Material stimmt mit dem unserigen durchaus nicht immer überein. So finden
sich bei manchen orientalischen Kulturvölkern Tonsysteme, die von dem heutigen
europäischen grundverschieden sind.

Diese für die Musikwissenschaft und besonders für die Tonpsychologie höchst
bedeutsame Tatsache ist erst seit kurzer Zeit bekannt. Vor fünfundzwanzig Jahren
galt die heute noch weit verbreitete Annahme, daß unser Tonsystem das einzig
mögliche, daß es naturnotwendig entstanden sei, als selbstverständliche Tatsache.
Die Unrichtigkeit dieser Meinung wurde im Jahre 1885 durch Alex. I. Ellis
nachgewiesen, der in seiner Arbeit: "0n elle museal 8Laich ot parvus nations"
unter anderem mittels äußerst sorgfältiger Tonmessungen an fremdländischen Instru¬
menten feststellte, daß die Siamesen die Oktave in sieben Stufen einteilen, aber
nicht in Halb- und Ganztöne wie wir, sondern in Töne von stets gleichem


Grenzboten II 1911 34
Exotische Musik

Exotische Musik
von Dr. Lrich Fischer

or etwas mehr als zwei Jahren erregte die Ausstellung einer
größeren Sammlung chinesischer Gemälde in der Königlichen Aka¬
demie der Künste zu Berlin erhebliches Aufsehen. Das Laien¬
publikum zwar betrachtete die exotischen Kunstwerke bis auf wenige
Ausnahmen mit leisem Unbehagen; aber die Mehrzahl der Künstler
und Kritiker war von ehrlicher Begeisterung ergriffen. In den Besprechungen
der Ausstellung wurde vielfach darauf hingewiesen, welchen Nutzen unsere Kunst
aus der ostasiatischen ziehen könne und wie bestimmend diese auch bereits auf
die europäische Malerei eingewirkt habe.

Wenn es demnach scheint, als ob die bildenden Künste der Chinesen für
uns verständlich und wertvoll sein können, so müßte man vermuten, daß wir
auch deren höchste und vornehmste Kunst, die Musik, in ihrer von chinesischen
Dichtern und Gelehrten so oft und überschwänglich gepriesenen Schönheit bei
eingehenderen Studium zu begreifen oder wenigstens zu ahnen imstande wären.
Das trifft in der Regel aber keineswegs zu. Wohl ist hin und wieder eine
chinesische Melodie von einem unserer Komponisten verwendet worden, aber es
handelt sich dabei lediglich um den Versuch, dem poetischen Vorwurf, der irgendwie
auf China Bezug nimmt, auch ethnographisch gerecht zu werden. Daß solchen
musikethnographischen Zitaten nur ein geringer künstlerischer Wert beizumessen
ist, hat neben anderen Karl Maria v. Weber offen bekannt, dessen „Turandot"-
Ouvertüre mit ihrem Hauptthema, das dem I. I. Rousseauschen „Oietionnaire
c!e musiczue" entnommen ist, eines der ältesten und bekanntesten Beispiele bildet.

Daß uns die Musik der exotischen Kulturen, besonders Chinas, so unver¬
ständlich, oft sogar widerwärtig und absurd („bizarr" nenntWeber seine „Turcmdot"-
Melodie) erscheint, liegt nun offenbar daran, daß in ihr vielfach ganz andere
formale Momente wesentlich sind als in unserer Tonkunst. Aber auch das
Material stimmt mit dem unserigen durchaus nicht immer überein. So finden
sich bei manchen orientalischen Kulturvölkern Tonsysteme, die von dem heutigen
europäischen grundverschieden sind.

Diese für die Musikwissenschaft und besonders für die Tonpsychologie höchst
bedeutsame Tatsache ist erst seit kurzer Zeit bekannt. Vor fünfundzwanzig Jahren
galt die heute noch weit verbreitete Annahme, daß unser Tonsystem das einzig
mögliche, daß es naturnotwendig entstanden sei, als selbstverständliche Tatsache.
Die Unrichtigkeit dieser Meinung wurde im Jahre 1885 durch Alex. I. Ellis
nachgewiesen, der in seiner Arbeit: „0n elle museal 8Laich ot parvus nations«
unter anderem mittels äußerst sorgfältiger Tonmessungen an fremdländischen Instru¬
menten feststellte, daß die Siamesen die Oktave in sieben Stufen einteilen, aber
nicht in Halb- und Ganztöne wie wir, sondern in Töne von stets gleichem


Grenzboten II 1911 34
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318560"/>
          <fw type="header" place="top"> Exotische Musik</fw><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Exotische Musik<lb/><note type="byline"> von Dr. Lrich Fischer</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_1326"> or etwas mehr als zwei Jahren erregte die Ausstellung einer<lb/>
größeren Sammlung chinesischer Gemälde in der Königlichen Aka¬<lb/>
demie der Künste zu Berlin erhebliches Aufsehen. Das Laien¬<lb/>
publikum zwar betrachtete die exotischen Kunstwerke bis auf wenige<lb/>
Ausnahmen mit leisem Unbehagen; aber die Mehrzahl der Künstler<lb/>
und Kritiker war von ehrlicher Begeisterung ergriffen. In den Besprechungen<lb/>
der Ausstellung wurde vielfach darauf hingewiesen, welchen Nutzen unsere Kunst<lb/>
aus der ostasiatischen ziehen könne und wie bestimmend diese auch bereits auf<lb/>
die europäische Malerei eingewirkt habe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1327"> Wenn es demnach scheint, als ob die bildenden Künste der Chinesen für<lb/>
uns verständlich und wertvoll sein können, so müßte man vermuten, daß wir<lb/>
auch deren höchste und vornehmste Kunst, die Musik, in ihrer von chinesischen<lb/>
Dichtern und Gelehrten so oft und überschwänglich gepriesenen Schönheit bei<lb/>
eingehenderen Studium zu begreifen oder wenigstens zu ahnen imstande wären.<lb/>
Das trifft in der Regel aber keineswegs zu. Wohl ist hin und wieder eine<lb/>
chinesische Melodie von einem unserer Komponisten verwendet worden, aber es<lb/>
handelt sich dabei lediglich um den Versuch, dem poetischen Vorwurf, der irgendwie<lb/>
auf China Bezug nimmt, auch ethnographisch gerecht zu werden. Daß solchen<lb/>
musikethnographischen Zitaten nur ein geringer künstlerischer Wert beizumessen<lb/>
ist, hat neben anderen Karl Maria v. Weber offen bekannt, dessen &#x201E;Turandot"-<lb/>
Ouvertüre mit ihrem Hauptthema, das dem I. I. Rousseauschen &#x201E;Oietionnaire<lb/>
c!e musiczue" entnommen ist, eines der ältesten und bekanntesten Beispiele bildet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1328"> Daß uns die Musik der exotischen Kulturen, besonders Chinas, so unver¬<lb/>
ständlich, oft sogar widerwärtig und absurd (&#x201E;bizarr" nenntWeber seine &#x201E;Turcmdot"-<lb/>
Melodie) erscheint, liegt nun offenbar daran, daß in ihr vielfach ganz andere<lb/>
formale Momente wesentlich sind als in unserer Tonkunst. Aber auch das<lb/>
Material stimmt mit dem unserigen durchaus nicht immer überein. So finden<lb/>
sich bei manchen orientalischen Kulturvölkern Tonsysteme, die von dem heutigen<lb/>
europäischen grundverschieden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1329" next="#ID_1330"> Diese für die Musikwissenschaft und besonders für die Tonpsychologie höchst<lb/>
bedeutsame Tatsache ist erst seit kurzer Zeit bekannt. Vor fünfundzwanzig Jahren<lb/>
galt die heute noch weit verbreitete Annahme, daß unser Tonsystem das einzig<lb/>
mögliche, daß es naturnotwendig entstanden sei, als selbstverständliche Tatsache.<lb/>
Die Unrichtigkeit dieser Meinung wurde im Jahre 1885 durch Alex. I. Ellis<lb/>
nachgewiesen, der in seiner Arbeit: &#x201E;0n elle museal 8Laich ot parvus nations«<lb/>
unter anderem mittels äußerst sorgfältiger Tonmessungen an fremdländischen Instru¬<lb/>
menten feststellte, daß die Siamesen die Oktave in sieben Stufen einteilen, aber<lb/>
nicht in Halb- und Ganztöne wie wir, sondern in Töne von stets gleichem</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1911 34</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Exotische Musik Exotische Musik von Dr. Lrich Fischer or etwas mehr als zwei Jahren erregte die Ausstellung einer größeren Sammlung chinesischer Gemälde in der Königlichen Aka¬ demie der Künste zu Berlin erhebliches Aufsehen. Das Laien¬ publikum zwar betrachtete die exotischen Kunstwerke bis auf wenige Ausnahmen mit leisem Unbehagen; aber die Mehrzahl der Künstler und Kritiker war von ehrlicher Begeisterung ergriffen. In den Besprechungen der Ausstellung wurde vielfach darauf hingewiesen, welchen Nutzen unsere Kunst aus der ostasiatischen ziehen könne und wie bestimmend diese auch bereits auf die europäische Malerei eingewirkt habe. Wenn es demnach scheint, als ob die bildenden Künste der Chinesen für uns verständlich und wertvoll sein können, so müßte man vermuten, daß wir auch deren höchste und vornehmste Kunst, die Musik, in ihrer von chinesischen Dichtern und Gelehrten so oft und überschwänglich gepriesenen Schönheit bei eingehenderen Studium zu begreifen oder wenigstens zu ahnen imstande wären. Das trifft in der Regel aber keineswegs zu. Wohl ist hin und wieder eine chinesische Melodie von einem unserer Komponisten verwendet worden, aber es handelt sich dabei lediglich um den Versuch, dem poetischen Vorwurf, der irgendwie auf China Bezug nimmt, auch ethnographisch gerecht zu werden. Daß solchen musikethnographischen Zitaten nur ein geringer künstlerischer Wert beizumessen ist, hat neben anderen Karl Maria v. Weber offen bekannt, dessen „Turandot"- Ouvertüre mit ihrem Hauptthema, das dem I. I. Rousseauschen „Oietionnaire c!e musiczue" entnommen ist, eines der ältesten und bekanntesten Beispiele bildet. Daß uns die Musik der exotischen Kulturen, besonders Chinas, so unver¬ ständlich, oft sogar widerwärtig und absurd („bizarr" nenntWeber seine „Turcmdot"- Melodie) erscheint, liegt nun offenbar daran, daß in ihr vielfach ganz andere formale Momente wesentlich sind als in unserer Tonkunst. Aber auch das Material stimmt mit dem unserigen durchaus nicht immer überein. So finden sich bei manchen orientalischen Kulturvölkern Tonsysteme, die von dem heutigen europäischen grundverschieden sind. Diese für die Musikwissenschaft und besonders für die Tonpsychologie höchst bedeutsame Tatsache ist erst seit kurzer Zeit bekannt. Vor fünfundzwanzig Jahren galt die heute noch weit verbreitete Annahme, daß unser Tonsystem das einzig mögliche, daß es naturnotwendig entstanden sei, als selbstverständliche Tatsache. Die Unrichtigkeit dieser Meinung wurde im Jahre 1885 durch Alex. I. Ellis nachgewiesen, der in seiner Arbeit: „0n elle museal 8Laich ot parvus nations« unter anderem mittels äußerst sorgfältiger Tonmessungen an fremdländischen Instru¬ menten feststellte, daß die Siamesen die Oktave in sieben Stufen einteilen, aber nicht in Halb- und Ganztöne wie wir, sondern in Töne von stets gleichem Grenzboten II 1911 34

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/277>, abgerufen am 26.05.2024.