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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Exotische Musik

Abstand. Ein solcher Tonschritt ist kleiner als unser Ganzton und größer als
unser Halbton, und von den Intervallen, die sich in dieser Tonleiter bilden
lassen, stimmt keines außer der Oktave mit irgendeinem der unseligen überein.
Dieser höchst merkwürdige Befund wurde später durch Carl Stumpfs ausführliche
Abhandlung über das Tonsystem und die Musik der Siamesen (1901) voll¬
kommen bestätigt.

Die Phonogramme, die Stumpf und Abraham von der in Berlin gastierenden
Siamesentruppe im Jahre 1900 aufgenommen hatten, lieferten bei ihrer näheren
Untersuchung den eklatanten Nachweis, wie viel außerordentlich Interessantes in
der exotischen Musik noch verborgen ist.

Daß die Wissenschaft früher an diesem Gebiet stets vorübergegangen war,
hatte seinen triftigen Grund darin, daß es an jedem zuverlässigen Mittel fehlte,
die musikalischen Äußerungen der fremden Völker mit all ihren charakteristischen
Besonderheiten zu fixieren. Dieser Mangel wurde nun durch die Erfindung des
Phonographen vollständig behoben. Denn so unzulänglich die Produktionen
dieses Apparates vorläufig noch vom künstlerischen Standpunkt sind, erfüllt er
doch die wichtigsten Anforderungen, die der Musikethnologe an ihn stellt: er
verzeichnet die absoluten Tonhöhen ebenso genau wie die Vortragsweise des
Sängers oder Spielers, wenn nur die Töne laut genug sind für seine etwas
schwerhörige Membran.

Die ersten Phonogramme von exotischer Musik lieferte Dr. W. Fewkes,
der im Jahre 1890 Gesänge der nordamerikanischen Zum-Jndianer aufnahm.
Das Verdienst aber, die Erforschung der exotischen Musik zu einer selbständigen
Wissenschaft gemacht zu haben, gebührt Stunipf, der zusammen mit Dr. O. Abraham
und Dr. E. M. v. Hornbostel das Berliner Phonogramm-Archiv gründete und
damit eine speziell musikalischen Studien dienende Materialsammlung anlegte.

"Jeder Reisende in einem noch wenig erforschten Gebiet sollte mit einem
phonographischen Apparat ausgerüstet sein und möglichst viele Musikstücke und
Gesänge aufnehmen." So beginnt das Jnstruktionsbüchlein, das im Auftrag
des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin vom Phonogramm-Archiv
ausgearbeitet wurde und Forschungsreisenden, Missionaren, Offizieren der Schutz¬
truppe u. a. nebst einer phonographischen Ausrüstung mitgegeben wird. Dank
dieser Einrichtung hat sich während des letzten Dezenniums der Bestand des
Archivs von dreißig auf dreitausend Walzen vermehrt. Alle Weltteile sind
musikalisch vertreten. Grönländische Eskimolieder finden sich hier neben pata-
gonischen Gesängen; aus Tunis wie aus Transvaal sind Aufnahmen
vorhanden, aus Finnland wie aus Ostturkestan, aus Sumatra wie von
den Salomoninseln. Aber auch von wendischen Bewohnern des Spreewaldes
und von berühmten Jodelkünstlern der Schweiz beherbergt das Archiv etliche
Phonogramme.

An Hand eines so reichen Materiales läßt sich die vergleichende Musik¬
wissenschaft ganz systematisch betreiben. Diese Disziplin besteht nun aber nicht


Exotische Musik

Abstand. Ein solcher Tonschritt ist kleiner als unser Ganzton und größer als
unser Halbton, und von den Intervallen, die sich in dieser Tonleiter bilden
lassen, stimmt keines außer der Oktave mit irgendeinem der unseligen überein.
Dieser höchst merkwürdige Befund wurde später durch Carl Stumpfs ausführliche
Abhandlung über das Tonsystem und die Musik der Siamesen (1901) voll¬
kommen bestätigt.

Die Phonogramme, die Stumpf und Abraham von der in Berlin gastierenden
Siamesentruppe im Jahre 1900 aufgenommen hatten, lieferten bei ihrer näheren
Untersuchung den eklatanten Nachweis, wie viel außerordentlich Interessantes in
der exotischen Musik noch verborgen ist.

Daß die Wissenschaft früher an diesem Gebiet stets vorübergegangen war,
hatte seinen triftigen Grund darin, daß es an jedem zuverlässigen Mittel fehlte,
die musikalischen Äußerungen der fremden Völker mit all ihren charakteristischen
Besonderheiten zu fixieren. Dieser Mangel wurde nun durch die Erfindung des
Phonographen vollständig behoben. Denn so unzulänglich die Produktionen
dieses Apparates vorläufig noch vom künstlerischen Standpunkt sind, erfüllt er
doch die wichtigsten Anforderungen, die der Musikethnologe an ihn stellt: er
verzeichnet die absoluten Tonhöhen ebenso genau wie die Vortragsweise des
Sängers oder Spielers, wenn nur die Töne laut genug sind für seine etwas
schwerhörige Membran.

Die ersten Phonogramme von exotischer Musik lieferte Dr. W. Fewkes,
der im Jahre 1890 Gesänge der nordamerikanischen Zum-Jndianer aufnahm.
Das Verdienst aber, die Erforschung der exotischen Musik zu einer selbständigen
Wissenschaft gemacht zu haben, gebührt Stunipf, der zusammen mit Dr. O. Abraham
und Dr. E. M. v. Hornbostel das Berliner Phonogramm-Archiv gründete und
damit eine speziell musikalischen Studien dienende Materialsammlung anlegte.

„Jeder Reisende in einem noch wenig erforschten Gebiet sollte mit einem
phonographischen Apparat ausgerüstet sein und möglichst viele Musikstücke und
Gesänge aufnehmen." So beginnt das Jnstruktionsbüchlein, das im Auftrag
des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin vom Phonogramm-Archiv
ausgearbeitet wurde und Forschungsreisenden, Missionaren, Offizieren der Schutz¬
truppe u. a. nebst einer phonographischen Ausrüstung mitgegeben wird. Dank
dieser Einrichtung hat sich während des letzten Dezenniums der Bestand des
Archivs von dreißig auf dreitausend Walzen vermehrt. Alle Weltteile sind
musikalisch vertreten. Grönländische Eskimolieder finden sich hier neben pata-
gonischen Gesängen; aus Tunis wie aus Transvaal sind Aufnahmen
vorhanden, aus Finnland wie aus Ostturkestan, aus Sumatra wie von
den Salomoninseln. Aber auch von wendischen Bewohnern des Spreewaldes
und von berühmten Jodelkünstlern der Schweiz beherbergt das Archiv etliche
Phonogramme.

An Hand eines so reichen Materiales läßt sich die vergleichende Musik¬
wissenschaft ganz systematisch betreiben. Diese Disziplin besteht nun aber nicht


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[0278] Exotische Musik Abstand. Ein solcher Tonschritt ist kleiner als unser Ganzton und größer als unser Halbton, und von den Intervallen, die sich in dieser Tonleiter bilden lassen, stimmt keines außer der Oktave mit irgendeinem der unseligen überein. Dieser höchst merkwürdige Befund wurde später durch Carl Stumpfs ausführliche Abhandlung über das Tonsystem und die Musik der Siamesen (1901) voll¬ kommen bestätigt. Die Phonogramme, die Stumpf und Abraham von der in Berlin gastierenden Siamesentruppe im Jahre 1900 aufgenommen hatten, lieferten bei ihrer näheren Untersuchung den eklatanten Nachweis, wie viel außerordentlich Interessantes in der exotischen Musik noch verborgen ist. Daß die Wissenschaft früher an diesem Gebiet stets vorübergegangen war, hatte seinen triftigen Grund darin, daß es an jedem zuverlässigen Mittel fehlte, die musikalischen Äußerungen der fremden Völker mit all ihren charakteristischen Besonderheiten zu fixieren. Dieser Mangel wurde nun durch die Erfindung des Phonographen vollständig behoben. Denn so unzulänglich die Produktionen dieses Apparates vorläufig noch vom künstlerischen Standpunkt sind, erfüllt er doch die wichtigsten Anforderungen, die der Musikethnologe an ihn stellt: er verzeichnet die absoluten Tonhöhen ebenso genau wie die Vortragsweise des Sängers oder Spielers, wenn nur die Töne laut genug sind für seine etwas schwerhörige Membran. Die ersten Phonogramme von exotischer Musik lieferte Dr. W. Fewkes, der im Jahre 1890 Gesänge der nordamerikanischen Zum-Jndianer aufnahm. Das Verdienst aber, die Erforschung der exotischen Musik zu einer selbständigen Wissenschaft gemacht zu haben, gebührt Stunipf, der zusammen mit Dr. O. Abraham und Dr. E. M. v. Hornbostel das Berliner Phonogramm-Archiv gründete und damit eine speziell musikalischen Studien dienende Materialsammlung anlegte. „Jeder Reisende in einem noch wenig erforschten Gebiet sollte mit einem phonographischen Apparat ausgerüstet sein und möglichst viele Musikstücke und Gesänge aufnehmen." So beginnt das Jnstruktionsbüchlein, das im Auftrag des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin vom Phonogramm-Archiv ausgearbeitet wurde und Forschungsreisenden, Missionaren, Offizieren der Schutz¬ truppe u. a. nebst einer phonographischen Ausrüstung mitgegeben wird. Dank dieser Einrichtung hat sich während des letzten Dezenniums der Bestand des Archivs von dreißig auf dreitausend Walzen vermehrt. Alle Weltteile sind musikalisch vertreten. Grönländische Eskimolieder finden sich hier neben pata- gonischen Gesängen; aus Tunis wie aus Transvaal sind Aufnahmen vorhanden, aus Finnland wie aus Ostturkestan, aus Sumatra wie von den Salomoninseln. Aber auch von wendischen Bewohnern des Spreewaldes und von berühmten Jodelkünstlern der Schweiz beherbergt das Archiv etliche Phonogramme. An Hand eines so reichen Materiales läßt sich die vergleichende Musik¬ wissenschaft ganz systematisch betreiben. Diese Disziplin besteht nun aber nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/278>, abgerufen am 17.06.2024.