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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Innere Politik

Scheidungen und Klärungen -- Rötger kontra Rieszer -- Nationallibernle, Konser¬
vative und Hansabund -- Dos Urteil des SpruchkoltegimuS -- Kritische Verhältnisse
in der evangelischen Landeskirche

Einige Gewitterbildungen, die schon lange über dein deutschen Parteileben
lasteten, haben während der abgelaufenen Woche zur Entladung geführt. Der
Austritt des Herrn Rötger aus dem Präsidium des Hansabundes und die
Desavouierimg des Grafen Schwerin-Lowitz durch die konservative parteiamtliche
Presse dürften endlich zur Scheidung der Geister und zur Klärung inner¬
halb der großen Parteien führen. Ein abschließendes Urteil über die mutma߬
lichen Folgen für die Parteien und deren Aufmarsch zu den Wahlen ist in¬
dessen heute noch nicht zu gewinnen. Das Urteil über die weitere Entwicklung
des Hansabundes wird von der Zahl und der Macht der Gefolgschaft Nießers
abhängen und davon, ob die offene Abkehr Rötgers und damit des Zentml-
vcrbandes deutscher Industrieller deu Aufgaben, die der Hansabund sich zu lösen
vorgenommen hat, förderlich oder schädlich ist. Einstweilen sind Herrn Rieszer
zwar schon zahlreiche Vertranensbckundnngen zugegangen, einen klaren Überblick
darf man aber wohl nicht vor Ende der kommenden Woche erwarten, wenn die
für Mittwoch anberaumte Vorstandssitzung des Bundes beschlossen haben wird.
Rein theoretisch betrachtet, sollte mau Herrn Rieszer zu der Wandlung Glück
wünschen, denu nun wird wohl endlich eine einheitliche Leitung des Hausabnndes
möglich sein, und unbeirrte, zielbewußte Führung vermag bekanntlich manche
sonstige Mängel wieder auszugleichen.

Freilich ist auch hier Vorsicht in der Beurteilung der Lage geboten. Nicht
ohne gewisse Bedeutung für die fernere Entwicklung wird die Stellung der
nationalliberalen Partei zu den nettesten Vorgängen im Hansnbunde sein.
Die jüngere Richtung hält es mit Rießer, die ältere nimmt nur zu gern Rücksicht
auf die Stimmung bei den Konservative" -- dies um so mehr, als gerade !u den
letzten Tagen vou konservativer Seite sich seit langer Zeit wieder die ersten
Zeichen einer friedfertigen Gesinnung gegenüber den bürgerlichen Parteien der
Linken bemerkbar gemacht haben. Die Wahlrede des Neichstngspräsidenten und
konservativen Abgeordneten Grafen Schwerin-Löwih zeugt von dein
Wunsche nach Verständigung mit den Nationalliberalen, wenn es heißt: "Ich
habe bei meinen Ausführungen im Oktober vorigen Jahres über die national¬
liberale Partei besonders hervorgehoben, daß ich deren gegenwärtige Politik
gerade deshalb so tief bedauere, weil ich eine starke wirklich natioualliberale
Partei nicht nur für berechtigt und erwünscht, sondern in jedem gesunden
konstitutionellen Staatswesen, auch in dem unserigen, geradezu für notwendig
und unentbehrlich halte, damit innerhalb der gegebenen verfassungsmäßigen
Grenzen sowohl die mehr konservativen als auch die mehr liberalen Grund-


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Scheidungen und Klärungen — Rötger kontra Rieszer — Nationallibernle, Konser¬
vative und Hansabund — Dos Urteil des SpruchkoltegimuS — Kritische Verhältnisse
in der evangelischen Landeskirche

Einige Gewitterbildungen, die schon lange über dein deutschen Parteileben
lasteten, haben während der abgelaufenen Woche zur Entladung geführt. Der
Austritt des Herrn Rötger aus dem Präsidium des Hansabundes und die
Desavouierimg des Grafen Schwerin-Lowitz durch die konservative parteiamtliche
Presse dürften endlich zur Scheidung der Geister und zur Klärung inner¬
halb der großen Parteien führen. Ein abschließendes Urteil über die mutma߬
lichen Folgen für die Parteien und deren Aufmarsch zu den Wahlen ist in¬
dessen heute noch nicht zu gewinnen. Das Urteil über die weitere Entwicklung
des Hansabundes wird von der Zahl und der Macht der Gefolgschaft Nießers
abhängen und davon, ob die offene Abkehr Rötgers und damit des Zentml-
vcrbandes deutscher Industrieller deu Aufgaben, die der Hansabund sich zu lösen
vorgenommen hat, förderlich oder schädlich ist. Einstweilen sind Herrn Rieszer
zwar schon zahlreiche Vertranensbckundnngen zugegangen, einen klaren Überblick
darf man aber wohl nicht vor Ende der kommenden Woche erwarten, wenn die
für Mittwoch anberaumte Vorstandssitzung des Bundes beschlossen haben wird.
Rein theoretisch betrachtet, sollte mau Herrn Rieszer zu der Wandlung Glück
wünschen, denu nun wird wohl endlich eine einheitliche Leitung des Hausabnndes
möglich sein, und unbeirrte, zielbewußte Führung vermag bekanntlich manche
sonstige Mängel wieder auszugleichen.

Freilich ist auch hier Vorsicht in der Beurteilung der Lage geboten. Nicht
ohne gewisse Bedeutung für die fernere Entwicklung wird die Stellung der
nationalliberalen Partei zu den nettesten Vorgängen im Hansnbunde sein.
Die jüngere Richtung hält es mit Rießer, die ältere nimmt nur zu gern Rücksicht
auf die Stimmung bei den Konservative» — dies um so mehr, als gerade !u den
letzten Tagen vou konservativer Seite sich seit langer Zeit wieder die ersten
Zeichen einer friedfertigen Gesinnung gegenüber den bürgerlichen Parteien der
Linken bemerkbar gemacht haben. Die Wahlrede des Neichstngspräsidenten und
konservativen Abgeordneten Grafen Schwerin-Löwih zeugt von dein
Wunsche nach Verständigung mit den Nationalliberalen, wenn es heißt: „Ich
habe bei meinen Ausführungen im Oktober vorigen Jahres über die national¬
liberale Partei besonders hervorgehoben, daß ich deren gegenwärtige Politik
gerade deshalb so tief bedauere, weil ich eine starke wirklich natioualliberale
Partei nicht nur für berechtigt und erwünscht, sondern in jedem gesunden
konstitutionellen Staatswesen, auch in dem unserigen, geradezu für notwendig
und unentbehrlich halte, damit innerhalb der gegebenen verfassungsmäßigen
Grenzen sowohl die mehr konservativen als auch die mehr liberalen Grund-


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[0646] Rcichsspicgel Reichsspiegel Innere Politik Scheidungen und Klärungen — Rötger kontra Rieszer — Nationallibernle, Konser¬ vative und Hansabund — Dos Urteil des SpruchkoltegimuS — Kritische Verhältnisse in der evangelischen Landeskirche Einige Gewitterbildungen, die schon lange über dein deutschen Parteileben lasteten, haben während der abgelaufenen Woche zur Entladung geführt. Der Austritt des Herrn Rötger aus dem Präsidium des Hansabundes und die Desavouierimg des Grafen Schwerin-Lowitz durch die konservative parteiamtliche Presse dürften endlich zur Scheidung der Geister und zur Klärung inner¬ halb der großen Parteien führen. Ein abschließendes Urteil über die mutma߬ lichen Folgen für die Parteien und deren Aufmarsch zu den Wahlen ist in¬ dessen heute noch nicht zu gewinnen. Das Urteil über die weitere Entwicklung des Hansabundes wird von der Zahl und der Macht der Gefolgschaft Nießers abhängen und davon, ob die offene Abkehr Rötgers und damit des Zentml- vcrbandes deutscher Industrieller deu Aufgaben, die der Hansabund sich zu lösen vorgenommen hat, förderlich oder schädlich ist. Einstweilen sind Herrn Rieszer zwar schon zahlreiche Vertranensbckundnngen zugegangen, einen klaren Überblick darf man aber wohl nicht vor Ende der kommenden Woche erwarten, wenn die für Mittwoch anberaumte Vorstandssitzung des Bundes beschlossen haben wird. Rein theoretisch betrachtet, sollte mau Herrn Rieszer zu der Wandlung Glück wünschen, denu nun wird wohl endlich eine einheitliche Leitung des Hausabnndes möglich sein, und unbeirrte, zielbewußte Führung vermag bekanntlich manche sonstige Mängel wieder auszugleichen. Freilich ist auch hier Vorsicht in der Beurteilung der Lage geboten. Nicht ohne gewisse Bedeutung für die fernere Entwicklung wird die Stellung der nationalliberalen Partei zu den nettesten Vorgängen im Hansnbunde sein. Die jüngere Richtung hält es mit Rießer, die ältere nimmt nur zu gern Rücksicht auf die Stimmung bei den Konservative» — dies um so mehr, als gerade !u den letzten Tagen vou konservativer Seite sich seit langer Zeit wieder die ersten Zeichen einer friedfertigen Gesinnung gegenüber den bürgerlichen Parteien der Linken bemerkbar gemacht haben. Die Wahlrede des Neichstngspräsidenten und konservativen Abgeordneten Grafen Schwerin-Löwih zeugt von dein Wunsche nach Verständigung mit den Nationalliberalen, wenn es heißt: „Ich habe bei meinen Ausführungen im Oktober vorigen Jahres über die national¬ liberale Partei besonders hervorgehoben, daß ich deren gegenwärtige Politik gerade deshalb so tief bedauere, weil ich eine starke wirklich natioualliberale Partei nicht nur für berechtigt und erwünscht, sondern in jedem gesunden konstitutionellen Staatswesen, auch in dem unserigen, geradezu für notwendig und unentbehrlich halte, damit innerhalb der gegebenen verfassungsmäßigen Grenzen sowohl die mehr konservativen als auch die mehr liberalen Grund-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/646>, abgerufen am 26.05.2024.