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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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anschauungen zu ihre," Recht gelangen tonnen, . . Die versöhnliche Stimmung
bei den Nationalliberalen hat indessen eine ernste Erschütterung erfahren durch
die scharfe Zurückweisung, die die gräflichen Ausführungen durch die Partei¬
leitung der Konservativen gefunden haben. Auch die Magdeburgische Zeitung,
die den Schlnßansführuugen des Geheimrath Rießer auf dem Hansatage eine
scharfe Absage erteilte und mit ihr ihre Berliner Hinteriuänner fühlt sich durch
die Haltung derer um Heydebrand schwer gekränkt. So stehen wir denn vor
einer äußerst wichtige" Entscheidung, einer Entscheidung, die vielleicht einen
völligen Wechsel aller Parteiverhältnisse und Beziehungen nach sich ziehen kann.
Einstweilen hat jedoch der Hansabuud das Wort. Je klarer seine Stellung
durch die bevorstehende Vorstandssitzung umrissen wird, um so leichter wird es
seinen Freunden außerhalb fallen, für das in ihm organisierte Bürgertum
Partei zu ergreifen.

Am Sonnabend hat das Spruchkollcgium dem uun fünf Jahre hindurch
die öffentliche Meinung erregenden Fall Jatho wenigstens formell ein Ende
bereitet. So sehr man den von tiefer Religiosität erfüllte" Priester, der hier
ein Opfer seiner Überzeugung werden mußte und der eben die Schwelle des
siebenten Lebensdezenniums überschreitet, bedauern wird, darf man gegen daS
Spruchkollegium gerechterweise einen Vorwurf nicht erhebe". Pfarrer Jntho
hat, als er seine Tätigkeit über seine eigene Kirchengemeinde in Köln hinaus
ausdehnte, gerade gegen den Grundsatz verstoßen, für deu er angibt zu kämpfen,
es sei denn, daß er den Begriff "Gemeinde" weit im geistigen Sinne aufgefaßt
wissen null; dann aber wäre er ein Sektierer und Sektengrüuder, gegen den sich
die evangelische Landeskirche wehren mußte, wollte sie sich nicht selbst aufgebe".
Die Kirchenbehördc und zuletzt das Spruchkollegium sind in der ganzen Angelegen¬
heit äußerst besonnen und taktvoll vorgegangen, -- man könnte sogar sagen zu
rücksichtsvoll. Ein festeres Zugreifen zu einem früheren Zeitpunkte hätte vielleicht
die Verhandlungen des Spruchkolleginms und damit die Amtsentsetzung Jathos
unnötig gemacht. Doch wie dem auch sei, -- formell ist der Fall Jatho erledigt,
materiell wird er wohl noch lange fortleben, auch wenn Herr Jntho sich per¬
sönlich die größte Zurückhaltung auferlegen sollte. Er ist ja mir ein Symptom
für den Mangel an Zufriedenheit, der sich unter den Angehörigen der
evangelischen Kirche immer häufiger bemerkbar macht. Rede" den vielfache"
Sektenbildungen in hohen und niederm Kreisen, muß auch der Fall Jatho als
ein Zeichen dafür aufgefaßt werde", daß die kirchlichen Einrichtungen in der
evangelischen Landeskirche nicht mehr recht im Einklang mit dem religiöse"
Bedürfnis des Volks stehen. In den letzten Jahren haben Geistliche und Laie"
den? sich hieraus ergebenden Problem ernste Beachtuug geschenkt, und es find
Worte und Urteile gefallen, die von arger Scelennot zeugen. Sind sie berechtigt?
Steht der Protestantismus, wie Haus Behreudt in deu Preußischen Jahrbücher"
(März l"Il) ausführt, vor der Katastrophe? Sollte Luthers Lehre und Auf.
fasiuug vom wahren Christentum sich bereits überlebt und erschöpft habe"?


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anschauungen zu ihre,» Recht gelangen tonnen, . . Die versöhnliche Stimmung
bei den Nationalliberalen hat indessen eine ernste Erschütterung erfahren durch
die scharfe Zurückweisung, die die gräflichen Ausführungen durch die Partei¬
leitung der Konservativen gefunden haben. Auch die Magdeburgische Zeitung,
die den Schlnßansführuugen des Geheimrath Rießer auf dem Hansatage eine
scharfe Absage erteilte und mit ihr ihre Berliner Hinteriuänner fühlt sich durch
die Haltung derer um Heydebrand schwer gekränkt. So stehen wir denn vor
einer äußerst wichtige» Entscheidung, einer Entscheidung, die vielleicht einen
völligen Wechsel aller Parteiverhältnisse und Beziehungen nach sich ziehen kann.
Einstweilen hat jedoch der Hansabuud das Wort. Je klarer seine Stellung
durch die bevorstehende Vorstandssitzung umrissen wird, um so leichter wird es
seinen Freunden außerhalb fallen, für das in ihm organisierte Bürgertum
Partei zu ergreifen.

Am Sonnabend hat das Spruchkollcgium dem uun fünf Jahre hindurch
die öffentliche Meinung erregenden Fall Jatho wenigstens formell ein Ende
bereitet. So sehr man den von tiefer Religiosität erfüllte» Priester, der hier
ein Opfer seiner Überzeugung werden mußte und der eben die Schwelle des
siebenten Lebensdezenniums überschreitet, bedauern wird, darf man gegen daS
Spruchkollegium gerechterweise einen Vorwurf nicht erhebe». Pfarrer Jntho
hat, als er seine Tätigkeit über seine eigene Kirchengemeinde in Köln hinaus
ausdehnte, gerade gegen den Grundsatz verstoßen, für deu er angibt zu kämpfen,
es sei denn, daß er den Begriff „Gemeinde" weit im geistigen Sinne aufgefaßt
wissen null; dann aber wäre er ein Sektierer und Sektengrüuder, gegen den sich
die evangelische Landeskirche wehren mußte, wollte sie sich nicht selbst aufgebe».
Die Kirchenbehördc und zuletzt das Spruchkollegium sind in der ganzen Angelegen¬
heit äußerst besonnen und taktvoll vorgegangen, — man könnte sogar sagen zu
rücksichtsvoll. Ein festeres Zugreifen zu einem früheren Zeitpunkte hätte vielleicht
die Verhandlungen des Spruchkolleginms und damit die Amtsentsetzung Jathos
unnötig gemacht. Doch wie dem auch sei, — formell ist der Fall Jatho erledigt,
materiell wird er wohl noch lange fortleben, auch wenn Herr Jntho sich per¬
sönlich die größte Zurückhaltung auferlegen sollte. Er ist ja mir ein Symptom
für den Mangel an Zufriedenheit, der sich unter den Angehörigen der
evangelischen Kirche immer häufiger bemerkbar macht. Rede» den vielfache»
Sektenbildungen in hohen und niederm Kreisen, muß auch der Fall Jatho als
ein Zeichen dafür aufgefaßt werde», daß die kirchlichen Einrichtungen in der
evangelischen Landeskirche nicht mehr recht im Einklang mit dem religiöse»
Bedürfnis des Volks stehen. In den letzten Jahren haben Geistliche und Laie»
den? sich hieraus ergebenden Problem ernste Beachtuug geschenkt, und es find
Worte und Urteile gefallen, die von arger Scelennot zeugen. Sind sie berechtigt?
Steht der Protestantismus, wie Haus Behreudt in deu Preußischen Jahrbücher»
(März l»Il) ausführt, vor der Katastrophe? Sollte Luthers Lehre und Auf.
fasiuug vom wahren Christentum sich bereits überlebt und erschöpft habe»?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/647>, abgerufen am 17.06.2024.