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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Staatsangehörigkeit

Staatsangehörigkeit
von Dr. rer, pol. Max Lind

er geneigt ist, dem Sprichwort: "Was lange währt, wird gut"
einige Berechtigung zuzubilligen, der darf auf das zukünftige
deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz die besten Hoffnungen setzen.
Das bestehende Jndigenatsgesetz, das den etwas langatmigen Titel
"Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Reichs- und Staats¬
angehörigkeit" führt, stammt aus dem Jahre 1870. Es wurde bereits zur Zeit
des Norddeutschen Bundes geschaffen und ist dann neben vielen anderen Gesetzen
nach der Gründung des Reiches zu einem Reichsgesetz gemacht worden.

Wenn auch das Urteil, dieses Gesetz gehöre zu den "hilfsbedürftigsten"
Gesetzen, mit welchen das Deutsche Reich belastet worden sei, etwas zu scharf
ist, so darf doch gesagt werden, daß trotz des mehr als vierzigjährigen Bestehens
des Gesetzes weder die Theoretiker des Staatsrechts, noch die Verwaltungs¬
beamten, noch die nationalen Politiker eine reine Freude an ihm gehabt haben.
Die Theorie hat bereits in den siebziger Jahren gewisse Bedenken gegen das
Gesetz geltend gemacht und hat sie in der Folge durch eine Anzahl vortrefflicher
Arbeiten in allen ihren Einzelheiten erörtert. Ihr folgte die Praxis, die sich
auf Schritt und Tritt vor schwierige Entscheidungen über Jndigenatsverhältnisse
gestellt sah. An: meisten und lebhaftesten wurde das Gesetz jedoch von Politikern
und Patrioten angegriffen, die in wichtigen grundsätzlichen Bestimmungen eine
direkte nationale Gefahr sahen. Seit dem Jahre 1894, d. h. seit dem Jahre,
in dem der Altdeutsche Verband zum ersten Male die entschiedene Forderung
nach einer Umgestaltung des Gesetzes erhob, ist eine Jnterpellation nach der
anderen an den Reichskanzler gerichtet, ein Antrag nach dem anderen im Reichstage
eingebracht worden, um die im nationalen Interesse notwendige Reform herbei¬
zuführen. Obgleich sich der Reichstag in der Zeit von 1894 bis 1900 fast in
jeder Session mit dem Staatsangehörigkeitsrecht beschäftigte, hatte die Regierung
sich nach außen völlig passiv und abwartend verhalten. Daß aber die alljährlich
wiederkehrenden Debatten über diesen Gegenstand doch nicht spurlos an ihr
vorübergegangen waren, ergaben die Worte des damaligen Staatssekretärs des
Innern, mit denen er an: 21. Januar 1901 eine erneute Anfrage des Abg.
Dr. Hasse, eines Hauptrufers im Streite, beantwortete. Dr. Graf Posadowsky-
Wehner konnte die allerseits sehr beifällig aufgenommene Mitteilung machen,
daß ein Gesetzentwurf über ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz fast fertiggestellt
sei. Seit diesem Tage sind wiederum zehn Jahre ins Land gegangen, ohne
daß eilr Entwurf vorgelegt wurde. Zwar ist ini Reichstag alle zwei Jahre die
Einbringung des bereits am 21. Januar 1901 fast fertiggestellten Gesetzentwurfs
gefordert worden, aber die große Schwierigkeit der Materie hat immer wieder
die Erfüllung dieser Forderung verhindert. Wenn man den fast in der gesamten
Presse verbreiteten neuesten Mitteilungen Glauben schenke,: darf, wird die


Staatsangehörigkeit

Staatsangehörigkeit
von Dr. rer, pol. Max Lind

er geneigt ist, dem Sprichwort: „Was lange währt, wird gut"
einige Berechtigung zuzubilligen, der darf auf das zukünftige
deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz die besten Hoffnungen setzen.
Das bestehende Jndigenatsgesetz, das den etwas langatmigen Titel
„Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Reichs- und Staats¬
angehörigkeit" führt, stammt aus dem Jahre 1870. Es wurde bereits zur Zeit
des Norddeutschen Bundes geschaffen und ist dann neben vielen anderen Gesetzen
nach der Gründung des Reiches zu einem Reichsgesetz gemacht worden.

Wenn auch das Urteil, dieses Gesetz gehöre zu den „hilfsbedürftigsten"
Gesetzen, mit welchen das Deutsche Reich belastet worden sei, etwas zu scharf
ist, so darf doch gesagt werden, daß trotz des mehr als vierzigjährigen Bestehens
des Gesetzes weder die Theoretiker des Staatsrechts, noch die Verwaltungs¬
beamten, noch die nationalen Politiker eine reine Freude an ihm gehabt haben.
Die Theorie hat bereits in den siebziger Jahren gewisse Bedenken gegen das
Gesetz geltend gemacht und hat sie in der Folge durch eine Anzahl vortrefflicher
Arbeiten in allen ihren Einzelheiten erörtert. Ihr folgte die Praxis, die sich
auf Schritt und Tritt vor schwierige Entscheidungen über Jndigenatsverhältnisse
gestellt sah. An: meisten und lebhaftesten wurde das Gesetz jedoch von Politikern
und Patrioten angegriffen, die in wichtigen grundsätzlichen Bestimmungen eine
direkte nationale Gefahr sahen. Seit dem Jahre 1894, d. h. seit dem Jahre,
in dem der Altdeutsche Verband zum ersten Male die entschiedene Forderung
nach einer Umgestaltung des Gesetzes erhob, ist eine Jnterpellation nach der
anderen an den Reichskanzler gerichtet, ein Antrag nach dem anderen im Reichstage
eingebracht worden, um die im nationalen Interesse notwendige Reform herbei¬
zuführen. Obgleich sich der Reichstag in der Zeit von 1894 bis 1900 fast in
jeder Session mit dem Staatsangehörigkeitsrecht beschäftigte, hatte die Regierung
sich nach außen völlig passiv und abwartend verhalten. Daß aber die alljährlich
wiederkehrenden Debatten über diesen Gegenstand doch nicht spurlos an ihr
vorübergegangen waren, ergaben die Worte des damaligen Staatssekretärs des
Innern, mit denen er an: 21. Januar 1901 eine erneute Anfrage des Abg.
Dr. Hasse, eines Hauptrufers im Streite, beantwortete. Dr. Graf Posadowsky-
Wehner konnte die allerseits sehr beifällig aufgenommene Mitteilung machen,
daß ein Gesetzentwurf über ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz fast fertiggestellt
sei. Seit diesem Tage sind wiederum zehn Jahre ins Land gegangen, ohne
daß eilr Entwurf vorgelegt wurde. Zwar ist ini Reichstag alle zwei Jahre die
Einbringung des bereits am 21. Januar 1901 fast fertiggestellten Gesetzentwurfs
gefordert worden, aber die große Schwierigkeit der Materie hat immer wieder
die Erfüllung dieser Forderung verhindert. Wenn man den fast in der gesamten
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[0227] Staatsangehörigkeit Staatsangehörigkeit von Dr. rer, pol. Max Lind er geneigt ist, dem Sprichwort: „Was lange währt, wird gut" einige Berechtigung zuzubilligen, der darf auf das zukünftige deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz die besten Hoffnungen setzen. Das bestehende Jndigenatsgesetz, das den etwas langatmigen Titel „Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Reichs- und Staats¬ angehörigkeit" führt, stammt aus dem Jahre 1870. Es wurde bereits zur Zeit des Norddeutschen Bundes geschaffen und ist dann neben vielen anderen Gesetzen nach der Gründung des Reiches zu einem Reichsgesetz gemacht worden. Wenn auch das Urteil, dieses Gesetz gehöre zu den „hilfsbedürftigsten" Gesetzen, mit welchen das Deutsche Reich belastet worden sei, etwas zu scharf ist, so darf doch gesagt werden, daß trotz des mehr als vierzigjährigen Bestehens des Gesetzes weder die Theoretiker des Staatsrechts, noch die Verwaltungs¬ beamten, noch die nationalen Politiker eine reine Freude an ihm gehabt haben. Die Theorie hat bereits in den siebziger Jahren gewisse Bedenken gegen das Gesetz geltend gemacht und hat sie in der Folge durch eine Anzahl vortrefflicher Arbeiten in allen ihren Einzelheiten erörtert. Ihr folgte die Praxis, die sich auf Schritt und Tritt vor schwierige Entscheidungen über Jndigenatsverhältnisse gestellt sah. An: meisten und lebhaftesten wurde das Gesetz jedoch von Politikern und Patrioten angegriffen, die in wichtigen grundsätzlichen Bestimmungen eine direkte nationale Gefahr sahen. Seit dem Jahre 1894, d. h. seit dem Jahre, in dem der Altdeutsche Verband zum ersten Male die entschiedene Forderung nach einer Umgestaltung des Gesetzes erhob, ist eine Jnterpellation nach der anderen an den Reichskanzler gerichtet, ein Antrag nach dem anderen im Reichstage eingebracht worden, um die im nationalen Interesse notwendige Reform herbei¬ zuführen. Obgleich sich der Reichstag in der Zeit von 1894 bis 1900 fast in jeder Session mit dem Staatsangehörigkeitsrecht beschäftigte, hatte die Regierung sich nach außen völlig passiv und abwartend verhalten. Daß aber die alljährlich wiederkehrenden Debatten über diesen Gegenstand doch nicht spurlos an ihr vorübergegangen waren, ergaben die Worte des damaligen Staatssekretärs des Innern, mit denen er an: 21. Januar 1901 eine erneute Anfrage des Abg. Dr. Hasse, eines Hauptrufers im Streite, beantwortete. Dr. Graf Posadowsky- Wehner konnte die allerseits sehr beifällig aufgenommene Mitteilung machen, daß ein Gesetzentwurf über ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz fast fertiggestellt sei. Seit diesem Tage sind wiederum zehn Jahre ins Land gegangen, ohne daß eilr Entwurf vorgelegt wurde. Zwar ist ini Reichstag alle zwei Jahre die Einbringung des bereits am 21. Januar 1901 fast fertiggestellten Gesetzentwurfs gefordert worden, aber die große Schwierigkeit der Materie hat immer wieder die Erfüllung dieser Forderung verhindert. Wenn man den fast in der gesamten Presse verbreiteten neuesten Mitteilungen Glauben schenke,: darf, wird die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/227>, abgerufen am 05.05.2024.