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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

Die geistig Minderwertigen
und ihre zukünftige strafrechtliche Behandlung
von Oberstabsarzt Dr. Lobedank

in Vorentwurf des zukünftigen deutschen Strafgesetzbuches ist die
gesonderte strafrechtliche Behandlung der sogenannten vermindert
Zurechnungsfähigen in Aussicht genommen. Das zurzeit geltende
Strafgesetz unterscheidet nur zwischen Menschen, die bei Begehung
einer strafbaren Handlung im Besitz der "freien Willensbestimmung"
und somit "zurechnungsfähig" waren, und solchen, bei denen infolge Bewußt¬
losigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war. Eine Zwischengruppe kennt das heutige Strafgesetzbuch uicht.

Nach meiner Ansicht ist dieser Standpunkt eine durchaus logische Folgerung
aus der Voraussetzung, daß der Mensch über einen "freien Willen" verfüge.
Wenn die Willenshandlungen des Menschen frei sind, so kann das nur bedeuten,
daß sie sich nicht mit zwingender Notwendigkeit aus den jeweiligen äußeren
Umständen und der Beschaffenheit des Zentralnervensystems ergeben, sondern
hiervon unabhängig, also ursachlos sind. Ich selbst glaube nicht an die Mög¬
lichkeit ursachlosen Geschehens. Wer aber daran glaubt, kann meines Trachtens
im bestimmten Fall immer nur das Vorhandensein des unabhängigen Willens
annehmen oder ausschließen. Wie hier ein Zwischending gedacht werden kann,
ist mir unerfindlich. Der freie Wille kann nur vorhanden sein oder nicht.
Nimmt man an, daß irgendein Zustand das Wollen beeinflusse, so ist es eben
nicht mehr frei.

Aus solchen" und ähnlichen Gedankengängen sind der Aufstellung einer
strafrechtlich besonders zu behandelnden Zwischenstufe zwischen normalZurechnungs-
fähigen und Unzurechnungsfähigen manche Gegner entstanden. Soweit von
ihnen behauptet wird, daß die Fassung des Z 63, 2 des Voreutwurfs: "War
die freie Willensbestimmung. . . zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem
Grade vermindert, fo . . ." unlogisch sei, kann ich nur zustimmen. Eine ver¬
minderte freie Willensbestimmung erscheint mir denkuumöglich.

Hiermit ist aber keineswegs die Frage entschieden, ob überhaupt die
Berücksichtigung einer Zwischengruppe zwischen geistesgesunden Rechtsverletzern
und solchen geboten ist, die wegen ihrer bei der Tat vorhandenen Geistesstörung
nicht strafbar sind. Die Mehrzahl der zuständigen Beurteiler hat, wie der
Vorentwurf zeigt, die Frage schon bejaht. Dadurch, daß die Bearbeiter des
Vorentwurss an dem Begriff der freien Willensbestimmung festhielten und ihr
Vorhandensein zur Voraussetzung der Strafbarkeit machten, konnten sie aber dein
schon hervorgehobenen Verstoß gegen die Logik nicht ausweichen, der in der
Aufstellung des Begriffs der verminderten freien Willensbestimmung liegt. Man
könnte diesen Verstoß als bedeutungslos betrachten und sich im übrigen von
Herzen darüber freuen, daß die von vielen Juristen, Kriminalisten und Psychiatern


Die geistig Minderwertigen

Die geistig Minderwertigen
und ihre zukünftige strafrechtliche Behandlung
von Oberstabsarzt Dr. Lobedank

in Vorentwurf des zukünftigen deutschen Strafgesetzbuches ist die
gesonderte strafrechtliche Behandlung der sogenannten vermindert
Zurechnungsfähigen in Aussicht genommen. Das zurzeit geltende
Strafgesetz unterscheidet nur zwischen Menschen, die bei Begehung
einer strafbaren Handlung im Besitz der „freien Willensbestimmung"
und somit „zurechnungsfähig" waren, und solchen, bei denen infolge Bewußt¬
losigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war. Eine Zwischengruppe kennt das heutige Strafgesetzbuch uicht.

Nach meiner Ansicht ist dieser Standpunkt eine durchaus logische Folgerung
aus der Voraussetzung, daß der Mensch über einen „freien Willen" verfüge.
Wenn die Willenshandlungen des Menschen frei sind, so kann das nur bedeuten,
daß sie sich nicht mit zwingender Notwendigkeit aus den jeweiligen äußeren
Umständen und der Beschaffenheit des Zentralnervensystems ergeben, sondern
hiervon unabhängig, also ursachlos sind. Ich selbst glaube nicht an die Mög¬
lichkeit ursachlosen Geschehens. Wer aber daran glaubt, kann meines Trachtens
im bestimmten Fall immer nur das Vorhandensein des unabhängigen Willens
annehmen oder ausschließen. Wie hier ein Zwischending gedacht werden kann,
ist mir unerfindlich. Der freie Wille kann nur vorhanden sein oder nicht.
Nimmt man an, daß irgendein Zustand das Wollen beeinflusse, so ist es eben
nicht mehr frei.

Aus solchen" und ähnlichen Gedankengängen sind der Aufstellung einer
strafrechtlich besonders zu behandelnden Zwischenstufe zwischen normalZurechnungs-
fähigen und Unzurechnungsfähigen manche Gegner entstanden. Soweit von
ihnen behauptet wird, daß die Fassung des Z 63, 2 des Voreutwurfs: „War
die freie Willensbestimmung. . . zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem
Grade vermindert, fo . . ." unlogisch sei, kann ich nur zustimmen. Eine ver¬
minderte freie Willensbestimmung erscheint mir denkuumöglich.

Hiermit ist aber keineswegs die Frage entschieden, ob überhaupt die
Berücksichtigung einer Zwischengruppe zwischen geistesgesunden Rechtsverletzern
und solchen geboten ist, die wegen ihrer bei der Tat vorhandenen Geistesstörung
nicht strafbar sind. Die Mehrzahl der zuständigen Beurteiler hat, wie der
Vorentwurf zeigt, die Frage schon bejaht. Dadurch, daß die Bearbeiter des
Vorentwurss an dem Begriff der freien Willensbestimmung festhielten und ihr
Vorhandensein zur Voraussetzung der Strafbarkeit machten, konnten sie aber dein
schon hervorgehobenen Verstoß gegen die Logik nicht ausweichen, der in der
Aufstellung des Begriffs der verminderten freien Willensbestimmung liegt. Man
könnte diesen Verstoß als bedeutungslos betrachten und sich im übrigen von
Herzen darüber freuen, daß die von vielen Juristen, Kriminalisten und Psychiatern


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[0025] Die geistig Minderwertigen Die geistig Minderwertigen und ihre zukünftige strafrechtliche Behandlung von Oberstabsarzt Dr. Lobedank in Vorentwurf des zukünftigen deutschen Strafgesetzbuches ist die gesonderte strafrechtliche Behandlung der sogenannten vermindert Zurechnungsfähigen in Aussicht genommen. Das zurzeit geltende Strafgesetz unterscheidet nur zwischen Menschen, die bei Begehung einer strafbaren Handlung im Besitz der „freien Willensbestimmung" und somit „zurechnungsfähig" waren, und solchen, bei denen infolge Bewußt¬ losigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Eine Zwischengruppe kennt das heutige Strafgesetzbuch uicht. Nach meiner Ansicht ist dieser Standpunkt eine durchaus logische Folgerung aus der Voraussetzung, daß der Mensch über einen „freien Willen" verfüge. Wenn die Willenshandlungen des Menschen frei sind, so kann das nur bedeuten, daß sie sich nicht mit zwingender Notwendigkeit aus den jeweiligen äußeren Umständen und der Beschaffenheit des Zentralnervensystems ergeben, sondern hiervon unabhängig, also ursachlos sind. Ich selbst glaube nicht an die Mög¬ lichkeit ursachlosen Geschehens. Wer aber daran glaubt, kann meines Trachtens im bestimmten Fall immer nur das Vorhandensein des unabhängigen Willens annehmen oder ausschließen. Wie hier ein Zwischending gedacht werden kann, ist mir unerfindlich. Der freie Wille kann nur vorhanden sein oder nicht. Nimmt man an, daß irgendein Zustand das Wollen beeinflusse, so ist es eben nicht mehr frei. Aus solchen" und ähnlichen Gedankengängen sind der Aufstellung einer strafrechtlich besonders zu behandelnden Zwischenstufe zwischen normalZurechnungs- fähigen und Unzurechnungsfähigen manche Gegner entstanden. Soweit von ihnen behauptet wird, daß die Fassung des Z 63, 2 des Voreutwurfs: „War die freie Willensbestimmung. . . zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade vermindert, fo . . ." unlogisch sei, kann ich nur zustimmen. Eine ver¬ minderte freie Willensbestimmung erscheint mir denkuumöglich. Hiermit ist aber keineswegs die Frage entschieden, ob überhaupt die Berücksichtigung einer Zwischengruppe zwischen geistesgesunden Rechtsverletzern und solchen geboten ist, die wegen ihrer bei der Tat vorhandenen Geistesstörung nicht strafbar sind. Die Mehrzahl der zuständigen Beurteiler hat, wie der Vorentwurf zeigt, die Frage schon bejaht. Dadurch, daß die Bearbeiter des Vorentwurss an dem Begriff der freien Willensbestimmung festhielten und ihr Vorhandensein zur Voraussetzung der Strafbarkeit machten, konnten sie aber dein schon hervorgehobenen Verstoß gegen die Logik nicht ausweichen, der in der Aufstellung des Begriffs der verminderten freien Willensbestimmung liegt. Man könnte diesen Verstoß als bedeutungslos betrachten und sich im übrigen von Herzen darüber freuen, daß die von vielen Juristen, Kriminalisten und Psychiatern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/25>, abgerufen am 06.05.2024.