Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Briefe aus Lhina von weiland Professor Dr. Wilhelm Grube

An seine Schwester.

Peking, den 12. Februar 1898.


Meine liebe Weinande!

Am Dienstag machte ich eine recht interessante Exkursion nach einen: großen
außerhalb der Stadt gelegenen taoistischen Tempel, Po-nur-tuam geheißen. Es
war dort gerade ein großes Tempelfest, verbunden mit einer Art Jahrmarkt.
Herr sah. von der russischen Gesandtschaft hatte sich mir angeschlossen. Nach
einem Ritt von ungefähr dreiviertel Stunden war das Ziel erreicht. Der Tempel
besteht aus einer großen Anzahl von Gebäuden, die durch Höfe und Garten¬
anlagen voneinander getrennt sind. Das Ganze nimmt ein sehr umfangreiches
Grundstück ein, das von einer Mauer umgeben ist. Es befinden sich dort außer
Tempel- und Priesterwohnungen auch noch Logierhäuser, wo fromme Besucher
des Tempels nächtigen können. In diesen herrschte ein buntes Leben, denn
die bevorstehende Nacht hatte viele Besucher angelockt. Das Tempelfest danert
nämlich mehrere Tage lang, und in der Nacht, die auf den letzten Tag (an
dem wir gerade da waren) folgt, bleibt der Tempel ununterbrochen geöffnet
und ist festlich mit bunten Lampen illuminiert. In dieser Nacht pflegt stets
eine der taoistischen Gottheiten in menschlicher Gestalt in der Menge zu erscheinen,
infolgedessen ist die Spannung und Aufregung der Anwesenden immer sehr groß.
Vor einigen Jahren soll dort, wie mir ein Chinese erzählte, in jener Nacht
plötzlich ein Bettler von abschreckender Häßlichkeit aufgetaucht sein, der, eine
kleine Schale in der Hand, um Almosen bat. Fast jeder gab ihm eine Kleinigkeit,
aber so viel man auch gab, wurde der Napf, trotzdem er so klein war, nicht
voll. Das fiel manchen auf, aber ehe sie die Sache genauer untersuchen konnten,
war der rätselhafte Bettler plötzlich spurlos verschwunden. Danach unterlag
es natürlich keinem Zweifel, daß er kein anderer war als einer der sogenannten
acht Genien namens Li T'ich-kuai, der immer als hinkender Bettler dargestellt
wird. Welche Gottheit den Tempel dies Jahr mit ihrem Besuch beehrt hat,
habe ich noch nicht erfahren können. Übrigens waren nur dort die Menschen




Briefe aus Lhina von weiland Professor Dr. Wilhelm Grube

An seine Schwester.

Peking, den 12. Februar 1898.


Meine liebe Weinande!

Am Dienstag machte ich eine recht interessante Exkursion nach einen: großen
außerhalb der Stadt gelegenen taoistischen Tempel, Po-nur-tuam geheißen. Es
war dort gerade ein großes Tempelfest, verbunden mit einer Art Jahrmarkt.
Herr sah. von der russischen Gesandtschaft hatte sich mir angeschlossen. Nach
einem Ritt von ungefähr dreiviertel Stunden war das Ziel erreicht. Der Tempel
besteht aus einer großen Anzahl von Gebäuden, die durch Höfe und Garten¬
anlagen voneinander getrennt sind. Das Ganze nimmt ein sehr umfangreiches
Grundstück ein, das von einer Mauer umgeben ist. Es befinden sich dort außer
Tempel- und Priesterwohnungen auch noch Logierhäuser, wo fromme Besucher
des Tempels nächtigen können. In diesen herrschte ein buntes Leben, denn
die bevorstehende Nacht hatte viele Besucher angelockt. Das Tempelfest danert
nämlich mehrere Tage lang, und in der Nacht, die auf den letzten Tag (an
dem wir gerade da waren) folgt, bleibt der Tempel ununterbrochen geöffnet
und ist festlich mit bunten Lampen illuminiert. In dieser Nacht pflegt stets
eine der taoistischen Gottheiten in menschlicher Gestalt in der Menge zu erscheinen,
infolgedessen ist die Spannung und Aufregung der Anwesenden immer sehr groß.
Vor einigen Jahren soll dort, wie mir ein Chinese erzählte, in jener Nacht
plötzlich ein Bettler von abschreckender Häßlichkeit aufgetaucht sein, der, eine
kleine Schale in der Hand, um Almosen bat. Fast jeder gab ihm eine Kleinigkeit,
aber so viel man auch gab, wurde der Napf, trotzdem er so klein war, nicht
voll. Das fiel manchen auf, aber ehe sie die Sache genauer untersuchen konnten,
war der rätselhafte Bettler plötzlich spurlos verschwunden. Danach unterlag
es natürlich keinem Zweifel, daß er kein anderer war als einer der sogenannten
acht Genien namens Li T'ich-kuai, der immer als hinkender Bettler dargestellt
wird. Welche Gottheit den Tempel dies Jahr mit ihrem Besuch beehrt hat,
habe ich noch nicht erfahren können. Übrigens waren nur dort die Menschen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0598" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320199"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341893_319600/figures/grenzboten_341893_319600_320199_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Briefe aus Lhina <note type="byline"> von weiland Professor Dr. Wilhelm Grube</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_2544"> An seine Schwester.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2545"> Peking, den 12. Februar 1898.</p><lb/>
          <note type="salute"> Meine liebe Weinande!</note><lb/>
          <p xml:id="ID_2546" next="#ID_2547"> Am Dienstag machte ich eine recht interessante Exkursion nach einen: großen<lb/>
außerhalb der Stadt gelegenen taoistischen Tempel, Po-nur-tuam geheißen. Es<lb/>
war dort gerade ein großes Tempelfest, verbunden mit einer Art Jahrmarkt.<lb/>
Herr sah. von der russischen Gesandtschaft hatte sich mir angeschlossen. Nach<lb/>
einem Ritt von ungefähr dreiviertel Stunden war das Ziel erreicht. Der Tempel<lb/>
besteht aus einer großen Anzahl von Gebäuden, die durch Höfe und Garten¬<lb/>
anlagen voneinander getrennt sind. Das Ganze nimmt ein sehr umfangreiches<lb/>
Grundstück ein, das von einer Mauer umgeben ist. Es befinden sich dort außer<lb/>
Tempel- und Priesterwohnungen auch noch Logierhäuser, wo fromme Besucher<lb/>
des Tempels nächtigen können. In diesen herrschte ein buntes Leben, denn<lb/>
die bevorstehende Nacht hatte viele Besucher angelockt. Das Tempelfest danert<lb/>
nämlich mehrere Tage lang, und in der Nacht, die auf den letzten Tag (an<lb/>
dem wir gerade da waren) folgt, bleibt der Tempel ununterbrochen geöffnet<lb/>
und ist festlich mit bunten Lampen illuminiert. In dieser Nacht pflegt stets<lb/>
eine der taoistischen Gottheiten in menschlicher Gestalt in der Menge zu erscheinen,<lb/>
infolgedessen ist die Spannung und Aufregung der Anwesenden immer sehr groß.<lb/>
Vor einigen Jahren soll dort, wie mir ein Chinese erzählte, in jener Nacht<lb/>
plötzlich ein Bettler von abschreckender Häßlichkeit aufgetaucht sein, der, eine<lb/>
kleine Schale in der Hand, um Almosen bat. Fast jeder gab ihm eine Kleinigkeit,<lb/>
aber so viel man auch gab, wurde der Napf, trotzdem er so klein war, nicht<lb/>
voll. Das fiel manchen auf, aber ehe sie die Sache genauer untersuchen konnten,<lb/>
war der rätselhafte Bettler plötzlich spurlos verschwunden. Danach unterlag<lb/>
es natürlich keinem Zweifel, daß er kein anderer war als einer der sogenannten<lb/>
acht Genien namens Li T'ich-kuai, der immer als hinkender Bettler dargestellt<lb/>
wird. Welche Gottheit den Tempel dies Jahr mit ihrem Besuch beehrt hat,<lb/>
habe ich noch nicht erfahren können.  Übrigens waren nur dort die Menschen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0598] [Abbildung] Briefe aus Lhina von weiland Professor Dr. Wilhelm Grube An seine Schwester. Peking, den 12. Februar 1898. Meine liebe Weinande! Am Dienstag machte ich eine recht interessante Exkursion nach einen: großen außerhalb der Stadt gelegenen taoistischen Tempel, Po-nur-tuam geheißen. Es war dort gerade ein großes Tempelfest, verbunden mit einer Art Jahrmarkt. Herr sah. von der russischen Gesandtschaft hatte sich mir angeschlossen. Nach einem Ritt von ungefähr dreiviertel Stunden war das Ziel erreicht. Der Tempel besteht aus einer großen Anzahl von Gebäuden, die durch Höfe und Garten¬ anlagen voneinander getrennt sind. Das Ganze nimmt ein sehr umfangreiches Grundstück ein, das von einer Mauer umgeben ist. Es befinden sich dort außer Tempel- und Priesterwohnungen auch noch Logierhäuser, wo fromme Besucher des Tempels nächtigen können. In diesen herrschte ein buntes Leben, denn die bevorstehende Nacht hatte viele Besucher angelockt. Das Tempelfest danert nämlich mehrere Tage lang, und in der Nacht, die auf den letzten Tag (an dem wir gerade da waren) folgt, bleibt der Tempel ununterbrochen geöffnet und ist festlich mit bunten Lampen illuminiert. In dieser Nacht pflegt stets eine der taoistischen Gottheiten in menschlicher Gestalt in der Menge zu erscheinen, infolgedessen ist die Spannung und Aufregung der Anwesenden immer sehr groß. Vor einigen Jahren soll dort, wie mir ein Chinese erzählte, in jener Nacht plötzlich ein Bettler von abschreckender Häßlichkeit aufgetaucht sein, der, eine kleine Schale in der Hand, um Almosen bat. Fast jeder gab ihm eine Kleinigkeit, aber so viel man auch gab, wurde der Napf, trotzdem er so klein war, nicht voll. Das fiel manchen auf, aber ehe sie die Sache genauer untersuchen konnten, war der rätselhafte Bettler plötzlich spurlos verschwunden. Danach unterlag es natürlich keinem Zweifel, daß er kein anderer war als einer der sogenannten acht Genien namens Li T'ich-kuai, der immer als hinkender Bettler dargestellt wird. Welche Gottheit den Tempel dies Jahr mit ihrem Besuch beehrt hat, habe ich noch nicht erfahren können. Übrigens waren nur dort die Menschen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/598
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/598>, abgerufen am 05.05.2024.