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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Hozialismus in England
von l)r, Ludwig Munzinger Hemmungen*)

in japanischer Beobachter schrieb neulich in einem Aufsatz über
England: "Ob sie nun Unionisten oder Liberale, Nationalisten
oder Sozialisten sind: alle Engländer sind so konservativ. Und
das ist bewundernswert." Es gibt in der Tat kein konservativeres
'Volk als die Engländer. Auch sür Ideen, die irgendwo auf¬
tauchen und die anderen Völkern leicht über die Grenzen getragen werden,
erweist sich der Streifen Meer, der ganz England strategisch zu einer Festung
macht, als eine Art Puffer. Das englische Volk denkt im ganzen langsam auf
eigenen Wegen, grübelt wenig und gibt das Bestehende auf allen Gebieten nicht
eher auf, als bis es gar nicht mehr anders geht. Alles abstrakte Denken, alle
Theorie und alles Dogmatisieren ist ihm zuwider. So ging es zunächst nur
mit größtem Mißtrauen an eine Lehre wie die marxistische heran. Von dieser
Regel machte auch der eingeborene englische Arbeiter keine Ausnahme. Was
war ihm die Marxsche Werttheorie oder das eherne Lohngesetz? Nichts. Aber
er sah mit seinen eigenen Augen, daß gewisse Schichten der Bevölkerung ein
bequemes Leben führen, ohne zu arbeiten. Das gab ihm eher zu denken, und
so hat ihm, um aus Nöten, die er empfand, herauszukommen, der Gewerkschafts¬
weg viel rascher eingeleuchtet. Wenn ihm nun vollends vordellamiert wurde,
was für ein elender Proletarier er sei und wie unterdrückt er lebe, dann ging
ihm das gegen seinen Stolz. Die achtungsvolle Art des Verkehrs zwischen
allen Gesellschaftsschichten untereinander, wie sie ein schöner Zug des englischen
Lebens ist, hat dem englischen Arbeiter ein Standesbewußtsein gegeben, das
ganz anders geartet ist, als das "Klassenbewußtsein", das die deutsche
Sozialdemokratie den deutschen Arbeitern in die Köpfe hämmert. So spielt der
Neid in England keine so große Rolle wie in anderen Ländern. Wenn der
englische Arbeiter sich vielleicht mitunter auch Gedanken macht, wenn er faulen
Reichtum sieht, so meidet er dem reichen Mann doch nicht schlechthin sein



*) Aufstieg und Wirkungen s, Heft 4.


Der Hozialismus in England
von l)r, Ludwig Munzinger Hemmungen*)

in japanischer Beobachter schrieb neulich in einem Aufsatz über
England: „Ob sie nun Unionisten oder Liberale, Nationalisten
oder Sozialisten sind: alle Engländer sind so konservativ. Und
das ist bewundernswert." Es gibt in der Tat kein konservativeres
'Volk als die Engländer. Auch sür Ideen, die irgendwo auf¬
tauchen und die anderen Völkern leicht über die Grenzen getragen werden,
erweist sich der Streifen Meer, der ganz England strategisch zu einer Festung
macht, als eine Art Puffer. Das englische Volk denkt im ganzen langsam auf
eigenen Wegen, grübelt wenig und gibt das Bestehende auf allen Gebieten nicht
eher auf, als bis es gar nicht mehr anders geht. Alles abstrakte Denken, alle
Theorie und alles Dogmatisieren ist ihm zuwider. So ging es zunächst nur
mit größtem Mißtrauen an eine Lehre wie die marxistische heran. Von dieser
Regel machte auch der eingeborene englische Arbeiter keine Ausnahme. Was
war ihm die Marxsche Werttheorie oder das eherne Lohngesetz? Nichts. Aber
er sah mit seinen eigenen Augen, daß gewisse Schichten der Bevölkerung ein
bequemes Leben führen, ohne zu arbeiten. Das gab ihm eher zu denken, und
so hat ihm, um aus Nöten, die er empfand, herauszukommen, der Gewerkschafts¬
weg viel rascher eingeleuchtet. Wenn ihm nun vollends vordellamiert wurde,
was für ein elender Proletarier er sei und wie unterdrückt er lebe, dann ging
ihm das gegen seinen Stolz. Die achtungsvolle Art des Verkehrs zwischen
allen Gesellschaftsschichten untereinander, wie sie ein schöner Zug des englischen
Lebens ist, hat dem englischen Arbeiter ein Standesbewußtsein gegeben, das
ganz anders geartet ist, als das „Klassenbewußtsein", das die deutsche
Sozialdemokratie den deutschen Arbeitern in die Köpfe hämmert. So spielt der
Neid in England keine so große Rolle wie in anderen Ländern. Wenn der
englische Arbeiter sich vielleicht mitunter auch Gedanken macht, wenn er faulen
Reichtum sieht, so meidet er dem reichen Mann doch nicht schlechthin sein



*) Aufstieg und Wirkungen s, Heft 4.
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[0278] [Abbildung] Der Hozialismus in England von l)r, Ludwig Munzinger Hemmungen*) in japanischer Beobachter schrieb neulich in einem Aufsatz über England: „Ob sie nun Unionisten oder Liberale, Nationalisten oder Sozialisten sind: alle Engländer sind so konservativ. Und das ist bewundernswert." Es gibt in der Tat kein konservativeres 'Volk als die Engländer. Auch sür Ideen, die irgendwo auf¬ tauchen und die anderen Völkern leicht über die Grenzen getragen werden, erweist sich der Streifen Meer, der ganz England strategisch zu einer Festung macht, als eine Art Puffer. Das englische Volk denkt im ganzen langsam auf eigenen Wegen, grübelt wenig und gibt das Bestehende auf allen Gebieten nicht eher auf, als bis es gar nicht mehr anders geht. Alles abstrakte Denken, alle Theorie und alles Dogmatisieren ist ihm zuwider. So ging es zunächst nur mit größtem Mißtrauen an eine Lehre wie die marxistische heran. Von dieser Regel machte auch der eingeborene englische Arbeiter keine Ausnahme. Was war ihm die Marxsche Werttheorie oder das eherne Lohngesetz? Nichts. Aber er sah mit seinen eigenen Augen, daß gewisse Schichten der Bevölkerung ein bequemes Leben führen, ohne zu arbeiten. Das gab ihm eher zu denken, und so hat ihm, um aus Nöten, die er empfand, herauszukommen, der Gewerkschafts¬ weg viel rascher eingeleuchtet. Wenn ihm nun vollends vordellamiert wurde, was für ein elender Proletarier er sei und wie unterdrückt er lebe, dann ging ihm das gegen seinen Stolz. Die achtungsvolle Art des Verkehrs zwischen allen Gesellschaftsschichten untereinander, wie sie ein schöner Zug des englischen Lebens ist, hat dem englischen Arbeiter ein Standesbewußtsein gegeben, das ganz anders geartet ist, als das „Klassenbewußtsein", das die deutsche Sozialdemokratie den deutschen Arbeitern in die Köpfe hämmert. So spielt der Neid in England keine so große Rolle wie in anderen Ländern. Wenn der englische Arbeiter sich vielleicht mitunter auch Gedanken macht, wenn er faulen Reichtum sieht, so meidet er dem reichen Mann doch nicht schlechthin sein *) Aufstieg und Wirkungen s, Heft 4.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/278>, abgerufen am 29.04.2024.