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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?

Im zweiten Teile des Hyperion (Tübingen 1799) sind es nicht mehr
einzelne Stimmen, sondern eine größere Masse harmonisch zusammenklingender
Töne. Diotima hat in dem Helden ein frohes Gefühl der Tatkraft erregt.
"Die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen, und der
will Platz auf Erden haben, und diesen Platz erobern wir gewiß." Eine
republikanische Verfassung schwebt ihm vor. Die ganze Welt der Griechen
erscheint ihm unter dieser Idee: Der Genius von Agis und Kleomenes ist das
Abendrot des griechischen Tages, wie Theseus neben Homer die Aurore. Aber
er geht allzu leidenschaftlich ans Werk und es mißlingt. Alles fällt in Trümmern
zusammen. Nun fühlt der Held erst im Leiden der Seele Freiheit. Er verliert
sich in die äußerste Einsamkeit des Geistes; "unter den Göttern" sucht er sein
Heil in entsagungsvoller Kontemplation, wo auch Hülsen und Schleiermacher
sich treffen, um auszuruhen von dem Kampfe der Zeit. Ihr aller Vorgänger
und Führer ist der große griechische Weltmeise, der nach langen Fahrten durch
das stürmisch bewegte Meer seiner Zeit und manchem Schiffbruch die Stelle
fand, wo seine Seele auftauchen und frei von Tang und Schmutz die Welt der
Ideen anschauen konnte. Es ist die beschauliche weltferne Ruhe des Philosophen.
Hölderlin hat sie gesucht, aber nicht finden können.

Fichte hat niemals bei Hölderlin so im Mittelpunkt gestanden wie Schiller,
und Hauni geht zu weit, wenn er im zweiten Teil des Hyperion einen Übergang
von Fichte zu Schiller findet. Die Hauptursache für den kurzen Glücksrausch
des Helden ist doch die glückliche Stimmung der Frankfurter Zeit, und Hölderlin
schreibt, als er in der Stimmung dafür ist, Ideen, die in der Luft liegen.

(Schluß folgt)




Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?
von tvalther F. <L lassen

!ir stehen in den Siädten heimatlosen Volksmassen gegenüber, in
denen die Tradition der Familie abgerissen ist. Bei der Über¬
siedlung aus der ländlichen oder kleinstädtischen Heimat bewahrt
die Frau noch lange Zeit Frömmigkeit, dazu die Künste des
Nähens und Stopfens, Kochrezepte und medizinische Hausmittel, der
Mann die strenge Ehrlichkeit, auch die Liebe zu seinem alten Regiment usw.
Vererben können die Eltern davon oft nur wenig, auch wenn sie es versuchen.

Das neue Volk der Industriestadt ist religionslos. Auch unter den Besten,
die jahrelang uuter meiner Hand heranwuchsen, die mich oft und über alles
reden gehört, erweckt ein Bekenntnis zu Gott und Unsterblichkeit erstauntes Kopf¬
schütteln; Gebet ist fast unbekannt.


Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?

Im zweiten Teile des Hyperion (Tübingen 1799) sind es nicht mehr
einzelne Stimmen, sondern eine größere Masse harmonisch zusammenklingender
Töne. Diotima hat in dem Helden ein frohes Gefühl der Tatkraft erregt.
„Die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen, und der
will Platz auf Erden haben, und diesen Platz erobern wir gewiß." Eine
republikanische Verfassung schwebt ihm vor. Die ganze Welt der Griechen
erscheint ihm unter dieser Idee: Der Genius von Agis und Kleomenes ist das
Abendrot des griechischen Tages, wie Theseus neben Homer die Aurore. Aber
er geht allzu leidenschaftlich ans Werk und es mißlingt. Alles fällt in Trümmern
zusammen. Nun fühlt der Held erst im Leiden der Seele Freiheit. Er verliert
sich in die äußerste Einsamkeit des Geistes; „unter den Göttern" sucht er sein
Heil in entsagungsvoller Kontemplation, wo auch Hülsen und Schleiermacher
sich treffen, um auszuruhen von dem Kampfe der Zeit. Ihr aller Vorgänger
und Führer ist der große griechische Weltmeise, der nach langen Fahrten durch
das stürmisch bewegte Meer seiner Zeit und manchem Schiffbruch die Stelle
fand, wo seine Seele auftauchen und frei von Tang und Schmutz die Welt der
Ideen anschauen konnte. Es ist die beschauliche weltferne Ruhe des Philosophen.
Hölderlin hat sie gesucht, aber nicht finden können.

Fichte hat niemals bei Hölderlin so im Mittelpunkt gestanden wie Schiller,
und Hauni geht zu weit, wenn er im zweiten Teil des Hyperion einen Übergang
von Fichte zu Schiller findet. Die Hauptursache für den kurzen Glücksrausch
des Helden ist doch die glückliche Stimmung der Frankfurter Zeit, und Hölderlin
schreibt, als er in der Stimmung dafür ist, Ideen, die in der Luft liegen.

(Schluß folgt)




Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?
von tvalther F. <L lassen

!ir stehen in den Siädten heimatlosen Volksmassen gegenüber, in
denen die Tradition der Familie abgerissen ist. Bei der Über¬
siedlung aus der ländlichen oder kleinstädtischen Heimat bewahrt
die Frau noch lange Zeit Frömmigkeit, dazu die Künste des
Nähens und Stopfens, Kochrezepte und medizinische Hausmittel, der
Mann die strenge Ehrlichkeit, auch die Liebe zu seinem alten Regiment usw.
Vererben können die Eltern davon oft nur wenig, auch wenn sie es versuchen.

Das neue Volk der Industriestadt ist religionslos. Auch unter den Besten,
die jahrelang uuter meiner Hand heranwuchsen, die mich oft und über alles
reden gehört, erweckt ein Bekenntnis zu Gott und Unsterblichkeit erstauntes Kopf¬
schütteln; Gebet ist fast unbekannt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/31>, abgerufen am 29.04.2024.