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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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tvie gewinnen wir die Arbeiterjugend?

Ebenso ist die monarchische Tradition radikal abgerissen. Einen Namen
wie Prinz Friedrich Karl finde ich z. B. im Gespräch fast unbekannt. Fürsten
erscheinen als Menschen, die viel Geld brauchen. Mehr weiß man nicht von
ihnen. Keine Spur des alten Pietätsverhältnisses!

Das neue Geschlecht, zwar reizbar und anspruchsvoll, hat doch nur sehr
geringe Meinung vom Wert des einzelnen. Es wächst in Massen auf, arbeitet
in Massen. Das protestantische Wort: "Arbeit ist Gottesdienst" vermögen sie
nicht zu begreifen. Denn es fehlt das sittliche Verhältnis zu ihrer Arbeit. Ein
Nachweis vermittelt ihnen die Stelle. Der Chef ist den meisten unbekannt.
Selbst bei der feinsten Arbeit, z. B. der des Schriftsetzers, wird bei den Besten
oft genug ein Seufzer laut: "Wozu ich das arbeite, weiß ich nicht! Nur für
meinen Lohn!" Und das eben ist zu wenig Inhalt für saure Arbeit und
macht die Gemüter zur Bitterkeit geneigt.

Gegen all dies läßt sich nicht einwenden: Es gibt doch noch viele Aus¬
nahmen. Gewiß! Aber wir haben in der Stadt zurzeit überall den Zustand
der ersten Stadtgeborenen Generation: die Eltern noch kernfest, viele Kinder
glänzend begabt. schlummernde Fähigkeiten entfalten sich in neuer Umgebung.
Mischung der Volksstämme steigert noch die Begabung. Aber die Krankheit der
Familie, nämlich völlige innere Entfremdung zwischen Eltern und Kindern,
besteht auch hier. Und dem moralischen Charakter fehlen die Wurzeln.

Und all dies wird in den nächsten Jahren noch schlimmer werden, sofern
die Lebensbedingungen bleiben wie sie sind. In dem Arbeiterquartier der Gro߬
stadt werden die Bilder düsterer, je dichter die Straßenreihen bebaut werden.
"Früher waren meine Leute hier arm, aber brav," sagt mein Nachbarpastor,
"jetzt aber wird viel verdient, aber eine Gemeinheit macht sich breit, die wir
hier früher nicht kannten."--

Was soll nun geschehen? Eine Gemeinschaft der schulentlassenen Jungen
soll gebildet werden. (Übrigens auch der Mädchen.) Wie soll solche Gemein¬
schaft geschaffen werden? Vollständig abgewöhnen muß sich der, der es versucht,
daß er zunächst bei Volk und Jugend eine Autorität sei durch seine Bildung
und sein Amt. Hier ist Neuland, hier ist Wildwest: Hier gilt nur der Mann.

Die Worte "patriotisch" und "heilig" haben nahezu einen schlimmen Sinn
in dieser Welt; sie werden mit Spott im Munde geführt. Hier sollen wir
anfangen. Und es geht doch.

So geht es freilich nicht, wie es einmal erzählt wurde: Ein schönes Heim
war da für die Lehrlinge. (Schöne Heime sind überhaupt viel weniger wichtig
als rechte Männer.) Es kamen auch Jungen. Man gab ihnen alles umsonst,
was ganz verkehrt ist. "For wat, is wat!" sagt der Hamburger. Für eine
gute Sache will er auch seinerseits was leisten. Ein guter Zug! Man pflege
ihn, und pflege die proletarische Begehrlichkeit nicht noch groß. Also in diesem
Heim wurde zu Kaisers Geburtstag Apfelreis gekocht. "Jungen, wißt ihr auch,
warum ihr das heute bekommt? Es ist Kaisers Geburtstag!" Da Uahmen alle


tvie gewinnen wir die Arbeiterjugend?

Ebenso ist die monarchische Tradition radikal abgerissen. Einen Namen
wie Prinz Friedrich Karl finde ich z. B. im Gespräch fast unbekannt. Fürsten
erscheinen als Menschen, die viel Geld brauchen. Mehr weiß man nicht von
ihnen. Keine Spur des alten Pietätsverhältnisses!

Das neue Geschlecht, zwar reizbar und anspruchsvoll, hat doch nur sehr
geringe Meinung vom Wert des einzelnen. Es wächst in Massen auf, arbeitet
in Massen. Das protestantische Wort: „Arbeit ist Gottesdienst" vermögen sie
nicht zu begreifen. Denn es fehlt das sittliche Verhältnis zu ihrer Arbeit. Ein
Nachweis vermittelt ihnen die Stelle. Der Chef ist den meisten unbekannt.
Selbst bei der feinsten Arbeit, z. B. der des Schriftsetzers, wird bei den Besten
oft genug ein Seufzer laut: „Wozu ich das arbeite, weiß ich nicht! Nur für
meinen Lohn!" Und das eben ist zu wenig Inhalt für saure Arbeit und
macht die Gemüter zur Bitterkeit geneigt.

Gegen all dies läßt sich nicht einwenden: Es gibt doch noch viele Aus¬
nahmen. Gewiß! Aber wir haben in der Stadt zurzeit überall den Zustand
der ersten Stadtgeborenen Generation: die Eltern noch kernfest, viele Kinder
glänzend begabt. schlummernde Fähigkeiten entfalten sich in neuer Umgebung.
Mischung der Volksstämme steigert noch die Begabung. Aber die Krankheit der
Familie, nämlich völlige innere Entfremdung zwischen Eltern und Kindern,
besteht auch hier. Und dem moralischen Charakter fehlen die Wurzeln.

Und all dies wird in den nächsten Jahren noch schlimmer werden, sofern
die Lebensbedingungen bleiben wie sie sind. In dem Arbeiterquartier der Gro߬
stadt werden die Bilder düsterer, je dichter die Straßenreihen bebaut werden.
„Früher waren meine Leute hier arm, aber brav," sagt mein Nachbarpastor,
„jetzt aber wird viel verdient, aber eine Gemeinheit macht sich breit, die wir
hier früher nicht kannten."--

Was soll nun geschehen? Eine Gemeinschaft der schulentlassenen Jungen
soll gebildet werden. (Übrigens auch der Mädchen.) Wie soll solche Gemein¬
schaft geschaffen werden? Vollständig abgewöhnen muß sich der, der es versucht,
daß er zunächst bei Volk und Jugend eine Autorität sei durch seine Bildung
und sein Amt. Hier ist Neuland, hier ist Wildwest: Hier gilt nur der Mann.

Die Worte „patriotisch" und „heilig" haben nahezu einen schlimmen Sinn
in dieser Welt; sie werden mit Spott im Munde geführt. Hier sollen wir
anfangen. Und es geht doch.

So geht es freilich nicht, wie es einmal erzählt wurde: Ein schönes Heim
war da für die Lehrlinge. (Schöne Heime sind überhaupt viel weniger wichtig
als rechte Männer.) Es kamen auch Jungen. Man gab ihnen alles umsonst,
was ganz verkehrt ist. „For wat, is wat!" sagt der Hamburger. Für eine
gute Sache will er auch seinerseits was leisten. Ein guter Zug! Man pflege
ihn, und pflege die proletarische Begehrlichkeit nicht noch groß. Also in diesem
Heim wurde zu Kaisers Geburtstag Apfelreis gekocht. „Jungen, wißt ihr auch,
warum ihr das heute bekommt? Es ist Kaisers Geburtstag!" Da Uahmen alle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/32>, abgerufen am 15.05.2024.