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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Allgemeine Wehrpflicht und Präsenzstärke

infolge körperlicher Unbrauchbarkeit oder durch das Los vom aktiven Dienste frei
und der Ersatzreserve oder dem Landsturm überwiesen wird.

Wie hoch sich gerade die Zahl der nicht ausgehobenen Wehrpflichtigen stellt,
ist nur wenigen bekannt. So wurden z. B. 1908 von 478354 ergäuzungs-
geschäftlich behandelten Wehrpflichtigen und neben 61153 freiwillig Eingetretenen
nur 221852 zum aktiven Dienst ausgehoben. Von ihnen wurden 34133 als
untauglich ausgemustert, 836 wegen Zuchthausstrafe usw. vom Heerdienste aus¬
geschlossen und die übrigen 221533 Mann der Ersatzreserve oder dem Land¬
sturm 1. Klasse überwiesen. In Prozenten ausgedrückt heißt das, daß von
100 Wehrpflichtigen nur 52,5 wirklich zum aktiven Heerdienst herangezogen
wurden, wobei von den nicht zum Dienst Herangezogenen 41 dienstfrei wurden,
ohne dienstuntauglich zu sein!

Das sind vom militärischen wie vom rechtlichen Standpunkte aus recht
bedenkliche Zahlen! Zeigen sie doch, daß wir in Deutschland zwar gesetzlich die
allgemeine Wehrpflicht, aber praktisch in keiner Weise die allgemeine Dienstpflicht
haben, indem eben von je zehn Wehrpflichtigen mehr als vier zu dieser Pflicht
weder persönlich noch materiell herangezogen werden, obgleich sie meist waffen¬
dienstfähig, jedenfalls aber in zahlreichen Füllen zu erheblichen materiellen Opfern
wohl in der Lage wären.

Daß dieser Zustand auf die Dauer rechtlich unhaltbar ist, liegt auf der
Hand. Das Volksbewußtsein macht zwischen Wehrpflicht und Dienstpflicht keinen
Unterschied; es verlangt einfach, daß jeder taugliche Wehrpflichtige auch zum
Heerdienst herangezogen werde. Sollte das geschehen, so müßte aber unsere
Präsenzstärke um rund 80 Prozent erhöht werden, ein Gedanke, dessen Durch¬
führung unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen des Reichs ausgeschlossen
ist und offenbar bei der starken Bevölkerung des Reichs auch militärisch nicht
unbedingt verwirklicht zu werden braucht; von Bedenken rein finanzieller Art
ganz abgesehen.

Wenn also angesichts der durch die wachsende Bevölkerung bei gleichbleibender
Präsenzstärke immer schlimmer werdenden Ungerechtigkeit unserer heutigen Wehr¬
verfassung die Spitze abgebrochen werden soll, kann dies nur auf die Weise
geschehen, daß allen denen, welche gar nicht oder nur kürzere Zeit zu dienen
haben, als Entgelt für diese erhebliche persönliche Entlastung ein materielles
Opfer auferlegt wird, das wenigstens einigermaßen einen wenn auch nicht vollen
Gegenwert darstellt, und daß anderseits denen, die ihren persönlichen Dienst
gesetzlich dem Vaterlande zu widmen haben, dafür eine Reihe von Vorrechten,
namentlich in Bezug auf den Erwerb öffentlicher Ämter, eingeräumt wird.


1. Die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen ein Vorrecht
des Besitzes

Die Auferlegung materieller Opfer auf die nicht oder nur in verkürzter
Form zum Heerdienst Herangezogenen ist für die deutsche Wehrverfassuug nicht,


Allgemeine Wehrpflicht und Präsenzstärke

infolge körperlicher Unbrauchbarkeit oder durch das Los vom aktiven Dienste frei
und der Ersatzreserve oder dem Landsturm überwiesen wird.

Wie hoch sich gerade die Zahl der nicht ausgehobenen Wehrpflichtigen stellt,
ist nur wenigen bekannt. So wurden z. B. 1908 von 478354 ergäuzungs-
geschäftlich behandelten Wehrpflichtigen und neben 61153 freiwillig Eingetretenen
nur 221852 zum aktiven Dienst ausgehoben. Von ihnen wurden 34133 als
untauglich ausgemustert, 836 wegen Zuchthausstrafe usw. vom Heerdienste aus¬
geschlossen und die übrigen 221533 Mann der Ersatzreserve oder dem Land¬
sturm 1. Klasse überwiesen. In Prozenten ausgedrückt heißt das, daß von
100 Wehrpflichtigen nur 52,5 wirklich zum aktiven Heerdienst herangezogen
wurden, wobei von den nicht zum Dienst Herangezogenen 41 dienstfrei wurden,
ohne dienstuntauglich zu sein!

Das sind vom militärischen wie vom rechtlichen Standpunkte aus recht
bedenkliche Zahlen! Zeigen sie doch, daß wir in Deutschland zwar gesetzlich die
allgemeine Wehrpflicht, aber praktisch in keiner Weise die allgemeine Dienstpflicht
haben, indem eben von je zehn Wehrpflichtigen mehr als vier zu dieser Pflicht
weder persönlich noch materiell herangezogen werden, obgleich sie meist waffen¬
dienstfähig, jedenfalls aber in zahlreichen Füllen zu erheblichen materiellen Opfern
wohl in der Lage wären.

Daß dieser Zustand auf die Dauer rechtlich unhaltbar ist, liegt auf der
Hand. Das Volksbewußtsein macht zwischen Wehrpflicht und Dienstpflicht keinen
Unterschied; es verlangt einfach, daß jeder taugliche Wehrpflichtige auch zum
Heerdienst herangezogen werde. Sollte das geschehen, so müßte aber unsere
Präsenzstärke um rund 80 Prozent erhöht werden, ein Gedanke, dessen Durch¬
führung unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen des Reichs ausgeschlossen
ist und offenbar bei der starken Bevölkerung des Reichs auch militärisch nicht
unbedingt verwirklicht zu werden braucht; von Bedenken rein finanzieller Art
ganz abgesehen.

Wenn also angesichts der durch die wachsende Bevölkerung bei gleichbleibender
Präsenzstärke immer schlimmer werdenden Ungerechtigkeit unserer heutigen Wehr¬
verfassung die Spitze abgebrochen werden soll, kann dies nur auf die Weise
geschehen, daß allen denen, welche gar nicht oder nur kürzere Zeit zu dienen
haben, als Entgelt für diese erhebliche persönliche Entlastung ein materielles
Opfer auferlegt wird, das wenigstens einigermaßen einen wenn auch nicht vollen
Gegenwert darstellt, und daß anderseits denen, die ihren persönlichen Dienst
gesetzlich dem Vaterlande zu widmen haben, dafür eine Reihe von Vorrechten,
namentlich in Bezug auf den Erwerb öffentlicher Ämter, eingeräumt wird.


1. Die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen ein Vorrecht
des Besitzes

Die Auferlegung materieller Opfer auf die nicht oder nur in verkürzter
Form zum Heerdienst Herangezogenen ist für die deutsche Wehrverfassuug nicht,


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[0318] Allgemeine Wehrpflicht und Präsenzstärke infolge körperlicher Unbrauchbarkeit oder durch das Los vom aktiven Dienste frei und der Ersatzreserve oder dem Landsturm überwiesen wird. Wie hoch sich gerade die Zahl der nicht ausgehobenen Wehrpflichtigen stellt, ist nur wenigen bekannt. So wurden z. B. 1908 von 478354 ergäuzungs- geschäftlich behandelten Wehrpflichtigen und neben 61153 freiwillig Eingetretenen nur 221852 zum aktiven Dienst ausgehoben. Von ihnen wurden 34133 als untauglich ausgemustert, 836 wegen Zuchthausstrafe usw. vom Heerdienste aus¬ geschlossen und die übrigen 221533 Mann der Ersatzreserve oder dem Land¬ sturm 1. Klasse überwiesen. In Prozenten ausgedrückt heißt das, daß von 100 Wehrpflichtigen nur 52,5 wirklich zum aktiven Heerdienst herangezogen wurden, wobei von den nicht zum Dienst Herangezogenen 41 dienstfrei wurden, ohne dienstuntauglich zu sein! Das sind vom militärischen wie vom rechtlichen Standpunkte aus recht bedenkliche Zahlen! Zeigen sie doch, daß wir in Deutschland zwar gesetzlich die allgemeine Wehrpflicht, aber praktisch in keiner Weise die allgemeine Dienstpflicht haben, indem eben von je zehn Wehrpflichtigen mehr als vier zu dieser Pflicht weder persönlich noch materiell herangezogen werden, obgleich sie meist waffen¬ dienstfähig, jedenfalls aber in zahlreichen Füllen zu erheblichen materiellen Opfern wohl in der Lage wären. Daß dieser Zustand auf die Dauer rechtlich unhaltbar ist, liegt auf der Hand. Das Volksbewußtsein macht zwischen Wehrpflicht und Dienstpflicht keinen Unterschied; es verlangt einfach, daß jeder taugliche Wehrpflichtige auch zum Heerdienst herangezogen werde. Sollte das geschehen, so müßte aber unsere Präsenzstärke um rund 80 Prozent erhöht werden, ein Gedanke, dessen Durch¬ führung unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen des Reichs ausgeschlossen ist und offenbar bei der starken Bevölkerung des Reichs auch militärisch nicht unbedingt verwirklicht zu werden braucht; von Bedenken rein finanzieller Art ganz abgesehen. Wenn also angesichts der durch die wachsende Bevölkerung bei gleichbleibender Präsenzstärke immer schlimmer werdenden Ungerechtigkeit unserer heutigen Wehr¬ verfassung die Spitze abgebrochen werden soll, kann dies nur auf die Weise geschehen, daß allen denen, welche gar nicht oder nur kürzere Zeit zu dienen haben, als Entgelt für diese erhebliche persönliche Entlastung ein materielles Opfer auferlegt wird, das wenigstens einigermaßen einen wenn auch nicht vollen Gegenwert darstellt, und daß anderseits denen, die ihren persönlichen Dienst gesetzlich dem Vaterlande zu widmen haben, dafür eine Reihe von Vorrechten, namentlich in Bezug auf den Erwerb öffentlicher Ämter, eingeräumt wird. 1. Die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen ein Vorrecht des Besitzes Die Auferlegung materieller Opfer auf die nicht oder nur in verkürzter Form zum Heerdienst Herangezogenen ist für die deutsche Wehrverfassuug nicht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/318>, abgerufen am 29.04.2024.