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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Allgemeine Wehrpflicht und Präsenzstärke

wie man vielfach annimmt, etwas neues. Dieser Grundsatz hat schon seither praktische
Betätigung gefunden bei der Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen, die als
Gegenleistung dafür, daß sie mit Anrechnung von zwei zweimonatlichen Reserve¬
übungen statt sechsunddreißig bzw. vierundzwanzig Monaten nur sechszehn Monate
zu dienen haben, sich während ihres Dienstjahres in der Regel wenigstens selbst
kleiden, ausrüsten und verpflegen müssen und keinerlei Sold beziehen, so daß
das stehende Heer durch diese Freiwilligen ohne jede Auslage eine Verstärkung
über den Etat von jährlich rund 60000 Maun erfährt.

Man behauptet uun freilich gemeinhin, dieses Vorrecht der Mannschaften
mit höherer Schulbildung sei ein Bildungsprivileg. Diese Auffassung trifft
indessen nur bedingt zu und wenn die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen
ein reines Bildungsprivileg wäre, so wäre sie jedenfalls erst recht ein ungerechtes
Vorrecht; denn die höhere Schulbildung ist nur bedingt eine Gewähr für bessere
militärische Leistung und das Einjährig-Freiwilligen-Examen hat sowohl schul¬
technisch als militärisch betrachtet einen nicht allzu großen Wert. Mit den:
Bestehen dieses Examens ist keinerlei bestimmtes Bildungsziel erreicht. Die
Bildung des Einjährig-Freiwilligen ist keine abgeschlossene und deshalb schul¬
technisch eine halbe. Ebensowenig aber bietet diese Prüfung eine sichere Gewähr
für eine bessere militärische Leistung; denn die durch dieses Examen gewähr¬
leistete Schulbildung ist zwar ein Teil der Vorbedingung für die Verwendung
in den gehobenen Führerstellen des Heeres, aber in keiner Weise die Vor¬
bedingung einer guten militärischen Leistung für den gewöhnlichen Mann. Ein
mäßig begabter Schüler einer höheren Lehranstalt ist noch lange kein guter
Soldat und ein guter Schüler einer Volksschule bietet vielfach dieselbe Aussicht,
ein guter Soldat zu sein. Es ist Tatsache, daß Tausende von einfachen Volks¬
schülern nach dem ersten Jahre militärisch mindestens das gleiche, oftmals aber
auch wesentlich mehr leisten als mancher Einjährig-Freiwillige; es ist bekannt,
daß mancher tüchtige Bauern- oder Handwerkersohn durch seine körperliche
Gewandtheit und Stärke sowohl wie durch seinen hellen Kopf oftmals ganz
andere Dienste leistet als mancher militärisch unveranlagte höhere Schüler. Wie
wenig das von den Einjährig-Freiwilligen geforderte Bildungsmindestmaß oft
geeignet ist, für sich allein einen Anspruch auf Verkürzung der militärischen
Dienstzeit zu begründen, zeigt der altbekannte Hauptmannsgroll auf den "Ein-
jährigen, der die ganze Kompagnie verdirbt".

Die höhere Schulbildung ist also nur bedingt eine Gewähr für eine bessere
militärische Leistung und berechtigt deshalb keineswegs allein zu dem Anspruch
auf kürzere Dienstzeit. Wäre die Auffassung zutreffend, daß der Wehrpflichtige
mit höherer Schulbildung allein auf Grund dieser Bildung ein besserer Soldat
sein müsse und deshalb auf Grund dieser besseren Leistung schon nach einem
Jahre entlassen werden könne, dann könnte mit Recht überhaupt jeder Soldat,
der nach Ablauf eines Jahres einen bestimmten militärischen Reifegrad nach¬
zuweisen in der Lage ist, verlangen, daß er nun ohne weiteres zur Reserve


Allgemeine Wehrpflicht und Präsenzstärke

wie man vielfach annimmt, etwas neues. Dieser Grundsatz hat schon seither praktische
Betätigung gefunden bei der Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen, die als
Gegenleistung dafür, daß sie mit Anrechnung von zwei zweimonatlichen Reserve¬
übungen statt sechsunddreißig bzw. vierundzwanzig Monaten nur sechszehn Monate
zu dienen haben, sich während ihres Dienstjahres in der Regel wenigstens selbst
kleiden, ausrüsten und verpflegen müssen und keinerlei Sold beziehen, so daß
das stehende Heer durch diese Freiwilligen ohne jede Auslage eine Verstärkung
über den Etat von jährlich rund 60000 Maun erfährt.

Man behauptet uun freilich gemeinhin, dieses Vorrecht der Mannschaften
mit höherer Schulbildung sei ein Bildungsprivileg. Diese Auffassung trifft
indessen nur bedingt zu und wenn die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen
ein reines Bildungsprivileg wäre, so wäre sie jedenfalls erst recht ein ungerechtes
Vorrecht; denn die höhere Schulbildung ist nur bedingt eine Gewähr für bessere
militärische Leistung und das Einjährig-Freiwilligen-Examen hat sowohl schul¬
technisch als militärisch betrachtet einen nicht allzu großen Wert. Mit den:
Bestehen dieses Examens ist keinerlei bestimmtes Bildungsziel erreicht. Die
Bildung des Einjährig-Freiwilligen ist keine abgeschlossene und deshalb schul¬
technisch eine halbe. Ebensowenig aber bietet diese Prüfung eine sichere Gewähr
für eine bessere militärische Leistung; denn die durch dieses Examen gewähr¬
leistete Schulbildung ist zwar ein Teil der Vorbedingung für die Verwendung
in den gehobenen Führerstellen des Heeres, aber in keiner Weise die Vor¬
bedingung einer guten militärischen Leistung für den gewöhnlichen Mann. Ein
mäßig begabter Schüler einer höheren Lehranstalt ist noch lange kein guter
Soldat und ein guter Schüler einer Volksschule bietet vielfach dieselbe Aussicht,
ein guter Soldat zu sein. Es ist Tatsache, daß Tausende von einfachen Volks¬
schülern nach dem ersten Jahre militärisch mindestens das gleiche, oftmals aber
auch wesentlich mehr leisten als mancher Einjährig-Freiwillige; es ist bekannt,
daß mancher tüchtige Bauern- oder Handwerkersohn durch seine körperliche
Gewandtheit und Stärke sowohl wie durch seinen hellen Kopf oftmals ganz
andere Dienste leistet als mancher militärisch unveranlagte höhere Schüler. Wie
wenig das von den Einjährig-Freiwilligen geforderte Bildungsmindestmaß oft
geeignet ist, für sich allein einen Anspruch auf Verkürzung der militärischen
Dienstzeit zu begründen, zeigt der altbekannte Hauptmannsgroll auf den „Ein-
jährigen, der die ganze Kompagnie verdirbt".

Die höhere Schulbildung ist also nur bedingt eine Gewähr für eine bessere
militärische Leistung und berechtigt deshalb keineswegs allein zu dem Anspruch
auf kürzere Dienstzeit. Wäre die Auffassung zutreffend, daß der Wehrpflichtige
mit höherer Schulbildung allein auf Grund dieser Bildung ein besserer Soldat
sein müsse und deshalb auf Grund dieser besseren Leistung schon nach einem
Jahre entlassen werden könne, dann könnte mit Recht überhaupt jeder Soldat,
der nach Ablauf eines Jahres einen bestimmten militärischen Reifegrad nach¬
zuweisen in der Lage ist, verlangen, daß er nun ohne weiteres zur Reserve


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[0319] Allgemeine Wehrpflicht und Präsenzstärke wie man vielfach annimmt, etwas neues. Dieser Grundsatz hat schon seither praktische Betätigung gefunden bei der Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen, die als Gegenleistung dafür, daß sie mit Anrechnung von zwei zweimonatlichen Reserve¬ übungen statt sechsunddreißig bzw. vierundzwanzig Monaten nur sechszehn Monate zu dienen haben, sich während ihres Dienstjahres in der Regel wenigstens selbst kleiden, ausrüsten und verpflegen müssen und keinerlei Sold beziehen, so daß das stehende Heer durch diese Freiwilligen ohne jede Auslage eine Verstärkung über den Etat von jährlich rund 60000 Maun erfährt. Man behauptet uun freilich gemeinhin, dieses Vorrecht der Mannschaften mit höherer Schulbildung sei ein Bildungsprivileg. Diese Auffassung trifft indessen nur bedingt zu und wenn die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen ein reines Bildungsprivileg wäre, so wäre sie jedenfalls erst recht ein ungerechtes Vorrecht; denn die höhere Schulbildung ist nur bedingt eine Gewähr für bessere militärische Leistung und das Einjährig-Freiwilligen-Examen hat sowohl schul¬ technisch als militärisch betrachtet einen nicht allzu großen Wert. Mit den: Bestehen dieses Examens ist keinerlei bestimmtes Bildungsziel erreicht. Die Bildung des Einjährig-Freiwilligen ist keine abgeschlossene und deshalb schul¬ technisch eine halbe. Ebensowenig aber bietet diese Prüfung eine sichere Gewähr für eine bessere militärische Leistung; denn die durch dieses Examen gewähr¬ leistete Schulbildung ist zwar ein Teil der Vorbedingung für die Verwendung in den gehobenen Führerstellen des Heeres, aber in keiner Weise die Vor¬ bedingung einer guten militärischen Leistung für den gewöhnlichen Mann. Ein mäßig begabter Schüler einer höheren Lehranstalt ist noch lange kein guter Soldat und ein guter Schüler einer Volksschule bietet vielfach dieselbe Aussicht, ein guter Soldat zu sein. Es ist Tatsache, daß Tausende von einfachen Volks¬ schülern nach dem ersten Jahre militärisch mindestens das gleiche, oftmals aber auch wesentlich mehr leisten als mancher Einjährig-Freiwillige; es ist bekannt, daß mancher tüchtige Bauern- oder Handwerkersohn durch seine körperliche Gewandtheit und Stärke sowohl wie durch seinen hellen Kopf oftmals ganz andere Dienste leistet als mancher militärisch unveranlagte höhere Schüler. Wie wenig das von den Einjährig-Freiwilligen geforderte Bildungsmindestmaß oft geeignet ist, für sich allein einen Anspruch auf Verkürzung der militärischen Dienstzeit zu begründen, zeigt der altbekannte Hauptmannsgroll auf den „Ein- jährigen, der die ganze Kompagnie verdirbt". Die höhere Schulbildung ist also nur bedingt eine Gewähr für eine bessere militärische Leistung und berechtigt deshalb keineswegs allein zu dem Anspruch auf kürzere Dienstzeit. Wäre die Auffassung zutreffend, daß der Wehrpflichtige mit höherer Schulbildung allein auf Grund dieser Bildung ein besserer Soldat sein müsse und deshalb auf Grund dieser besseren Leistung schon nach einem Jahre entlassen werden könne, dann könnte mit Recht überhaupt jeder Soldat, der nach Ablauf eines Jahres einen bestimmten militärischen Reifegrad nach¬ zuweisen in der Lage ist, verlangen, daß er nun ohne weiteres zur Reserve

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/319>, abgerufen am 15.05.2024.