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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Alcirungen im Innern

Das Reichstagspräsidium -- Die Kanzlerrede -- Stellung der Regierung -- (Zuista
non movsre

Die abgelaufene Woche hat einige Klärungen in die innerpolitische Lage
gebracht. Darüber sind die laut gewordenen Stimmen aus allen Lagern
einig. Die Wahl des Reichstagspräsidiums darf zwar noch nicht als end¬
gültig bezeichnet werden, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach in vier Wochen
wiederholt werden dürfte. Aber die Aussprache, die von der Tribüne des
Reichstages herab zwischen dem Kanzler und den Parteien stattgefunden, gibt
doch Ausblicke und Einblicke, die in der ersten Hälfte der Woche noch un¬
möglich waren.

Im Mittelpunkt des Interesses steht die Rede des Kanzlers selbst: nach
übereinstimmendem Urteil aller derer, die ich darüber befragen konnte, ist sie
Herrn von Bethmanns beste oratorische Leistung! Wenn sie dennoch nicht
hinreißend und parteibildend wirkte, so hat das seinen Grund darin, daß der
Kanzler den von ihm selbst als Hauptersordernis erkannten Bedürfnissen eine
klare Formulierung nicht gab. Wirklich klar hat sich der Kanzler eigentlich
nur über seine Auffassungen von den Zielen der Sozialdemokratie ausgedrückt.
Damit hat er aber weder etwas Neues gesagt, noch hat er das Alte in ein
neues Gewand gekleidet. Diese Auseinandersetzungen unserer leitenden Staats¬
männer mit der Sozialdemokratie sind zu einer gewissen Tradition geworden;
sie kehren jedes Jahr ebenso regelmäßig wieder, wie die Angriffe der Sozial¬
demokraten aus Rußland, auf die wiederum ebenso regelmäßig der Leiter
unserer auswärtigen Politik sich erhebt und die Worte spricht: "Der Herr
Abgeordnete hat Angriffe gegen die Regierung unseres großen Nachbarreiches,
mit dem wir in Frieden und Freundschaft leben, gerichtet. Diese Angriffe
usw. . . Den Sozialdemokraten haben alle diese Worte nicht ein Haar
gekrümmt. Der Sozialdemokratie gegenüber fordert das Bürgertum Taten!
Die ganz weit rechts stehenden fordern Repressalien, die Vermittelnden Beseitigung
der Ursachen für das Anwachsen der Umsturzpartei und die Linken fordern
deren Anerkennung. Der Herr Reichskanzler konnte keine dieser Gruppen
befriedigen, denn er wagte nicht das Übel an der Wurzel zu fassen: er hat
der Nation nicht eine jener großen das Staatsleben füllenden Aufgaben gezeigt,
von denen er selbst sagt, daß sie "die Sehnsucht aller Schichten unseres Volkes"




Reichsspiegel
Alcirungen im Innern

Das Reichstagspräsidium — Die Kanzlerrede — Stellung der Regierung — (Zuista
non movsre

Die abgelaufene Woche hat einige Klärungen in die innerpolitische Lage
gebracht. Darüber sind die laut gewordenen Stimmen aus allen Lagern
einig. Die Wahl des Reichstagspräsidiums darf zwar noch nicht als end¬
gültig bezeichnet werden, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach in vier Wochen
wiederholt werden dürfte. Aber die Aussprache, die von der Tribüne des
Reichstages herab zwischen dem Kanzler und den Parteien stattgefunden, gibt
doch Ausblicke und Einblicke, die in der ersten Hälfte der Woche noch un¬
möglich waren.

Im Mittelpunkt des Interesses steht die Rede des Kanzlers selbst: nach
übereinstimmendem Urteil aller derer, die ich darüber befragen konnte, ist sie
Herrn von Bethmanns beste oratorische Leistung! Wenn sie dennoch nicht
hinreißend und parteibildend wirkte, so hat das seinen Grund darin, daß der
Kanzler den von ihm selbst als Hauptersordernis erkannten Bedürfnissen eine
klare Formulierung nicht gab. Wirklich klar hat sich der Kanzler eigentlich
nur über seine Auffassungen von den Zielen der Sozialdemokratie ausgedrückt.
Damit hat er aber weder etwas Neues gesagt, noch hat er das Alte in ein
neues Gewand gekleidet. Diese Auseinandersetzungen unserer leitenden Staats¬
männer mit der Sozialdemokratie sind zu einer gewissen Tradition geworden;
sie kehren jedes Jahr ebenso regelmäßig wieder, wie die Angriffe der Sozial¬
demokraten aus Rußland, auf die wiederum ebenso regelmäßig der Leiter
unserer auswärtigen Politik sich erhebt und die Worte spricht: „Der Herr
Abgeordnete hat Angriffe gegen die Regierung unseres großen Nachbarreiches,
mit dem wir in Frieden und Freundschaft leben, gerichtet. Diese Angriffe
usw. . . Den Sozialdemokraten haben alle diese Worte nicht ein Haar
gekrümmt. Der Sozialdemokratie gegenüber fordert das Bürgertum Taten!
Die ganz weit rechts stehenden fordern Repressalien, die Vermittelnden Beseitigung
der Ursachen für das Anwachsen der Umsturzpartei und die Linken fordern
deren Anerkennung. Der Herr Reichskanzler konnte keine dieser Gruppen
befriedigen, denn er wagte nicht das Übel an der Wurzel zu fassen: er hat
der Nation nicht eine jener großen das Staatsleben füllenden Aufgaben gezeigt,
von denen er selbst sagt, daß sie „die Sehnsucht aller Schichten unseres Volkes"


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[0406] [Abbildung] Reichsspiegel Alcirungen im Innern Das Reichstagspräsidium — Die Kanzlerrede — Stellung der Regierung — (Zuista non movsre Die abgelaufene Woche hat einige Klärungen in die innerpolitische Lage gebracht. Darüber sind die laut gewordenen Stimmen aus allen Lagern einig. Die Wahl des Reichstagspräsidiums darf zwar noch nicht als end¬ gültig bezeichnet werden, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach in vier Wochen wiederholt werden dürfte. Aber die Aussprache, die von der Tribüne des Reichstages herab zwischen dem Kanzler und den Parteien stattgefunden, gibt doch Ausblicke und Einblicke, die in der ersten Hälfte der Woche noch un¬ möglich waren. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Rede des Kanzlers selbst: nach übereinstimmendem Urteil aller derer, die ich darüber befragen konnte, ist sie Herrn von Bethmanns beste oratorische Leistung! Wenn sie dennoch nicht hinreißend und parteibildend wirkte, so hat das seinen Grund darin, daß der Kanzler den von ihm selbst als Hauptersordernis erkannten Bedürfnissen eine klare Formulierung nicht gab. Wirklich klar hat sich der Kanzler eigentlich nur über seine Auffassungen von den Zielen der Sozialdemokratie ausgedrückt. Damit hat er aber weder etwas Neues gesagt, noch hat er das Alte in ein neues Gewand gekleidet. Diese Auseinandersetzungen unserer leitenden Staats¬ männer mit der Sozialdemokratie sind zu einer gewissen Tradition geworden; sie kehren jedes Jahr ebenso regelmäßig wieder, wie die Angriffe der Sozial¬ demokraten aus Rußland, auf die wiederum ebenso regelmäßig der Leiter unserer auswärtigen Politik sich erhebt und die Worte spricht: „Der Herr Abgeordnete hat Angriffe gegen die Regierung unseres großen Nachbarreiches, mit dem wir in Frieden und Freundschaft leben, gerichtet. Diese Angriffe usw. . . Den Sozialdemokraten haben alle diese Worte nicht ein Haar gekrümmt. Der Sozialdemokratie gegenüber fordert das Bürgertum Taten! Die ganz weit rechts stehenden fordern Repressalien, die Vermittelnden Beseitigung der Ursachen für das Anwachsen der Umsturzpartei und die Linken fordern deren Anerkennung. Der Herr Reichskanzler konnte keine dieser Gruppen befriedigen, denn er wagte nicht das Übel an der Wurzel zu fassen: er hat der Nation nicht eine jener großen das Staatsleben füllenden Aufgaben gezeigt, von denen er selbst sagt, daß sie „die Sehnsucht aller Schichten unseres Volkes"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/406>, abgerufen am 29.04.2024.