Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspiegel

bilden. Erbanfallsteuer, Heeres- und Flottenvermehrungen sind ebenso wie die
die Volkswohlfahrt aufbauenden sozialen Gesetze allmählich zur Alltagsarbeit
politischer Pflichterfüllung geworden, aus der der Nation neues Feuer nicht
oder doch nur mit Hilfe von neroenzerrüttenden Übertreibungen zu erglühen
vermag. Die Sehnsucht könnte nur gestillt werden durch einen gewaltigen,
das Bestehende durchgreifend ändernden All, sei es nun auf dem Gebiete
der innern oder äußern Politik. Und sie wird gestillt werden! Denn
ein Naturgesetz scheint es zu geben, nach dem gesunde wachsende Völker ebenso
wie gesunde wachsende Menschen ihren Kräfteüberschuß an sich selbst oder ihrer
Umgebung auslassen müssen, ohne Rücksicht darauf ob zum eigenen Schaden
oder eigenen Nutzen. Fehlt dann im geeigneten Augenblick eine starke ziel¬
bewußte Regierungsgewalt, dann kann es auch den Deutschen ergehen, wie seinerzeit
den Franzosen, als Napoleons des Dritten Ehrgeiz dem Drängen der Kriegs¬
hetzer nachgab. Die deutsche Regierung hat sich zwar im abgelaufenen Jahre
bewährt. Es handelte sich um Krieg oder Frieden. Wird sie aber bei den
gegenwärtig vorhandenen Sicherheitsventilen an der Reichsmaschine auch einem
innern Ansturm auf die Dauer standhalten können? Sollte sich an den Kesselwänden
nicht arg viel Kesselstein angesammelt haben, der ihnen die Elastizität mindert,
wo doch die Anforderungen, der Druck ständig wachsen? Ich bin in dieser
Beziehung Pessimist, trotz aller persönlicher Wertschätzung für den Reichskanzler,
und seine Rede, die von den Nationalliberale" so bejubelt wird, vermag meinen
Pessimismus nicht zu beseitigen.

In der Rede fehlt wirklich alles, was uns gestattete, den Blick vorwärts
zu richten. Das wenige, was sie an Erfreulichen enthält, nämlich das Bekenntnis
zur Erbanfallsteuer, konnte der Herr Reichskanzler schon vor fast drei Jahren
zum Ausdruck bringen. Durch eine rechtzeitige Auflösung des alten Reichstags
hätte er der Selbstzerfleischung der bürgerlichen Parteien wirksamer Einhalt
geboten als durch seinen jüngsten Sammlungsruf, der eigentlich nur eine
Spaltung der nationalliberalen Partei zur Folge haben kann. Dank der
Haltung der Regierung haben sich die Verhältnisse so weit zugespitzt, daß eine
Parole gegen die Sozialdemokratie ohne bestimmte Maßnahmen heute ebenso¬
wenig geeignet ist das Bürgertum zu sammeln, wie etwa die Versicherung:
"Zu einer weiteren Demokratisierung unseres Wahlrechts und zu einem Angriff
auf die Grundlagen der Reichsverfassung werde ich die Hand nicht bieten."
Die bürgerlichen Parteien wollen die Stärkung einer Regierungsgewalt, die sich
auf das Vertrauen der Nation stützt; sie wünschen der Bureaukratie neue
geistige und moralische Kräfte zuzuführen -- jede Partei auf ihre Weise --, aber sie
wollen keine Erstarrung oder Mumifizierung des bestehenden Systems. In dieser
Richtung war des Kanzlers Rede durchaus negativ und darum hat sie auch enttäuscht.

Zustimmen wird man dem Herrn Reichskanzler in seinen Ausführungen
über die Unmoral der Stichwahlen. Aber wird er in der Lage sein, das
System abzuändern, ohne die Wahlkreiseinteilung zu berühren? Und wenn er


Reichsspiegel

bilden. Erbanfallsteuer, Heeres- und Flottenvermehrungen sind ebenso wie die
die Volkswohlfahrt aufbauenden sozialen Gesetze allmählich zur Alltagsarbeit
politischer Pflichterfüllung geworden, aus der der Nation neues Feuer nicht
oder doch nur mit Hilfe von neroenzerrüttenden Übertreibungen zu erglühen
vermag. Die Sehnsucht könnte nur gestillt werden durch einen gewaltigen,
das Bestehende durchgreifend ändernden All, sei es nun auf dem Gebiete
der innern oder äußern Politik. Und sie wird gestillt werden! Denn
ein Naturgesetz scheint es zu geben, nach dem gesunde wachsende Völker ebenso
wie gesunde wachsende Menschen ihren Kräfteüberschuß an sich selbst oder ihrer
Umgebung auslassen müssen, ohne Rücksicht darauf ob zum eigenen Schaden
oder eigenen Nutzen. Fehlt dann im geeigneten Augenblick eine starke ziel¬
bewußte Regierungsgewalt, dann kann es auch den Deutschen ergehen, wie seinerzeit
den Franzosen, als Napoleons des Dritten Ehrgeiz dem Drängen der Kriegs¬
hetzer nachgab. Die deutsche Regierung hat sich zwar im abgelaufenen Jahre
bewährt. Es handelte sich um Krieg oder Frieden. Wird sie aber bei den
gegenwärtig vorhandenen Sicherheitsventilen an der Reichsmaschine auch einem
innern Ansturm auf die Dauer standhalten können? Sollte sich an den Kesselwänden
nicht arg viel Kesselstein angesammelt haben, der ihnen die Elastizität mindert,
wo doch die Anforderungen, der Druck ständig wachsen? Ich bin in dieser
Beziehung Pessimist, trotz aller persönlicher Wertschätzung für den Reichskanzler,
und seine Rede, die von den Nationalliberale» so bejubelt wird, vermag meinen
Pessimismus nicht zu beseitigen.

In der Rede fehlt wirklich alles, was uns gestattete, den Blick vorwärts
zu richten. Das wenige, was sie an Erfreulichen enthält, nämlich das Bekenntnis
zur Erbanfallsteuer, konnte der Herr Reichskanzler schon vor fast drei Jahren
zum Ausdruck bringen. Durch eine rechtzeitige Auflösung des alten Reichstags
hätte er der Selbstzerfleischung der bürgerlichen Parteien wirksamer Einhalt
geboten als durch seinen jüngsten Sammlungsruf, der eigentlich nur eine
Spaltung der nationalliberalen Partei zur Folge haben kann. Dank der
Haltung der Regierung haben sich die Verhältnisse so weit zugespitzt, daß eine
Parole gegen die Sozialdemokratie ohne bestimmte Maßnahmen heute ebenso¬
wenig geeignet ist das Bürgertum zu sammeln, wie etwa die Versicherung:
„Zu einer weiteren Demokratisierung unseres Wahlrechts und zu einem Angriff
auf die Grundlagen der Reichsverfassung werde ich die Hand nicht bieten."
Die bürgerlichen Parteien wollen die Stärkung einer Regierungsgewalt, die sich
auf das Vertrauen der Nation stützt; sie wünschen der Bureaukratie neue
geistige und moralische Kräfte zuzuführen — jede Partei auf ihre Weise —, aber sie
wollen keine Erstarrung oder Mumifizierung des bestehenden Systems. In dieser
Richtung war des Kanzlers Rede durchaus negativ und darum hat sie auch enttäuscht.

Zustimmen wird man dem Herrn Reichskanzler in seinen Ausführungen
über die Unmoral der Stichwahlen. Aber wird er in der Lage sein, das
System abzuändern, ohne die Wahlkreiseinteilung zu berühren? Und wenn er


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0407" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320824"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1738" prev="#ID_1737"> bilden. Erbanfallsteuer, Heeres- und Flottenvermehrungen sind ebenso wie die<lb/>
die Volkswohlfahrt aufbauenden sozialen Gesetze allmählich zur Alltagsarbeit<lb/>
politischer Pflichterfüllung geworden, aus der der Nation neues Feuer nicht<lb/>
oder doch nur mit Hilfe von neroenzerrüttenden Übertreibungen zu erglühen<lb/>
vermag. Die Sehnsucht könnte nur gestillt werden durch einen gewaltigen,<lb/>
das Bestehende durchgreifend ändernden All, sei es nun auf dem Gebiete<lb/>
der innern oder äußern Politik. Und sie wird gestillt werden! Denn<lb/>
ein Naturgesetz scheint es zu geben, nach dem gesunde wachsende Völker ebenso<lb/>
wie gesunde wachsende Menschen ihren Kräfteüberschuß an sich selbst oder ihrer<lb/>
Umgebung auslassen müssen, ohne Rücksicht darauf ob zum eigenen Schaden<lb/>
oder eigenen Nutzen. Fehlt dann im geeigneten Augenblick eine starke ziel¬<lb/>
bewußte Regierungsgewalt, dann kann es auch den Deutschen ergehen, wie seinerzeit<lb/>
den Franzosen, als Napoleons des Dritten Ehrgeiz dem Drängen der Kriegs¬<lb/>
hetzer nachgab. Die deutsche Regierung hat sich zwar im abgelaufenen Jahre<lb/>
bewährt. Es handelte sich um Krieg oder Frieden. Wird sie aber bei den<lb/>
gegenwärtig vorhandenen Sicherheitsventilen an der Reichsmaschine auch einem<lb/>
innern Ansturm auf die Dauer standhalten können? Sollte sich an den Kesselwänden<lb/>
nicht arg viel Kesselstein angesammelt haben, der ihnen die Elastizität mindert,<lb/>
wo doch die Anforderungen, der Druck ständig wachsen? Ich bin in dieser<lb/>
Beziehung Pessimist, trotz aller persönlicher Wertschätzung für den Reichskanzler,<lb/>
und seine Rede, die von den Nationalliberale» so bejubelt wird, vermag meinen<lb/>
Pessimismus nicht zu beseitigen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1739"> In der Rede fehlt wirklich alles, was uns gestattete, den Blick vorwärts<lb/>
zu richten. Das wenige, was sie an Erfreulichen enthält, nämlich das Bekenntnis<lb/>
zur Erbanfallsteuer, konnte der Herr Reichskanzler schon vor fast drei Jahren<lb/>
zum Ausdruck bringen. Durch eine rechtzeitige Auflösung des alten Reichstags<lb/>
hätte er der Selbstzerfleischung der bürgerlichen Parteien wirksamer Einhalt<lb/>
geboten als durch seinen jüngsten Sammlungsruf, der eigentlich nur eine<lb/>
Spaltung der nationalliberalen Partei zur Folge haben kann. Dank der<lb/>
Haltung der Regierung haben sich die Verhältnisse so weit zugespitzt, daß eine<lb/>
Parole gegen die Sozialdemokratie ohne bestimmte Maßnahmen heute ebenso¬<lb/>
wenig geeignet ist das Bürgertum zu sammeln, wie etwa die Versicherung:<lb/>
&#x201E;Zu einer weiteren Demokratisierung unseres Wahlrechts und zu einem Angriff<lb/>
auf die Grundlagen der Reichsverfassung werde ich die Hand nicht bieten."<lb/>
Die bürgerlichen Parteien wollen die Stärkung einer Regierungsgewalt, die sich<lb/>
auf das Vertrauen der Nation stützt; sie wünschen der Bureaukratie neue<lb/>
geistige und moralische Kräfte zuzuführen &#x2014; jede Partei auf ihre Weise &#x2014;, aber sie<lb/>
wollen keine Erstarrung oder Mumifizierung des bestehenden Systems. In dieser<lb/>
Richtung war des Kanzlers Rede durchaus negativ und darum hat sie auch enttäuscht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1740" next="#ID_1741"> Zustimmen wird man dem Herrn Reichskanzler in seinen Ausführungen<lb/>
über die Unmoral der Stichwahlen. Aber wird er in der Lage sein, das<lb/>
System abzuändern, ohne die Wahlkreiseinteilung zu berühren? Und wenn er</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0407] Reichsspiegel bilden. Erbanfallsteuer, Heeres- und Flottenvermehrungen sind ebenso wie die die Volkswohlfahrt aufbauenden sozialen Gesetze allmählich zur Alltagsarbeit politischer Pflichterfüllung geworden, aus der der Nation neues Feuer nicht oder doch nur mit Hilfe von neroenzerrüttenden Übertreibungen zu erglühen vermag. Die Sehnsucht könnte nur gestillt werden durch einen gewaltigen, das Bestehende durchgreifend ändernden All, sei es nun auf dem Gebiete der innern oder äußern Politik. Und sie wird gestillt werden! Denn ein Naturgesetz scheint es zu geben, nach dem gesunde wachsende Völker ebenso wie gesunde wachsende Menschen ihren Kräfteüberschuß an sich selbst oder ihrer Umgebung auslassen müssen, ohne Rücksicht darauf ob zum eigenen Schaden oder eigenen Nutzen. Fehlt dann im geeigneten Augenblick eine starke ziel¬ bewußte Regierungsgewalt, dann kann es auch den Deutschen ergehen, wie seinerzeit den Franzosen, als Napoleons des Dritten Ehrgeiz dem Drängen der Kriegs¬ hetzer nachgab. Die deutsche Regierung hat sich zwar im abgelaufenen Jahre bewährt. Es handelte sich um Krieg oder Frieden. Wird sie aber bei den gegenwärtig vorhandenen Sicherheitsventilen an der Reichsmaschine auch einem innern Ansturm auf die Dauer standhalten können? Sollte sich an den Kesselwänden nicht arg viel Kesselstein angesammelt haben, der ihnen die Elastizität mindert, wo doch die Anforderungen, der Druck ständig wachsen? Ich bin in dieser Beziehung Pessimist, trotz aller persönlicher Wertschätzung für den Reichskanzler, und seine Rede, die von den Nationalliberale» so bejubelt wird, vermag meinen Pessimismus nicht zu beseitigen. In der Rede fehlt wirklich alles, was uns gestattete, den Blick vorwärts zu richten. Das wenige, was sie an Erfreulichen enthält, nämlich das Bekenntnis zur Erbanfallsteuer, konnte der Herr Reichskanzler schon vor fast drei Jahren zum Ausdruck bringen. Durch eine rechtzeitige Auflösung des alten Reichstags hätte er der Selbstzerfleischung der bürgerlichen Parteien wirksamer Einhalt geboten als durch seinen jüngsten Sammlungsruf, der eigentlich nur eine Spaltung der nationalliberalen Partei zur Folge haben kann. Dank der Haltung der Regierung haben sich die Verhältnisse so weit zugespitzt, daß eine Parole gegen die Sozialdemokratie ohne bestimmte Maßnahmen heute ebenso¬ wenig geeignet ist das Bürgertum zu sammeln, wie etwa die Versicherung: „Zu einer weiteren Demokratisierung unseres Wahlrechts und zu einem Angriff auf die Grundlagen der Reichsverfassung werde ich die Hand nicht bieten." Die bürgerlichen Parteien wollen die Stärkung einer Regierungsgewalt, die sich auf das Vertrauen der Nation stützt; sie wünschen der Bureaukratie neue geistige und moralische Kräfte zuzuführen — jede Partei auf ihre Weise —, aber sie wollen keine Erstarrung oder Mumifizierung des bestehenden Systems. In dieser Richtung war des Kanzlers Rede durchaus negativ und darum hat sie auch enttäuscht. Zustimmen wird man dem Herrn Reichskanzler in seinen Ausführungen über die Unmoral der Stichwahlen. Aber wird er in der Lage sein, das System abzuändern, ohne die Wahlkreiseinteilung zu berühren? Und wenn er

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/407
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/407>, abgerufen am 15.05.2024.