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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Auswärtige Politik

Dschanet und solum -- Drei Monate in Tripolis -- Beunruhigung auf dein Balkan --
Rusland -- China -- Der- JahreS-Saldo -- Deutsche Aufgaben

Die letzte Dezemberdekade hat vor Jahresschluß uoch einige wichtige Ent¬
scheidungen zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht. Während die Italiener
nach zweimonatigem Ringen nicht einen Schritt tiefer ins Hinterland von
Tripolis vordringet! konnten, haben die Franzosen, ohne einen Schwertstreich
zu führen, am 27. November die Oase von Dschanet in der Sahara besetzt,
um die Sicherheit an den östlichen und südlichen Grenzen von Tunis gewähr¬
leisten zu können. Die Engländer (formell Ägypten) aber haben sich seitens
der Türkei die Westküste der Bucht von So tun abtreten lassen. Die Presse
aller Länder ist durch die beiden Schritte höchst überrascht worden, aber sie hat
sich nach Verzeichnung der Tatsachen schnell beruhigt und ist wieder zur Tages-
ordnung übergegangen. Die Folgen des französischen Schrittes brauchen nicht
schwer genommen zu werden, selbst wenn auch bei den Italienern einige Bitterkeit
darüber gegen die Franzosen aufsteigen sollte. Anders steht es mit bezug auf
England. Hier scheint eine gegen die Stärkung der strategischen Stellung
Italiens im Mittelmeer gerichtete Aktion ihren Anfang zu nehmen. Doch sind
in dieser Beziehung einstweilen auch nur Vermutungen am Platze, da keinerlei
Anhaltsp nutte dafür zu finden sind, daß England ohne die Einwilligung Italiens
gehandelt hätte.

Den Italienern geht es nun drei Monate nach ihrem Überfall auf die
friedliche Türkei herzlich schlecht. Im Rausch und unter dem Druck einer
chauvinistisch erregten öffentlichen Meinung begonnen, hat der Handstreich sich
zu einem schwierigen Krieg entwickelt. Man hat es versäumt, sich auf ein hartes
Ringen vorzubereiten. Jetzt machen sich alle üblen Folgen des Leichtsinns
bemerkbar. Je länger der Krieg dauert, um so größer ist die Gefahr für
Italien, mit blutigem Kopfe ohne einen Preis heinigeschickt zu werden. Solche
Gedanken mögen es den italienischen Staatsmännern vielleicht ratsam erscheinen
küssen, das am Anfang des Krieges den Mächten gegebene Versprechen, die




Reichsspiegel
Auswärtige Politik

Dschanet und solum — Drei Monate in Tripolis — Beunruhigung auf dein Balkan —
Rusland — China — Der- JahreS-Saldo — Deutsche Aufgaben

Die letzte Dezemberdekade hat vor Jahresschluß uoch einige wichtige Ent¬
scheidungen zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht. Während die Italiener
nach zweimonatigem Ringen nicht einen Schritt tiefer ins Hinterland von
Tripolis vordringet! konnten, haben die Franzosen, ohne einen Schwertstreich
zu führen, am 27. November die Oase von Dschanet in der Sahara besetzt,
um die Sicherheit an den östlichen und südlichen Grenzen von Tunis gewähr¬
leisten zu können. Die Engländer (formell Ägypten) aber haben sich seitens
der Türkei die Westküste der Bucht von So tun abtreten lassen. Die Presse
aller Länder ist durch die beiden Schritte höchst überrascht worden, aber sie hat
sich nach Verzeichnung der Tatsachen schnell beruhigt und ist wieder zur Tages-
ordnung übergegangen. Die Folgen des französischen Schrittes brauchen nicht
schwer genommen zu werden, selbst wenn auch bei den Italienern einige Bitterkeit
darüber gegen die Franzosen aufsteigen sollte. Anders steht es mit bezug auf
England. Hier scheint eine gegen die Stärkung der strategischen Stellung
Italiens im Mittelmeer gerichtete Aktion ihren Anfang zu nehmen. Doch sind
in dieser Beziehung einstweilen auch nur Vermutungen am Platze, da keinerlei
Anhaltsp nutte dafür zu finden sind, daß England ohne die Einwilligung Italiens
gehandelt hätte.

Den Italienern geht es nun drei Monate nach ihrem Überfall auf die
friedliche Türkei herzlich schlecht. Im Rausch und unter dem Druck einer
chauvinistisch erregten öffentlichen Meinung begonnen, hat der Handstreich sich
zu einem schwierigen Krieg entwickelt. Man hat es versäumt, sich auf ein hartes
Ringen vorzubereiten. Jetzt machen sich alle üblen Folgen des Leichtsinns
bemerkbar. Je länger der Krieg dauert, um so größer ist die Gefahr für
Italien, mit blutigem Kopfe ohne einen Preis heinigeschickt zu werden. Solche
Gedanken mögen es den italienischen Staatsmännern vielleicht ratsam erscheinen
küssen, das am Anfang des Krieges den Mächten gegebene Versprechen, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/56>, abgerufen am 29.04.2024.