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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Balkanhalbinsel nicht betreten zu wollen, zu brechen. Denn es scheint fast, als
sei unter den einmal vorhandenen Verhältnissen ein Sieg, eine Eroberung
Tripolitaniens ausgeschlossen.

Diese Aussichten beunruhigen naturgemäß alle an der Türkei inter¬
essierten Staaten aufs höchste, nicht zuletzt die Balkanstaaten selber. Die
Habsburgische Doppelmonarchie hat ihre Besorgnis wegen Aufrechterhaltung des
Friedens so deutlich wie möglich zum Ausdruck gebracht in den Mehrforde-
rnngen für die Armee, die der Reichskriegsminister in der ungarischen Delegation
durch eine den Wert der deutsch-österreichischen Freundschaft warm betonende
Rede begleitet hat. Auch die kleinen Staaten, Bulgarien, Serbien und Ru¬
mänien bereiten sich auf ein gewitterreiches Frühjahr vor. '

Rußland setzt inzwischen seine friedliche Eroberung Persiens fort und zieht
auch an die Grenzen der Mandschurei neue Truppenmengen, um den Vorgängen
in China um so gelassener zusehen zu können. Die leichten Siege an den losen
asiatischen Grenzen lassen den russischen Chauvinisten wieder arg den Kamin
schwellen. Die Reden, die jüngst in der Neichsduma gegen die Vereinigten
Staaten von Amerika gehalten wurden, die Anträge auf Aussperrung der
amerikanischen Juden sowie auf Erhöhung der Zölle auf amerikanische Waren
zeugen jedenfalls von hohem Selbstbewußtsein einer -- Masse. Wie sich die
Dinge in der Praxis gestalten, muß abgewartet werden.

In China hat sich die Lage nach vorübergehender Besserung wieder ver¬
schlimmert. Die extreme republikanische Partei will ihre Forderung, China in
eine Republik auf föderativer Grundlage zu verwandeln, nicht fallen lassen und
drängt zur Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. Die Mongolei steht bereits
im Begriff, sich eine eigene Verfassung zu geben. Von einer vollendeten Tat¬
sache zu sprechen, wäre indessen verfrüht, wenn auch die Meldungen aus
Petersburg solches glaubhaft machen wollen. An der Newa mag der Wunsch
Vater des Gedankens geworden sein. Nußland könnte es ja nur sehr angenehm
sein, wenn neben Tibet ein zweiter, aus sich heraus nicht lebensfähiger Staat
entstände, in dem die russischen Agenten die tatsächliche Herrschaft ausübten. --
Um die Geschicke Chinas bemühen sich besonders Japan und die Vereinigten
Staaten Nordamerikas. Letzteres hat nach den neuesten Zeitungsmeldnngen schon
elf Kriegsschiffe an den ostasiatischen Gestaden vereinigt.

So hat uns denn das alte Jahr eine Fülle wenn nicht neuer, so doch
brennender Fragen hinterlassen und von den älteren Problemen keines
vollständig gelöst. Die Marokkoangelegenheit, die den vergangenen Sommer
besonders unbehaglich machte und in den letzten Tagen Anlaß zu erregten
Debatten in der französischen Senatskommission bot, ist jedenfalls noch nicht
vollständig von der Tagesordnung verschwunden. Wenn auch zwischen Deutsch¬
land und Frankreich eine ganze Reihe von Reibflächen beseitigt sind, dürfte es
doch noch hier und da, abgesehen von den spanisch - französischen Differenzen,
Meinungsverschiedenheiten geben.


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Balkanhalbinsel nicht betreten zu wollen, zu brechen. Denn es scheint fast, als
sei unter den einmal vorhandenen Verhältnissen ein Sieg, eine Eroberung
Tripolitaniens ausgeschlossen.

Diese Aussichten beunruhigen naturgemäß alle an der Türkei inter¬
essierten Staaten aufs höchste, nicht zuletzt die Balkanstaaten selber. Die
Habsburgische Doppelmonarchie hat ihre Besorgnis wegen Aufrechterhaltung des
Friedens so deutlich wie möglich zum Ausdruck gebracht in den Mehrforde-
rnngen für die Armee, die der Reichskriegsminister in der ungarischen Delegation
durch eine den Wert der deutsch-österreichischen Freundschaft warm betonende
Rede begleitet hat. Auch die kleinen Staaten, Bulgarien, Serbien und Ru¬
mänien bereiten sich auf ein gewitterreiches Frühjahr vor. '

Rußland setzt inzwischen seine friedliche Eroberung Persiens fort und zieht
auch an die Grenzen der Mandschurei neue Truppenmengen, um den Vorgängen
in China um so gelassener zusehen zu können. Die leichten Siege an den losen
asiatischen Grenzen lassen den russischen Chauvinisten wieder arg den Kamin
schwellen. Die Reden, die jüngst in der Neichsduma gegen die Vereinigten
Staaten von Amerika gehalten wurden, die Anträge auf Aussperrung der
amerikanischen Juden sowie auf Erhöhung der Zölle auf amerikanische Waren
zeugen jedenfalls von hohem Selbstbewußtsein einer — Masse. Wie sich die
Dinge in der Praxis gestalten, muß abgewartet werden.

In China hat sich die Lage nach vorübergehender Besserung wieder ver¬
schlimmert. Die extreme republikanische Partei will ihre Forderung, China in
eine Republik auf föderativer Grundlage zu verwandeln, nicht fallen lassen und
drängt zur Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. Die Mongolei steht bereits
im Begriff, sich eine eigene Verfassung zu geben. Von einer vollendeten Tat¬
sache zu sprechen, wäre indessen verfrüht, wenn auch die Meldungen aus
Petersburg solches glaubhaft machen wollen. An der Newa mag der Wunsch
Vater des Gedankens geworden sein. Nußland könnte es ja nur sehr angenehm
sein, wenn neben Tibet ein zweiter, aus sich heraus nicht lebensfähiger Staat
entstände, in dem die russischen Agenten die tatsächliche Herrschaft ausübten. —
Um die Geschicke Chinas bemühen sich besonders Japan und die Vereinigten
Staaten Nordamerikas. Letzteres hat nach den neuesten Zeitungsmeldnngen schon
elf Kriegsschiffe an den ostasiatischen Gestaden vereinigt.

So hat uns denn das alte Jahr eine Fülle wenn nicht neuer, so doch
brennender Fragen hinterlassen und von den älteren Problemen keines
vollständig gelöst. Die Marokkoangelegenheit, die den vergangenen Sommer
besonders unbehaglich machte und in den letzten Tagen Anlaß zu erregten
Debatten in der französischen Senatskommission bot, ist jedenfalls noch nicht
vollständig von der Tagesordnung verschwunden. Wenn auch zwischen Deutsch¬
land und Frankreich eine ganze Reihe von Reibflächen beseitigt sind, dürfte es
doch noch hier und da, abgesehen von den spanisch - französischen Differenzen,
Meinungsverschiedenheiten geben.


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[0057] Reichsspiegcl Balkanhalbinsel nicht betreten zu wollen, zu brechen. Denn es scheint fast, als sei unter den einmal vorhandenen Verhältnissen ein Sieg, eine Eroberung Tripolitaniens ausgeschlossen. Diese Aussichten beunruhigen naturgemäß alle an der Türkei inter¬ essierten Staaten aufs höchste, nicht zuletzt die Balkanstaaten selber. Die Habsburgische Doppelmonarchie hat ihre Besorgnis wegen Aufrechterhaltung des Friedens so deutlich wie möglich zum Ausdruck gebracht in den Mehrforde- rnngen für die Armee, die der Reichskriegsminister in der ungarischen Delegation durch eine den Wert der deutsch-österreichischen Freundschaft warm betonende Rede begleitet hat. Auch die kleinen Staaten, Bulgarien, Serbien und Ru¬ mänien bereiten sich auf ein gewitterreiches Frühjahr vor. ' Rußland setzt inzwischen seine friedliche Eroberung Persiens fort und zieht auch an die Grenzen der Mandschurei neue Truppenmengen, um den Vorgängen in China um so gelassener zusehen zu können. Die leichten Siege an den losen asiatischen Grenzen lassen den russischen Chauvinisten wieder arg den Kamin schwellen. Die Reden, die jüngst in der Neichsduma gegen die Vereinigten Staaten von Amerika gehalten wurden, die Anträge auf Aussperrung der amerikanischen Juden sowie auf Erhöhung der Zölle auf amerikanische Waren zeugen jedenfalls von hohem Selbstbewußtsein einer — Masse. Wie sich die Dinge in der Praxis gestalten, muß abgewartet werden. In China hat sich die Lage nach vorübergehender Besserung wieder ver¬ schlimmert. Die extreme republikanische Partei will ihre Forderung, China in eine Republik auf föderativer Grundlage zu verwandeln, nicht fallen lassen und drängt zur Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. Die Mongolei steht bereits im Begriff, sich eine eigene Verfassung zu geben. Von einer vollendeten Tat¬ sache zu sprechen, wäre indessen verfrüht, wenn auch die Meldungen aus Petersburg solches glaubhaft machen wollen. An der Newa mag der Wunsch Vater des Gedankens geworden sein. Nußland könnte es ja nur sehr angenehm sein, wenn neben Tibet ein zweiter, aus sich heraus nicht lebensfähiger Staat entstände, in dem die russischen Agenten die tatsächliche Herrschaft ausübten. — Um die Geschicke Chinas bemühen sich besonders Japan und die Vereinigten Staaten Nordamerikas. Letzteres hat nach den neuesten Zeitungsmeldnngen schon elf Kriegsschiffe an den ostasiatischen Gestaden vereinigt. So hat uns denn das alte Jahr eine Fülle wenn nicht neuer, so doch brennender Fragen hinterlassen und von den älteren Problemen keines vollständig gelöst. Die Marokkoangelegenheit, die den vergangenen Sommer besonders unbehaglich machte und in den letzten Tagen Anlaß zu erregten Debatten in der französischen Senatskommission bot, ist jedenfalls noch nicht vollständig von der Tagesordnung verschwunden. Wenn auch zwischen Deutsch¬ land und Frankreich eine ganze Reihe von Reibflächen beseitigt sind, dürfte es doch noch hier und da, abgesehen von den spanisch - französischen Differenzen, Meinungsverschiedenheiten geben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/57>, abgerufen am 15.05.2024.