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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Deutschland und England

Englands Freundschaftsbeziehungen zu Frankreich und Amerika -- England und
Nußland -- Englands europäische Politik -- Deutsch-englische Verständigung und
Englands bestehende Erdeulen

Wenn England jetzt eine Verständigung mit Deutschland sucht, so ist es
doch zugleich entschlossen, an dem bestehenden System seiner Erdeulen und
Freundschaften festzuhalten. Es muß dies als ein Axiom der englischen Politik
betrachtet werden, und wir würden uns nur Illusionen hingeben, wenn wir eine
sofortige Lockerung der englisch-ftanzösischen Beziehungen erwarteten. Daneben
würde jeder Versuch, den wir in dieser Richtung unternehmen wollten -- selbst¬
verständlich lassen wir solches hübsch bleiben --, diese Beziehungen nur festigen
und eine deutsch-englische Verständigung erschweren.

Nun wird auf deutscher Seite gefragt: weshalb erstrebt denn England eine
Verständigung mit uns, wenn es doch die französische Freundschaft nicht aufgeben
will? und man fragt weiter, ob England es auch wirklich ernst mit einer solchen
Verständigung meine.

Diese Politik Englands ist unschwer zu erklären. Zwischen England und
Deutschland war im letzten Sommer eine starke Spannung entstanden aus
Gründen, die direkt nur die deutsch-französischen Beziehungen, die deutsch¬
englischen aber nur indirekt betrafen. Einen Krieg mit Deutschland hat das
englische Volk wohl nicht gewünscht; sonst hätte die englische Regierung Frank¬
reich in den Kampf hineintreiben können. Seit der Liquidierung der Marokko¬
frage ist der letzte sichtbare Grund zu einem deutsch-englischen Kriege ge¬
schwunden. Wohl aber ist noch eine Spannung nachgeblieben, die die verschiedensten
unübersehbaren Gefahrenmomente in sich birgt. Das ist es, was den Engländern
den Wunsch nahe legt, eine Verständigung mit Deutschland zu suchen, die
geeignet wäre, die Wiederkehr solcher gefährlicher Friktionen zu verhindern, wie
sie im Sommer aufgetreten sind.

In der englischen Geschichte bildet solch ein Vorgehen kein Novum. So waren
in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre die Beziehungen zwischen
England und Frankreich recht gespannt, und zwar bildeten die Hauptursache
der Reibungen ähnliche Ursachen, wie sie die deutsch-englischen Beziehungen des
letzten Jahrzehnts trüben: die Verstärkung der französischen Flotte. Die englischen
Flottenpaniken jener Zeit waren heftiger und länger als die, die wir selbst vor


Grenzboten I 1912 74


Reichsspiegel
Deutschland und England

Englands Freundschaftsbeziehungen zu Frankreich und Amerika — England und
Nußland — Englands europäische Politik — Deutsch-englische Verständigung und
Englands bestehende Erdeulen

Wenn England jetzt eine Verständigung mit Deutschland sucht, so ist es
doch zugleich entschlossen, an dem bestehenden System seiner Erdeulen und
Freundschaften festzuhalten. Es muß dies als ein Axiom der englischen Politik
betrachtet werden, und wir würden uns nur Illusionen hingeben, wenn wir eine
sofortige Lockerung der englisch-ftanzösischen Beziehungen erwarteten. Daneben
würde jeder Versuch, den wir in dieser Richtung unternehmen wollten — selbst¬
verständlich lassen wir solches hübsch bleiben —, diese Beziehungen nur festigen
und eine deutsch-englische Verständigung erschweren.

Nun wird auf deutscher Seite gefragt: weshalb erstrebt denn England eine
Verständigung mit uns, wenn es doch die französische Freundschaft nicht aufgeben
will? und man fragt weiter, ob England es auch wirklich ernst mit einer solchen
Verständigung meine.

Diese Politik Englands ist unschwer zu erklären. Zwischen England und
Deutschland war im letzten Sommer eine starke Spannung entstanden aus
Gründen, die direkt nur die deutsch-französischen Beziehungen, die deutsch¬
englischen aber nur indirekt betrafen. Einen Krieg mit Deutschland hat das
englische Volk wohl nicht gewünscht; sonst hätte die englische Regierung Frank¬
reich in den Kampf hineintreiben können. Seit der Liquidierung der Marokko¬
frage ist der letzte sichtbare Grund zu einem deutsch-englischen Kriege ge¬
schwunden. Wohl aber ist noch eine Spannung nachgeblieben, die die verschiedensten
unübersehbaren Gefahrenmomente in sich birgt. Das ist es, was den Engländern
den Wunsch nahe legt, eine Verständigung mit Deutschland zu suchen, die
geeignet wäre, die Wiederkehr solcher gefährlicher Friktionen zu verhindern, wie
sie im Sommer aufgetreten sind.

In der englischen Geschichte bildet solch ein Vorgehen kein Novum. So waren
in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre die Beziehungen zwischen
England und Frankreich recht gespannt, und zwar bildeten die Hauptursache
der Reibungen ähnliche Ursachen, wie sie die deutsch-englischen Beziehungen des
letzten Jahrzehnts trüben: die Verstärkung der französischen Flotte. Die englischen
Flottenpaniken jener Zeit waren heftiger und länger als die, die wir selbst vor


Grenzboten I 1912 74
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[0589] [Abbildung] Reichsspiegel Deutschland und England Englands Freundschaftsbeziehungen zu Frankreich und Amerika — England und Nußland — Englands europäische Politik — Deutsch-englische Verständigung und Englands bestehende Erdeulen Wenn England jetzt eine Verständigung mit Deutschland sucht, so ist es doch zugleich entschlossen, an dem bestehenden System seiner Erdeulen und Freundschaften festzuhalten. Es muß dies als ein Axiom der englischen Politik betrachtet werden, und wir würden uns nur Illusionen hingeben, wenn wir eine sofortige Lockerung der englisch-ftanzösischen Beziehungen erwarteten. Daneben würde jeder Versuch, den wir in dieser Richtung unternehmen wollten — selbst¬ verständlich lassen wir solches hübsch bleiben —, diese Beziehungen nur festigen und eine deutsch-englische Verständigung erschweren. Nun wird auf deutscher Seite gefragt: weshalb erstrebt denn England eine Verständigung mit uns, wenn es doch die französische Freundschaft nicht aufgeben will? und man fragt weiter, ob England es auch wirklich ernst mit einer solchen Verständigung meine. Diese Politik Englands ist unschwer zu erklären. Zwischen England und Deutschland war im letzten Sommer eine starke Spannung entstanden aus Gründen, die direkt nur die deutsch-französischen Beziehungen, die deutsch¬ englischen aber nur indirekt betrafen. Einen Krieg mit Deutschland hat das englische Volk wohl nicht gewünscht; sonst hätte die englische Regierung Frank¬ reich in den Kampf hineintreiben können. Seit der Liquidierung der Marokko¬ frage ist der letzte sichtbare Grund zu einem deutsch-englischen Kriege ge¬ schwunden. Wohl aber ist noch eine Spannung nachgeblieben, die die verschiedensten unübersehbaren Gefahrenmomente in sich birgt. Das ist es, was den Engländern den Wunsch nahe legt, eine Verständigung mit Deutschland zu suchen, die geeignet wäre, die Wiederkehr solcher gefährlicher Friktionen zu verhindern, wie sie im Sommer aufgetreten sind. In der englischen Geschichte bildet solch ein Vorgehen kein Novum. So waren in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre die Beziehungen zwischen England und Frankreich recht gespannt, und zwar bildeten die Hauptursache der Reibungen ähnliche Ursachen, wie sie die deutsch-englischen Beziehungen des letzten Jahrzehnts trüben: die Verstärkung der französischen Flotte. Die englischen Flottenpaniken jener Zeit waren heftiger und länger als die, die wir selbst vor Grenzboten I 1912 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/589>, abgerufen am 29.04.2024.