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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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(Lark Hauptmann
von Dr. Heinrich Spiero

I urch die Geschichte der dramatischen Dichtung Deutschlands im neun¬
zehnten Jahrhundert geht als eines der schwersten Probleme der
Kampf um die Bezwingung der Masse als Mitspieler. Nicht darum
handelt es sich dabei, wie das Volk an sich auf der Bühne zu ver¬
wenden ist, sondern darum, wie es selbst handelnd eingreift, nicht
Begleiter, sondern Bereiter der Handlung, nicht Sprecher, sondern Täter. Es ist
klar, daß mit der französischen Revolution und mit dem Aufsteigen gesammelter
Volkskräfte in Mittel- und Westeuropa diese schwere Frage den dramatischen Dichter
immer schärfer um Beantwortung angehen mußte. An der Wende der Jahr¬
hunderte schuf Schiller den "Wallenstein" und griff gleich mitten hinein, auch hier
immer wieder der unvergleichlich Größte, indem er aus der Fülle der im Lager
wimmelnden Gestalten erst den Helden emporwachsen ließ. Ihm freilich die nach
außen geschlossene Macht einer in sich doch wieder hierhin und dahin strebenden
Menge selbständig gegenüberzusetzen, hätte er wohl erst im "Demetrius" errungen,
dessen Abbruch durch das Geschick gerade auch aus diesem Grunde immer wieder
tief zu beklagen ist. Heinrich v. Kleist hat sicherlich nicht zuletzt dieses Problem
im "Robert Guiskard" vorgeschwebt, wo das Volk "in unruhiger Bewegung" gleich
machtvoll mit der Handlung einsetzt. Vollends die Dramatiker, die mit und nach
den beiden Revolutionen von 1830 und 1843 aufwuchsen, sind davon nicht los¬
gekommen: Büchner in "Dantons Tod", Grabbe im "Napoleon", Hebbel in der
"Judith", wo gewaltig erschütternd die Menge als Menge spielt und richtet. Am
weitesten aber gelangte Otto Ludwig, als er im dritten Aufzug der "Makkabäer"
Lea durchaus zurücktreten ließ gegenüber der bald einheitlich, bald gespalten
handelnden Masse, die alles überflutet.

Solche Entwicklungen drängen sich ins Bewußtsein, wenn man Carl Haupt¬
manns 1906 erschienenes Moses-Drama betrachtet; denn hier ist wieder jener
dramatische Vorwurf: Mensch gegen Masse, aufgegriffen und durchgeführt. Wir
sehen Moses, wie er die Jsraeliten aus Ägypten hinausführt. Aber er wächst, je
schärfer er seinem Volke gegenübertreten nutz. Eine unablässige Hetze gegen ihn
setzt ein, und da sie vierzig Tage in der brennenden Glut der Wüste, im "heu¬
lenden, reißenden, eisigen Nachtwind, ohne Wasser" geweilt haben, bricht der Auf¬
ruhr aus, und der vom Berge herabkehrende Held zerbricht die Tafeln, in die




(Lark Hauptmann
von Dr. Heinrich Spiero

I urch die Geschichte der dramatischen Dichtung Deutschlands im neun¬
zehnten Jahrhundert geht als eines der schwersten Probleme der
Kampf um die Bezwingung der Masse als Mitspieler. Nicht darum
handelt es sich dabei, wie das Volk an sich auf der Bühne zu ver¬
wenden ist, sondern darum, wie es selbst handelnd eingreift, nicht
Begleiter, sondern Bereiter der Handlung, nicht Sprecher, sondern Täter. Es ist
klar, daß mit der französischen Revolution und mit dem Aufsteigen gesammelter
Volkskräfte in Mittel- und Westeuropa diese schwere Frage den dramatischen Dichter
immer schärfer um Beantwortung angehen mußte. An der Wende der Jahr¬
hunderte schuf Schiller den „Wallenstein" und griff gleich mitten hinein, auch hier
immer wieder der unvergleichlich Größte, indem er aus der Fülle der im Lager
wimmelnden Gestalten erst den Helden emporwachsen ließ. Ihm freilich die nach
außen geschlossene Macht einer in sich doch wieder hierhin und dahin strebenden
Menge selbständig gegenüberzusetzen, hätte er wohl erst im „Demetrius" errungen,
dessen Abbruch durch das Geschick gerade auch aus diesem Grunde immer wieder
tief zu beklagen ist. Heinrich v. Kleist hat sicherlich nicht zuletzt dieses Problem
im „Robert Guiskard" vorgeschwebt, wo das Volk „in unruhiger Bewegung" gleich
machtvoll mit der Handlung einsetzt. Vollends die Dramatiker, die mit und nach
den beiden Revolutionen von 1830 und 1843 aufwuchsen, sind davon nicht los¬
gekommen: Büchner in „Dantons Tod", Grabbe im „Napoleon", Hebbel in der
„Judith", wo gewaltig erschütternd die Menge als Menge spielt und richtet. Am
weitesten aber gelangte Otto Ludwig, als er im dritten Aufzug der „Makkabäer"
Lea durchaus zurücktreten ließ gegenüber der bald einheitlich, bald gespalten
handelnden Masse, die alles überflutet.

Solche Entwicklungen drängen sich ins Bewußtsein, wenn man Carl Haupt¬
manns 1906 erschienenes Moses-Drama betrachtet; denn hier ist wieder jener
dramatische Vorwurf: Mensch gegen Masse, aufgegriffen und durchgeführt. Wir
sehen Moses, wie er die Jsraeliten aus Ägypten hinausführt. Aber er wächst, je
schärfer er seinem Volke gegenübertreten nutz. Eine unablässige Hetze gegen ihn
setzt ein, und da sie vierzig Tage in der brennenden Glut der Wüste, im „heu¬
lenden, reißenden, eisigen Nachtwind, ohne Wasser" geweilt haben, bricht der Auf¬
ruhr aus, und der vom Berge herabkehrende Held zerbricht die Tafeln, in die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/91>, abgerufen am 29.04.2024.