Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ans dem Reiche der moderne?" Musik

gelänge, das Deutsche Reich zu zerschlagen, für Großbritannien würde sich
daraus keine neue Kraft, sondern ein Grund zum Beharren beim Alten und
als Folge nur eine Beschleunigung des Verfalles ergeben. Die Größe eines
Volkes beruht nicht auf der Kleinheit und Schwäche seiner Nachbarn, sondern
auf seinem inneren Werte. Nur zu richtig ist, was der Kaiser in Hamburg
vom Gebrauch der Peitsche beim Wettrennen sagte.

Die Gefahr, die dem britischen Volke droht, liegt in seinen inneren Ver¬
hältnissen, nicht in dem Vorwärtsstreben seiner Nachbarn. Noch ist es Zeit,
ihr zu begegnen und dem britischen Volkskörper die schwindende Gesundheit
wiederzugeben. Ob aber das System der Parteiregierung die Fähigkeit hat,
die Schäden nicht bloß zu erkennen, sondern auch zu heilen, das ist eine Frage,
die nur ein Optimist bejahen kann.




Aus dem Reiche der modernen Musik
von Dr. Hermann Seeliger

Wn der Breslauer Stadtbibliothek befindet sich eine interessante
Sammlung von Musikprogrammen aus den Jahren 1800 bis 1850,
die, wenn sie auch nicht ganz vollständig sein mag, gleichwohl
ein ziemlich getreues Bild des Konzertlebens nicht bloß Breslaus,
sondern der Zeit überhaupt vor uns entrollt. Es liegt nicht in
der Absicht der folgenden Darstellung, auf diese alten Programme einzugehen;
nur auf eine bemerkenswerte Tatsache mag hingewiesen werden: auf die
Seltenheit einer Kunstübung, mit der wir heutzutage geradezu übersättigt werden.
Sind wir also musikalischer geworden als jene frühere Generation, der das
Konzert eines namhaften Künstlers ein Ereignis von gewisser lokaler Bedeutung
war? Ohne Zweifel trägt die moderne Kultur, in deren Werden wir mitten
innestehen, einstweilen noch einen vorwiegend künstlerischen Charakter, wie am
deutlichsten die stark dichterisch gefärbte Weltanschauungslehre eines Nietzsche
beweist. Die zentrale Stellung einer Kunst, die, losgelöst von allem Begriff¬
lichen unmittelbar zu unserem Empfinden spricht, deutlicher als es je durch
einen Begriff geschehen könnte, erklärt sich daher ohne weiteres, desgleichen die
notwendige Folge, die gesteigerte Aufnahmefähigkeit, die fortschreitende Erziehung
zum Hören. Wir kennen den großen Kampf, der um Wagners Musik in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entbrannte; heut wehren sich nur noch
vereinzelte Eigenbrötler gegen diese neue Kunst, die längst Gegenwartsmufik
geworden ist. Und so haben noch kühnere Neuerer wie Richard Strauß und Max


Ans dem Reiche der moderne?« Musik

gelänge, das Deutsche Reich zu zerschlagen, für Großbritannien würde sich
daraus keine neue Kraft, sondern ein Grund zum Beharren beim Alten und
als Folge nur eine Beschleunigung des Verfalles ergeben. Die Größe eines
Volkes beruht nicht auf der Kleinheit und Schwäche seiner Nachbarn, sondern
auf seinem inneren Werte. Nur zu richtig ist, was der Kaiser in Hamburg
vom Gebrauch der Peitsche beim Wettrennen sagte.

Die Gefahr, die dem britischen Volke droht, liegt in seinen inneren Ver¬
hältnissen, nicht in dem Vorwärtsstreben seiner Nachbarn. Noch ist es Zeit,
ihr zu begegnen und dem britischen Volkskörper die schwindende Gesundheit
wiederzugeben. Ob aber das System der Parteiregierung die Fähigkeit hat,
die Schäden nicht bloß zu erkennen, sondern auch zu heilen, das ist eine Frage,
die nur ein Optimist bejahen kann.




Aus dem Reiche der modernen Musik
von Dr. Hermann Seeliger

Wn der Breslauer Stadtbibliothek befindet sich eine interessante
Sammlung von Musikprogrammen aus den Jahren 1800 bis 1850,
die, wenn sie auch nicht ganz vollständig sein mag, gleichwohl
ein ziemlich getreues Bild des Konzertlebens nicht bloß Breslaus,
sondern der Zeit überhaupt vor uns entrollt. Es liegt nicht in
der Absicht der folgenden Darstellung, auf diese alten Programme einzugehen;
nur auf eine bemerkenswerte Tatsache mag hingewiesen werden: auf die
Seltenheit einer Kunstübung, mit der wir heutzutage geradezu übersättigt werden.
Sind wir also musikalischer geworden als jene frühere Generation, der das
Konzert eines namhaften Künstlers ein Ereignis von gewisser lokaler Bedeutung
war? Ohne Zweifel trägt die moderne Kultur, in deren Werden wir mitten
innestehen, einstweilen noch einen vorwiegend künstlerischen Charakter, wie am
deutlichsten die stark dichterisch gefärbte Weltanschauungslehre eines Nietzsche
beweist. Die zentrale Stellung einer Kunst, die, losgelöst von allem Begriff¬
lichen unmittelbar zu unserem Empfinden spricht, deutlicher als es je durch
einen Begriff geschehen könnte, erklärt sich daher ohne weiteres, desgleichen die
notwendige Folge, die gesteigerte Aufnahmefähigkeit, die fortschreitende Erziehung
zum Hören. Wir kennen den großen Kampf, der um Wagners Musik in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entbrannte; heut wehren sich nur noch
vereinzelte Eigenbrötler gegen diese neue Kunst, die längst Gegenwartsmufik
geworden ist. Und so haben noch kühnere Neuerer wie Richard Strauß und Max


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0327" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321410"/>
          <fw type="header" place="top"> Ans dem Reiche der moderne?« Musik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1364" prev="#ID_1363"> gelänge, das Deutsche Reich zu zerschlagen, für Großbritannien würde sich<lb/>
daraus keine neue Kraft, sondern ein Grund zum Beharren beim Alten und<lb/>
als Folge nur eine Beschleunigung des Verfalles ergeben. Die Größe eines<lb/>
Volkes beruht nicht auf der Kleinheit und Schwäche seiner Nachbarn, sondern<lb/>
auf seinem inneren Werte. Nur zu richtig ist, was der Kaiser in Hamburg<lb/>
vom Gebrauch der Peitsche beim Wettrennen sagte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1365"> Die Gefahr, die dem britischen Volke droht, liegt in seinen inneren Ver¬<lb/>
hältnissen, nicht in dem Vorwärtsstreben seiner Nachbarn. Noch ist es Zeit,<lb/>
ihr zu begegnen und dem britischen Volkskörper die schwindende Gesundheit<lb/>
wiederzugeben. Ob aber das System der Parteiregierung die Fähigkeit hat,<lb/>
die Schäden nicht bloß zu erkennen, sondern auch zu heilen, das ist eine Frage,<lb/>
die nur ein Optimist bejahen kann.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Aus dem Reiche der modernen Musik<lb/><note type="byline"> von Dr. Hermann Seeliger</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_1366" next="#ID_1367"> Wn der Breslauer Stadtbibliothek befindet sich eine interessante<lb/>
Sammlung von Musikprogrammen aus den Jahren 1800 bis 1850,<lb/>
die, wenn sie auch nicht ganz vollständig sein mag, gleichwohl<lb/>
ein ziemlich getreues Bild des Konzertlebens nicht bloß Breslaus,<lb/>
sondern der Zeit überhaupt vor uns entrollt. Es liegt nicht in<lb/>
der Absicht der folgenden Darstellung, auf diese alten Programme einzugehen;<lb/>
nur auf eine bemerkenswerte Tatsache mag hingewiesen werden: auf die<lb/>
Seltenheit einer Kunstübung, mit der wir heutzutage geradezu übersättigt werden.<lb/>
Sind wir also musikalischer geworden als jene frühere Generation, der das<lb/>
Konzert eines namhaften Künstlers ein Ereignis von gewisser lokaler Bedeutung<lb/>
war? Ohne Zweifel trägt die moderne Kultur, in deren Werden wir mitten<lb/>
innestehen, einstweilen noch einen vorwiegend künstlerischen Charakter, wie am<lb/>
deutlichsten die stark dichterisch gefärbte Weltanschauungslehre eines Nietzsche<lb/>
beweist. Die zentrale Stellung einer Kunst, die, losgelöst von allem Begriff¬<lb/>
lichen unmittelbar zu unserem Empfinden spricht, deutlicher als es je durch<lb/>
einen Begriff geschehen könnte, erklärt sich daher ohne weiteres, desgleichen die<lb/>
notwendige Folge, die gesteigerte Aufnahmefähigkeit, die fortschreitende Erziehung<lb/>
zum Hören. Wir kennen den großen Kampf, der um Wagners Musik in der<lb/>
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entbrannte; heut wehren sich nur noch<lb/>
vereinzelte Eigenbrötler gegen diese neue Kunst, die längst Gegenwartsmufik<lb/>
geworden ist. Und so haben noch kühnere Neuerer wie Richard Strauß und Max</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0327] Ans dem Reiche der moderne?« Musik gelänge, das Deutsche Reich zu zerschlagen, für Großbritannien würde sich daraus keine neue Kraft, sondern ein Grund zum Beharren beim Alten und als Folge nur eine Beschleunigung des Verfalles ergeben. Die Größe eines Volkes beruht nicht auf der Kleinheit und Schwäche seiner Nachbarn, sondern auf seinem inneren Werte. Nur zu richtig ist, was der Kaiser in Hamburg vom Gebrauch der Peitsche beim Wettrennen sagte. Die Gefahr, die dem britischen Volke droht, liegt in seinen inneren Ver¬ hältnissen, nicht in dem Vorwärtsstreben seiner Nachbarn. Noch ist es Zeit, ihr zu begegnen und dem britischen Volkskörper die schwindende Gesundheit wiederzugeben. Ob aber das System der Parteiregierung die Fähigkeit hat, die Schäden nicht bloß zu erkennen, sondern auch zu heilen, das ist eine Frage, die nur ein Optimist bejahen kann. Aus dem Reiche der modernen Musik von Dr. Hermann Seeliger Wn der Breslauer Stadtbibliothek befindet sich eine interessante Sammlung von Musikprogrammen aus den Jahren 1800 bis 1850, die, wenn sie auch nicht ganz vollständig sein mag, gleichwohl ein ziemlich getreues Bild des Konzertlebens nicht bloß Breslaus, sondern der Zeit überhaupt vor uns entrollt. Es liegt nicht in der Absicht der folgenden Darstellung, auf diese alten Programme einzugehen; nur auf eine bemerkenswerte Tatsache mag hingewiesen werden: auf die Seltenheit einer Kunstübung, mit der wir heutzutage geradezu übersättigt werden. Sind wir also musikalischer geworden als jene frühere Generation, der das Konzert eines namhaften Künstlers ein Ereignis von gewisser lokaler Bedeutung war? Ohne Zweifel trägt die moderne Kultur, in deren Werden wir mitten innestehen, einstweilen noch einen vorwiegend künstlerischen Charakter, wie am deutlichsten die stark dichterisch gefärbte Weltanschauungslehre eines Nietzsche beweist. Die zentrale Stellung einer Kunst, die, losgelöst von allem Begriff¬ lichen unmittelbar zu unserem Empfinden spricht, deutlicher als es je durch einen Begriff geschehen könnte, erklärt sich daher ohne weiteres, desgleichen die notwendige Folge, die gesteigerte Aufnahmefähigkeit, die fortschreitende Erziehung zum Hören. Wir kennen den großen Kampf, der um Wagners Musik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entbrannte; heut wehren sich nur noch vereinzelte Eigenbrötler gegen diese neue Kunst, die längst Gegenwartsmufik geworden ist. Und so haben noch kühnere Neuerer wie Richard Strauß und Max

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/327
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/327>, abgerufen am 19.05.2024.