Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Englands Achillesferse

kann. Wenn es einem Feinde gelänge, die britische Flotte zu vernichten und
die Lebensmittelzufuhr zu unterbinden, müßte Großbritannien sich den Frieden
diktieren lassen. Der Feind brauchte sich nicht die Mühe einer Truppenlandung
zu geben; denn in zwei oder drei Monaten wäre der letzte Sack Mehl verbraucht
und die Invasion des Hungers könnte auch die beste Territorialarmee nicht
abwehren. Wahrscheinlich würde bei den geringen Beständen an Lebensmitteln
schon die bloße Kriegserklärung eine solche Preissteigerung herbeiführen, daß ein
allgemeiner Notstand einträte.

Dieser Gefahr sucht man durch immer größere Aufwendungen für die
Flottenrüstung zu begegnen. Viel besser jedoch wäre es, anstatt durch den Bau
von Überdreadnoughts andere Völker ebenfalls zu größeren Rüstungen zu
nötigen, das Augenmerk darauf zu richten, wie die Lebensmittelerzeugung im
Lande selbst gehoben werden kann. Den ganzen Bedarf selbst zu decken, daran
ist freilich nicht zu denken. Großbritannien hat eine dichtere Bevölkerung als
Deutschland und große Teile der britischen Insel eignen sich nicht für Getreide¬
bau. Wohl aber ist es möglich soviel zu erzielen, daß die Gefahr einer schnellen
Aushungerung gebannt ist, und durch die so gewonnene Sicherheit würde die
Nervosität schwinden, die sich aller Kreise bemächtigt hat und die ruhige Be¬
urteilung der internationalen Verhältnisse hindert.

Die Lage der Landwirtschaft und der Landbevölkerung ist die Achillesferse
des britischen Staates. Mit Stolz vergleichen die Briten ihr Reich mit dem
römischen Reiche. Die Weiterführung des Vergleiches zeigt, daß Großbritannien
auch wirtschaftlich den Wegen Italiens folgt, das den Getreidebau vernachlässigte,
seinen gesunden Bauernstand verfallen ließ, die Latifundienwirtschaft durchführte
und für sein Brot von den Kolonien abhängig wurde.

Wenn nicht bald Maßregeln getroffen werden, die eine Wiederherstellung
des Bauernstandes verbürgen, ist Großbritannien dem Niedergang verfallen.
Noch ist Großbritannien der Kern des Reiches, der Hanptteilhaber der Weltfirma
John Bull u. Söhne, noch überragt es mit seinen fünfundvierzig Millionen bei
weitem die elf Millionen seiner Söhne in den Kolonien. Aber die Kolonien sind
schon jetzt in keiner Weise mehr vom Mutterlande abhängig, sondern politisch
wie wirtschaftlich selbständig. Sie denken nicht daran, ihrer Industrie zugunsten
des Mutterlandes irgendwelche Beschränkungen aufzulegen. Wenn dieses seine
Landwirtschaft nicht wieder zur Blüte bringt, sondern sich auf die Korneinfuhr
aus den Kolonien verläßt, dann wird das bisherige Verhältnis sich schnell ändern.
Zwar hat Kanada jetzt erst sieben Millionen Einwohner; aber seine Entwicklung
hat neuerdings große Fortschritte gemacht. Auch die Vereinigten Staaten hatten
vor hundert Jahren nur eine Bevölkerung von sieben Millionen.

Großbritannien steht am Scheidewege. Wenn manche Politiker wähnen,
den Niedergang abwenden zu können durch gewaltsame Vernichtung des deutschen
Handels und Lahmlegung des deutschen Wettbewerbs, so beweisen sie dadurch
nur eine verderbliche Kurzsichtigkeit. Selbst wenn es der britischen Politik


Englands Achillesferse

kann. Wenn es einem Feinde gelänge, die britische Flotte zu vernichten und
die Lebensmittelzufuhr zu unterbinden, müßte Großbritannien sich den Frieden
diktieren lassen. Der Feind brauchte sich nicht die Mühe einer Truppenlandung
zu geben; denn in zwei oder drei Monaten wäre der letzte Sack Mehl verbraucht
und die Invasion des Hungers könnte auch die beste Territorialarmee nicht
abwehren. Wahrscheinlich würde bei den geringen Beständen an Lebensmitteln
schon die bloße Kriegserklärung eine solche Preissteigerung herbeiführen, daß ein
allgemeiner Notstand einträte.

Dieser Gefahr sucht man durch immer größere Aufwendungen für die
Flottenrüstung zu begegnen. Viel besser jedoch wäre es, anstatt durch den Bau
von Überdreadnoughts andere Völker ebenfalls zu größeren Rüstungen zu
nötigen, das Augenmerk darauf zu richten, wie die Lebensmittelerzeugung im
Lande selbst gehoben werden kann. Den ganzen Bedarf selbst zu decken, daran
ist freilich nicht zu denken. Großbritannien hat eine dichtere Bevölkerung als
Deutschland und große Teile der britischen Insel eignen sich nicht für Getreide¬
bau. Wohl aber ist es möglich soviel zu erzielen, daß die Gefahr einer schnellen
Aushungerung gebannt ist, und durch die so gewonnene Sicherheit würde die
Nervosität schwinden, die sich aller Kreise bemächtigt hat und die ruhige Be¬
urteilung der internationalen Verhältnisse hindert.

Die Lage der Landwirtschaft und der Landbevölkerung ist die Achillesferse
des britischen Staates. Mit Stolz vergleichen die Briten ihr Reich mit dem
römischen Reiche. Die Weiterführung des Vergleiches zeigt, daß Großbritannien
auch wirtschaftlich den Wegen Italiens folgt, das den Getreidebau vernachlässigte,
seinen gesunden Bauernstand verfallen ließ, die Latifundienwirtschaft durchführte
und für sein Brot von den Kolonien abhängig wurde.

Wenn nicht bald Maßregeln getroffen werden, die eine Wiederherstellung
des Bauernstandes verbürgen, ist Großbritannien dem Niedergang verfallen.
Noch ist Großbritannien der Kern des Reiches, der Hanptteilhaber der Weltfirma
John Bull u. Söhne, noch überragt es mit seinen fünfundvierzig Millionen bei
weitem die elf Millionen seiner Söhne in den Kolonien. Aber die Kolonien sind
schon jetzt in keiner Weise mehr vom Mutterlande abhängig, sondern politisch
wie wirtschaftlich selbständig. Sie denken nicht daran, ihrer Industrie zugunsten
des Mutterlandes irgendwelche Beschränkungen aufzulegen. Wenn dieses seine
Landwirtschaft nicht wieder zur Blüte bringt, sondern sich auf die Korneinfuhr
aus den Kolonien verläßt, dann wird das bisherige Verhältnis sich schnell ändern.
Zwar hat Kanada jetzt erst sieben Millionen Einwohner; aber seine Entwicklung
hat neuerdings große Fortschritte gemacht. Auch die Vereinigten Staaten hatten
vor hundert Jahren nur eine Bevölkerung von sieben Millionen.

Großbritannien steht am Scheidewege. Wenn manche Politiker wähnen,
den Niedergang abwenden zu können durch gewaltsame Vernichtung des deutschen
Handels und Lahmlegung des deutschen Wettbewerbs, so beweisen sie dadurch
nur eine verderbliche Kurzsichtigkeit. Selbst wenn es der britischen Politik


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0326" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321409"/>
          <fw type="header" place="top"> Englands Achillesferse</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1359" prev="#ID_1358"> kann. Wenn es einem Feinde gelänge, die britische Flotte zu vernichten und<lb/>
die Lebensmittelzufuhr zu unterbinden, müßte Großbritannien sich den Frieden<lb/>
diktieren lassen. Der Feind brauchte sich nicht die Mühe einer Truppenlandung<lb/>
zu geben; denn in zwei oder drei Monaten wäre der letzte Sack Mehl verbraucht<lb/>
und die Invasion des Hungers könnte auch die beste Territorialarmee nicht<lb/>
abwehren. Wahrscheinlich würde bei den geringen Beständen an Lebensmitteln<lb/>
schon die bloße Kriegserklärung eine solche Preissteigerung herbeiführen, daß ein<lb/>
allgemeiner Notstand einträte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1360"> Dieser Gefahr sucht man durch immer größere Aufwendungen für die<lb/>
Flottenrüstung zu begegnen. Viel besser jedoch wäre es, anstatt durch den Bau<lb/>
von Überdreadnoughts andere Völker ebenfalls zu größeren Rüstungen zu<lb/>
nötigen, das Augenmerk darauf zu richten, wie die Lebensmittelerzeugung im<lb/>
Lande selbst gehoben werden kann. Den ganzen Bedarf selbst zu decken, daran<lb/>
ist freilich nicht zu denken. Großbritannien hat eine dichtere Bevölkerung als<lb/>
Deutschland und große Teile der britischen Insel eignen sich nicht für Getreide¬<lb/>
bau. Wohl aber ist es möglich soviel zu erzielen, daß die Gefahr einer schnellen<lb/>
Aushungerung gebannt ist, und durch die so gewonnene Sicherheit würde die<lb/>
Nervosität schwinden, die sich aller Kreise bemächtigt hat und die ruhige Be¬<lb/>
urteilung der internationalen Verhältnisse hindert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1361"> Die Lage der Landwirtschaft und der Landbevölkerung ist die Achillesferse<lb/>
des britischen Staates. Mit Stolz vergleichen die Briten ihr Reich mit dem<lb/>
römischen Reiche. Die Weiterführung des Vergleiches zeigt, daß Großbritannien<lb/>
auch wirtschaftlich den Wegen Italiens folgt, das den Getreidebau vernachlässigte,<lb/>
seinen gesunden Bauernstand verfallen ließ, die Latifundienwirtschaft durchführte<lb/>
und für sein Brot von den Kolonien abhängig wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1362"> Wenn nicht bald Maßregeln getroffen werden, die eine Wiederherstellung<lb/>
des Bauernstandes verbürgen, ist Großbritannien dem Niedergang verfallen.<lb/>
Noch ist Großbritannien der Kern des Reiches, der Hanptteilhaber der Weltfirma<lb/>
John Bull u. Söhne, noch überragt es mit seinen fünfundvierzig Millionen bei<lb/>
weitem die elf Millionen seiner Söhne in den Kolonien. Aber die Kolonien sind<lb/>
schon jetzt in keiner Weise mehr vom Mutterlande abhängig, sondern politisch<lb/>
wie wirtschaftlich selbständig. Sie denken nicht daran, ihrer Industrie zugunsten<lb/>
des Mutterlandes irgendwelche Beschränkungen aufzulegen. Wenn dieses seine<lb/>
Landwirtschaft nicht wieder zur Blüte bringt, sondern sich auf die Korneinfuhr<lb/>
aus den Kolonien verläßt, dann wird das bisherige Verhältnis sich schnell ändern.<lb/>
Zwar hat Kanada jetzt erst sieben Millionen Einwohner; aber seine Entwicklung<lb/>
hat neuerdings große Fortschritte gemacht. Auch die Vereinigten Staaten hatten<lb/>
vor hundert Jahren nur eine Bevölkerung von sieben Millionen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1363" next="#ID_1364"> Großbritannien steht am Scheidewege. Wenn manche Politiker wähnen,<lb/>
den Niedergang abwenden zu können durch gewaltsame Vernichtung des deutschen<lb/>
Handels und Lahmlegung des deutschen Wettbewerbs, so beweisen sie dadurch<lb/>
nur eine verderbliche Kurzsichtigkeit.  Selbst wenn es der britischen Politik</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0326] Englands Achillesferse kann. Wenn es einem Feinde gelänge, die britische Flotte zu vernichten und die Lebensmittelzufuhr zu unterbinden, müßte Großbritannien sich den Frieden diktieren lassen. Der Feind brauchte sich nicht die Mühe einer Truppenlandung zu geben; denn in zwei oder drei Monaten wäre der letzte Sack Mehl verbraucht und die Invasion des Hungers könnte auch die beste Territorialarmee nicht abwehren. Wahrscheinlich würde bei den geringen Beständen an Lebensmitteln schon die bloße Kriegserklärung eine solche Preissteigerung herbeiführen, daß ein allgemeiner Notstand einträte. Dieser Gefahr sucht man durch immer größere Aufwendungen für die Flottenrüstung zu begegnen. Viel besser jedoch wäre es, anstatt durch den Bau von Überdreadnoughts andere Völker ebenfalls zu größeren Rüstungen zu nötigen, das Augenmerk darauf zu richten, wie die Lebensmittelerzeugung im Lande selbst gehoben werden kann. Den ganzen Bedarf selbst zu decken, daran ist freilich nicht zu denken. Großbritannien hat eine dichtere Bevölkerung als Deutschland und große Teile der britischen Insel eignen sich nicht für Getreide¬ bau. Wohl aber ist es möglich soviel zu erzielen, daß die Gefahr einer schnellen Aushungerung gebannt ist, und durch die so gewonnene Sicherheit würde die Nervosität schwinden, die sich aller Kreise bemächtigt hat und die ruhige Be¬ urteilung der internationalen Verhältnisse hindert. Die Lage der Landwirtschaft und der Landbevölkerung ist die Achillesferse des britischen Staates. Mit Stolz vergleichen die Briten ihr Reich mit dem römischen Reiche. Die Weiterführung des Vergleiches zeigt, daß Großbritannien auch wirtschaftlich den Wegen Italiens folgt, das den Getreidebau vernachlässigte, seinen gesunden Bauernstand verfallen ließ, die Latifundienwirtschaft durchführte und für sein Brot von den Kolonien abhängig wurde. Wenn nicht bald Maßregeln getroffen werden, die eine Wiederherstellung des Bauernstandes verbürgen, ist Großbritannien dem Niedergang verfallen. Noch ist Großbritannien der Kern des Reiches, der Hanptteilhaber der Weltfirma John Bull u. Söhne, noch überragt es mit seinen fünfundvierzig Millionen bei weitem die elf Millionen seiner Söhne in den Kolonien. Aber die Kolonien sind schon jetzt in keiner Weise mehr vom Mutterlande abhängig, sondern politisch wie wirtschaftlich selbständig. Sie denken nicht daran, ihrer Industrie zugunsten des Mutterlandes irgendwelche Beschränkungen aufzulegen. Wenn dieses seine Landwirtschaft nicht wieder zur Blüte bringt, sondern sich auf die Korneinfuhr aus den Kolonien verläßt, dann wird das bisherige Verhältnis sich schnell ändern. Zwar hat Kanada jetzt erst sieben Millionen Einwohner; aber seine Entwicklung hat neuerdings große Fortschritte gemacht. Auch die Vereinigten Staaten hatten vor hundert Jahren nur eine Bevölkerung von sieben Millionen. Großbritannien steht am Scheidewege. Wenn manche Politiker wähnen, den Niedergang abwenden zu können durch gewaltsame Vernichtung des deutschen Handels und Lahmlegung des deutschen Wettbewerbs, so beweisen sie dadurch nur eine verderbliche Kurzsichtigkeit. Selbst wenn es der britischen Politik

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/326
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/326>, abgerufen am 09.06.2024.