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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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(Lhina, Rußland und Europa

eit der chinesische Koloß in Bewegung geraten ist und in immer
stärker werdenden Äußerungen seine Energie zu selbständigem
politischen Leben kundgibt, wachsen die Besorgnisse Europas im
Hinblick auf die Frage, was aus seinen Völkern werden soll,
wenn jenen vierhundert Millionen Chinesen die Lust ankäme, die
alte Welt mit ihrer Masse und deren Fleiß und Anspruchslosigkeit zu erobern.
Noch hat kein Volk des Westens sich bemüht. Mittel zu finden, um die drohende
Gefahr abzuwenden. Im Gegenteil, allesamt: England. Deutschland und Frank¬
reich haben durch ihre fortgesetzten, zum Teil recht stürmischen Versuche, in
Chinas Wirtschaftsleben einzudringen und sich darin festzusetzen, nur dazu bei¬
getragen, die Aktivität seiner Bewohner zu wecken und sie zu wirtschaftlichem
Gegenstoß zu reizen. Nur Rußland, das auf mehr als 7000 Kilometer an
China angrenzt, ist mit praktischen Mitteln darangegangen, der vom fernen
Osten her einsetzenden neuen Völkerwanderung einen Damm entgegenzustellen.

Die Verschiedenartigkeit im Verhalten der europäischen Völkergruppen ist
natürlich und verständlich. Das Interesse der Westvölker an China beruht ans
rein händlerischen Erwägungen. Für sie kommt das sogenannte Land der Mitte
in erster Linie als Ausfuhrland in Frage, als Ausfuhrland im weitesten Sinne
für Waren, Kapital und Kopfarbeit. nationalpolitische Gesichtspunkte, die nicht
zugleich wirtschaftspolitische wären, spielen für den deutschen, französischen und
englischen Kaufmann um so weniger eine Rolle, als die nationalen Gefahren-
Momente dem Westen Europas noch nirgends greifbar entgegentraten. Der
chinesischen Kultur stehen wir trotz Nichihofen, Grube und verschiedener "Semi¬
nare für orientalische Sprachen" noch gänzlich verständnislos gegenüber. Die
chinesische Masse ist dem Westen so gut wie unbekannt; er empfindet ihr Dasein
darum auch nicht als Gefahr, wenn auch die verschiedenen Nassentheoreüker
warnend ihre Kassandrarufe ertönen lassen.


Grenzboten II 1912 58


(Lhina, Rußland und Europa

eit der chinesische Koloß in Bewegung geraten ist und in immer
stärker werdenden Äußerungen seine Energie zu selbständigem
politischen Leben kundgibt, wachsen die Besorgnisse Europas im
Hinblick auf die Frage, was aus seinen Völkern werden soll,
wenn jenen vierhundert Millionen Chinesen die Lust ankäme, die
alte Welt mit ihrer Masse und deren Fleiß und Anspruchslosigkeit zu erobern.
Noch hat kein Volk des Westens sich bemüht. Mittel zu finden, um die drohende
Gefahr abzuwenden. Im Gegenteil, allesamt: England. Deutschland und Frank¬
reich haben durch ihre fortgesetzten, zum Teil recht stürmischen Versuche, in
Chinas Wirtschaftsleben einzudringen und sich darin festzusetzen, nur dazu bei¬
getragen, die Aktivität seiner Bewohner zu wecken und sie zu wirtschaftlichem
Gegenstoß zu reizen. Nur Rußland, das auf mehr als 7000 Kilometer an
China angrenzt, ist mit praktischen Mitteln darangegangen, der vom fernen
Osten her einsetzenden neuen Völkerwanderung einen Damm entgegenzustellen.

Die Verschiedenartigkeit im Verhalten der europäischen Völkergruppen ist
natürlich und verständlich. Das Interesse der Westvölker an China beruht ans
rein händlerischen Erwägungen. Für sie kommt das sogenannte Land der Mitte
in erster Linie als Ausfuhrland in Frage, als Ausfuhrland im weitesten Sinne
für Waren, Kapital und Kopfarbeit. nationalpolitische Gesichtspunkte, die nicht
zugleich wirtschaftspolitische wären, spielen für den deutschen, französischen und
englischen Kaufmann um so weniger eine Rolle, als die nationalen Gefahren-
Momente dem Westen Europas noch nirgends greifbar entgegentraten. Der
chinesischen Kultur stehen wir trotz Nichihofen, Grube und verschiedener „Semi¬
nare für orientalische Sprachen" noch gänzlich verständnislos gegenüber. Die
chinesische Masse ist dem Westen so gut wie unbekannt; er empfindet ihr Dasein
darum auch nicht als Gefahr, wenn auch die verschiedenen Nassentheoreüker
warnend ihre Kassandrarufe ertönen lassen.


Grenzboten II 1912 58
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[0465] [Abbildung] (Lhina, Rußland und Europa eit der chinesische Koloß in Bewegung geraten ist und in immer stärker werdenden Äußerungen seine Energie zu selbständigem politischen Leben kundgibt, wachsen die Besorgnisse Europas im Hinblick auf die Frage, was aus seinen Völkern werden soll, wenn jenen vierhundert Millionen Chinesen die Lust ankäme, die alte Welt mit ihrer Masse und deren Fleiß und Anspruchslosigkeit zu erobern. Noch hat kein Volk des Westens sich bemüht. Mittel zu finden, um die drohende Gefahr abzuwenden. Im Gegenteil, allesamt: England. Deutschland und Frank¬ reich haben durch ihre fortgesetzten, zum Teil recht stürmischen Versuche, in Chinas Wirtschaftsleben einzudringen und sich darin festzusetzen, nur dazu bei¬ getragen, die Aktivität seiner Bewohner zu wecken und sie zu wirtschaftlichem Gegenstoß zu reizen. Nur Rußland, das auf mehr als 7000 Kilometer an China angrenzt, ist mit praktischen Mitteln darangegangen, der vom fernen Osten her einsetzenden neuen Völkerwanderung einen Damm entgegenzustellen. Die Verschiedenartigkeit im Verhalten der europäischen Völkergruppen ist natürlich und verständlich. Das Interesse der Westvölker an China beruht ans rein händlerischen Erwägungen. Für sie kommt das sogenannte Land der Mitte in erster Linie als Ausfuhrland in Frage, als Ausfuhrland im weitesten Sinne für Waren, Kapital und Kopfarbeit. nationalpolitische Gesichtspunkte, die nicht zugleich wirtschaftspolitische wären, spielen für den deutschen, französischen und englischen Kaufmann um so weniger eine Rolle, als die nationalen Gefahren- Momente dem Westen Europas noch nirgends greifbar entgegentraten. Der chinesischen Kultur stehen wir trotz Nichihofen, Grube und verschiedener „Semi¬ nare für orientalische Sprachen" noch gänzlich verständnislos gegenüber. Die chinesische Masse ist dem Westen so gut wie unbekannt; er empfindet ihr Dasein darum auch nicht als Gefahr, wenn auch die verschiedenen Nassentheoreüker warnend ihre Kassandrarufe ertönen lassen. Grenzboten II 1912 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/465>, abgerufen am 19.05.2024.