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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Lhina, Rußland und Lnropa

In Rußland liegen die Dinge wesentlich anders. Die Rassenfrage als
solche hat zwar für das Russische Reich keine rechte Bedeutung, nachdem Volks¬
stämme fast aller Rassen unter den Schutz des weißen Zaren getreten sind.
Sogar die nach preußischem Muster organisierte Armee weist unter den Offizieren
jüdische Karcmnen, buddhistische Mongolen und allerlei Farbige auf. Wirtschaftlich
ist China für Rußland niemals Exploitatiousobjekt gewesen und kann es in abseh¬
barer Zeit auch nicht werden, weil seine eigene wirtschaftliche und kulturelle Kraft
noch nicht entsprechend gewachsen ist. Wohl aber sind Chinesen und Russen Kon¬
kurrenten auf dem innerasiatischen Markte, wobei sich die Russen nicht immer als
die Stärkeren erweisen. Der von Osten in das russische Reich eindringende
Chinese bildet überdies als Feld- und Bergwerksarbeiter eine notwendige Er¬
gänzung des russischen Arbeiters, dem er in vielen Dingen überlegen ist.
Schließlich dringe:: die Chinesen aber auch schon als Landsucher in Russisch-
Asien ein und zwar nicht etwa losgelöst von der chinesischen Heimat, vielmehr
wie die Fangarme riesiger Seeungeheuer fest mit dem Leibe des Mutterlandes
verbunden. Der in großen Scharen auswandernde Chinese ist unbewußt und
bewußt Träger des chinesischen Kultur- und Staatsgedankens und darum bedeutet
sein Eindringen in das russische Reich zugleich eine friedliche Eroberung russischen
Bodens durch das Reich der Mitte. Hiergegen ist mit friedlichen Mitteln einst¬
weilen nicht anzukommen. Die Früchte einer mit größerem äußeren Erfolg
betriebenen Politik der Zaren könnten in wenigen Jahren vernichtet werden.

Gegenwärtig stehen die Dinge an der Nord- und Nordwestgrenze des
chinesischen Reiches so, daß die chinesische Einwanderung schon altes russisches
Gebiet bedroht, während die Nomadenvölker in der Mongolei und in der
Kirgisensteppe ihre Selbständigkeit zugunsten des chinesischen Großkapitals ver¬
loren haben. Die russische Regierung hilft sich zunächst damit, daß sie die
Ansiedlung von Chinesen in den von Rußland militärisch besetzten Gebieten,
wie im Amurgebiete und in Sibirien verbietet. Das Verbot steht indessen nur
auf dem Papier, solange die Russen genötigt sind, alljährlich Hunderttausenden
chinesischen Saisonarbeitern Einlaß zu gewähren, um die Kulturarbeiten, wie
Eisenbahnbauten zu bewältigen, aber auch um die regelmäßige Feldarbeit besorgen
zu können, die die Verpflegung der im Osten dislozierten Armee sicherstellen muß.

Was dort oben in Ostasien zwischen Rußland und China vorgeht, läßt
sich sehr wohl vergleichen mit dem was Westeuropa an den Ostgrenzen Deutsch¬
lands erlebt, wo es alljährlich über einer Million osteuropäischer Wanderarbeiter
Erwerb geben muß, um den Anforderungen des allgemeinen wirtschaftlichen Auf¬
schwungs gerecht werden zu können. Allen gesetzlichen Maßnahmen und polizei¬
lichen Vorschriften zum Trotz bleibt ein gewisser, wenn auch nur geringfügiger
Prozentsatz dieser Osteuropäer sitzen und erzwingt sich das Bürgerrecht.

Die russische Negierung sucht nun dem Vordringen der Chinesen dadurch
die angedeutete politische Bedeutung zu nehmen, daß sie an den astatischen
Grenzen einen breiten Gürtel ausschließlich der Kolonisation durch russische


Lhina, Rußland und Lnropa

In Rußland liegen die Dinge wesentlich anders. Die Rassenfrage als
solche hat zwar für das Russische Reich keine rechte Bedeutung, nachdem Volks¬
stämme fast aller Rassen unter den Schutz des weißen Zaren getreten sind.
Sogar die nach preußischem Muster organisierte Armee weist unter den Offizieren
jüdische Karcmnen, buddhistische Mongolen und allerlei Farbige auf. Wirtschaftlich
ist China für Rußland niemals Exploitatiousobjekt gewesen und kann es in abseh¬
barer Zeit auch nicht werden, weil seine eigene wirtschaftliche und kulturelle Kraft
noch nicht entsprechend gewachsen ist. Wohl aber sind Chinesen und Russen Kon¬
kurrenten auf dem innerasiatischen Markte, wobei sich die Russen nicht immer als
die Stärkeren erweisen. Der von Osten in das russische Reich eindringende
Chinese bildet überdies als Feld- und Bergwerksarbeiter eine notwendige Er¬
gänzung des russischen Arbeiters, dem er in vielen Dingen überlegen ist.
Schließlich dringe:: die Chinesen aber auch schon als Landsucher in Russisch-
Asien ein und zwar nicht etwa losgelöst von der chinesischen Heimat, vielmehr
wie die Fangarme riesiger Seeungeheuer fest mit dem Leibe des Mutterlandes
verbunden. Der in großen Scharen auswandernde Chinese ist unbewußt und
bewußt Träger des chinesischen Kultur- und Staatsgedankens und darum bedeutet
sein Eindringen in das russische Reich zugleich eine friedliche Eroberung russischen
Bodens durch das Reich der Mitte. Hiergegen ist mit friedlichen Mitteln einst¬
weilen nicht anzukommen. Die Früchte einer mit größerem äußeren Erfolg
betriebenen Politik der Zaren könnten in wenigen Jahren vernichtet werden.

Gegenwärtig stehen die Dinge an der Nord- und Nordwestgrenze des
chinesischen Reiches so, daß die chinesische Einwanderung schon altes russisches
Gebiet bedroht, während die Nomadenvölker in der Mongolei und in der
Kirgisensteppe ihre Selbständigkeit zugunsten des chinesischen Großkapitals ver¬
loren haben. Die russische Regierung hilft sich zunächst damit, daß sie die
Ansiedlung von Chinesen in den von Rußland militärisch besetzten Gebieten,
wie im Amurgebiete und in Sibirien verbietet. Das Verbot steht indessen nur
auf dem Papier, solange die Russen genötigt sind, alljährlich Hunderttausenden
chinesischen Saisonarbeitern Einlaß zu gewähren, um die Kulturarbeiten, wie
Eisenbahnbauten zu bewältigen, aber auch um die regelmäßige Feldarbeit besorgen
zu können, die die Verpflegung der im Osten dislozierten Armee sicherstellen muß.

Was dort oben in Ostasien zwischen Rußland und China vorgeht, läßt
sich sehr wohl vergleichen mit dem was Westeuropa an den Ostgrenzen Deutsch¬
lands erlebt, wo es alljährlich über einer Million osteuropäischer Wanderarbeiter
Erwerb geben muß, um den Anforderungen des allgemeinen wirtschaftlichen Auf¬
schwungs gerecht werden zu können. Allen gesetzlichen Maßnahmen und polizei¬
lichen Vorschriften zum Trotz bleibt ein gewisser, wenn auch nur geringfügiger
Prozentsatz dieser Osteuropäer sitzen und erzwingt sich das Bürgerrecht.

Die russische Negierung sucht nun dem Vordringen der Chinesen dadurch
die angedeutete politische Bedeutung zu nehmen, daß sie an den astatischen
Grenzen einen breiten Gürtel ausschließlich der Kolonisation durch russische


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[0466] Lhina, Rußland und Lnropa In Rußland liegen die Dinge wesentlich anders. Die Rassenfrage als solche hat zwar für das Russische Reich keine rechte Bedeutung, nachdem Volks¬ stämme fast aller Rassen unter den Schutz des weißen Zaren getreten sind. Sogar die nach preußischem Muster organisierte Armee weist unter den Offizieren jüdische Karcmnen, buddhistische Mongolen und allerlei Farbige auf. Wirtschaftlich ist China für Rußland niemals Exploitatiousobjekt gewesen und kann es in abseh¬ barer Zeit auch nicht werden, weil seine eigene wirtschaftliche und kulturelle Kraft noch nicht entsprechend gewachsen ist. Wohl aber sind Chinesen und Russen Kon¬ kurrenten auf dem innerasiatischen Markte, wobei sich die Russen nicht immer als die Stärkeren erweisen. Der von Osten in das russische Reich eindringende Chinese bildet überdies als Feld- und Bergwerksarbeiter eine notwendige Er¬ gänzung des russischen Arbeiters, dem er in vielen Dingen überlegen ist. Schließlich dringe:: die Chinesen aber auch schon als Landsucher in Russisch- Asien ein und zwar nicht etwa losgelöst von der chinesischen Heimat, vielmehr wie die Fangarme riesiger Seeungeheuer fest mit dem Leibe des Mutterlandes verbunden. Der in großen Scharen auswandernde Chinese ist unbewußt und bewußt Träger des chinesischen Kultur- und Staatsgedankens und darum bedeutet sein Eindringen in das russische Reich zugleich eine friedliche Eroberung russischen Bodens durch das Reich der Mitte. Hiergegen ist mit friedlichen Mitteln einst¬ weilen nicht anzukommen. Die Früchte einer mit größerem äußeren Erfolg betriebenen Politik der Zaren könnten in wenigen Jahren vernichtet werden. Gegenwärtig stehen die Dinge an der Nord- und Nordwestgrenze des chinesischen Reiches so, daß die chinesische Einwanderung schon altes russisches Gebiet bedroht, während die Nomadenvölker in der Mongolei und in der Kirgisensteppe ihre Selbständigkeit zugunsten des chinesischen Großkapitals ver¬ loren haben. Die russische Regierung hilft sich zunächst damit, daß sie die Ansiedlung von Chinesen in den von Rußland militärisch besetzten Gebieten, wie im Amurgebiete und in Sibirien verbietet. Das Verbot steht indessen nur auf dem Papier, solange die Russen genötigt sind, alljährlich Hunderttausenden chinesischen Saisonarbeitern Einlaß zu gewähren, um die Kulturarbeiten, wie Eisenbahnbauten zu bewältigen, aber auch um die regelmäßige Feldarbeit besorgen zu können, die die Verpflegung der im Osten dislozierten Armee sicherstellen muß. Was dort oben in Ostasien zwischen Rußland und China vorgeht, läßt sich sehr wohl vergleichen mit dem was Westeuropa an den Ostgrenzen Deutsch¬ lands erlebt, wo es alljährlich über einer Million osteuropäischer Wanderarbeiter Erwerb geben muß, um den Anforderungen des allgemeinen wirtschaftlichen Auf¬ schwungs gerecht werden zu können. Allen gesetzlichen Maßnahmen und polizei¬ lichen Vorschriften zum Trotz bleibt ein gewisser, wenn auch nur geringfügiger Prozentsatz dieser Osteuropäer sitzen und erzwingt sich das Bürgerrecht. Die russische Negierung sucht nun dem Vordringen der Chinesen dadurch die angedeutete politische Bedeutung zu nehmen, daß sie an den astatischen Grenzen einen breiten Gürtel ausschließlich der Kolonisation durch russische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/466>, abgerufen am 10.06.2024.