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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Sozialpolitik ist Ncüionalpolitik!

Fünfhundert Jahre brandenburgische Geschichte -- Der Trüb von Nüremberg und die
Junker -- Neupreußischer Partikularismus -- Der Zentralverband Deutscher Industrieller
in München -- Überschätzung des Geldes als sozial ausgleichender Faktor -- Der
evangelisch-soziale Kongreß in Essen -- Hausindustrie-Kartelle -- Überlandzentralen
-- Engere Fühlung mit der Landwirtschaft -- Politische Hemmungen

Es muß ein herrliches Bewußtsein geben, auf eine Geschichte von einem
halben Jahrtausend zurückblicken zu können und sich zusagen: diese Geschichte
hat mein Haus, haben meine Väter geschrieben! Fünfhundert Jahre sind am
30. Mai hingegangen, seit der erste Hohenzoller in Brandenburg einzog, um seinen
Nachfahren den Boden zu bereiten für den stolzen Bau eines neuen Deutschen
Reiches. Fünfhundert Jahre ständiger Kämpfe im Innern und nach außen, fünf¬
hundert Jahre stetigen Aufstiegs!

Wenn es Kaiser Wilhelm dem Zweiten heute vergönnt ist, zusammen mit
dem deutschen Volk und als dessen berufener Führer auf diese ruhmreiche Geschichte
des Hauses Hohenzollern zurückzublicken, so dankt er es vor allem denen unter
seinen Vorfahren, die ihre Zeit verstanden und die darum auch befähigt wurden,
ihr den Stempel aufzudrücken. Die Mark und später Preußen sind den Hohen¬
zollern auch nicht kampflos zu dem geworden, was sie ihnen heute sind. Wie der
sandige Boden sich nur in mühseliger, beständig harter Arbeit fruchtbar machen
ließ, so stellten auch die Bewohner nur nach heftigstem Widerstande ihre herr¬
lichen Gaben in den Dienst der neuen Fürsten, die einst rein persönlich
den Staat, das Allgemeinwohl verkörperten. Der "Tand von Nüremberg"
mußte erst seine Überlegenheit über das märkische Junkertum erweisen, ehe
dieses den neuen Staatsgedanken annahm und zur eigenen, sorgsam gepflegten
Tradition erhob. Mit jenen blutigen Kämpfen, die den Individualitäten der
Köckeritze und Jtzenplitze galten, war es indessen nicht abgetan. Hat auch der
brandenbnrgisch-preußische Adel den preußischen Staatsgedanken zu dem seinigen
gemacht, so hat er es bis heute noch nicht vermocht, diesen Staatsgedanken
immer und unter allen Umständen über seine eigenen Interessen zu stellen.
Das soziale Moment, das Friedrich Wilhelm der Erste dnrch die Schaffung




Reichsspiegel
Sozialpolitik ist Ncüionalpolitik!

Fünfhundert Jahre brandenburgische Geschichte — Der Trüb von Nüremberg und die
Junker — Neupreußischer Partikularismus — Der Zentralverband Deutscher Industrieller
in München — Überschätzung des Geldes als sozial ausgleichender Faktor — Der
evangelisch-soziale Kongreß in Essen — Hausindustrie-Kartelle — Überlandzentralen
— Engere Fühlung mit der Landwirtschaft — Politische Hemmungen

Es muß ein herrliches Bewußtsein geben, auf eine Geschichte von einem
halben Jahrtausend zurückblicken zu können und sich zusagen: diese Geschichte
hat mein Haus, haben meine Väter geschrieben! Fünfhundert Jahre sind am
30. Mai hingegangen, seit der erste Hohenzoller in Brandenburg einzog, um seinen
Nachfahren den Boden zu bereiten für den stolzen Bau eines neuen Deutschen
Reiches. Fünfhundert Jahre ständiger Kämpfe im Innern und nach außen, fünf¬
hundert Jahre stetigen Aufstiegs!

Wenn es Kaiser Wilhelm dem Zweiten heute vergönnt ist, zusammen mit
dem deutschen Volk und als dessen berufener Führer auf diese ruhmreiche Geschichte
des Hauses Hohenzollern zurückzublicken, so dankt er es vor allem denen unter
seinen Vorfahren, die ihre Zeit verstanden und die darum auch befähigt wurden,
ihr den Stempel aufzudrücken. Die Mark und später Preußen sind den Hohen¬
zollern auch nicht kampflos zu dem geworden, was sie ihnen heute sind. Wie der
sandige Boden sich nur in mühseliger, beständig harter Arbeit fruchtbar machen
ließ, so stellten auch die Bewohner nur nach heftigstem Widerstande ihre herr¬
lichen Gaben in den Dienst der neuen Fürsten, die einst rein persönlich
den Staat, das Allgemeinwohl verkörperten. Der „Tand von Nüremberg"
mußte erst seine Überlegenheit über das märkische Junkertum erweisen, ehe
dieses den neuen Staatsgedanken annahm und zur eigenen, sorgsam gepflegten
Tradition erhob. Mit jenen blutigen Kämpfen, die den Individualitäten der
Köckeritze und Jtzenplitze galten, war es indessen nicht abgetan. Hat auch der
brandenbnrgisch-preußische Adel den preußischen Staatsgedanken zu dem seinigen
gemacht, so hat er es bis heute noch nicht vermocht, diesen Staatsgedanken
immer und unter allen Umständen über seine eigenen Interessen zu stellen.
Das soziale Moment, das Friedrich Wilhelm der Erste dnrch die Schaffung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/504>, abgerufen am 26.05.2024.