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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

veränderte und verbesserte Stellung des
Lehrers zum Schüler und seiner Arbeit.

Besonders wertvoll erscheinen die Bemer¬
kungen des Verfassers über den deutschen
Aufsatz. Er führt die "Aufsatznot" an unseren
Schulen auf eine falsche Zielsetzung für den
deutschen Schulnufsatz zurück und weist nach,
daß dieser in vielen Fällen heute nicht nur
auf eine Entwicklung der Denk- und NuS-
drucksfähigkeit abzweckt und formelle Selbst-
ständigkeit fordert, sondern daß daneben un¬
berechtigterweise vielfach bei den gestellten
Themen Forderungen an die inhaltliche Selbst-
ständigkeit, an eigene Produktion, sei sie künst¬
lerischer oder wissenschaftlicher Art, erhoben
werden.

Mit vollem Recht verurteilt der Verfasser
diese Forderung als zu weit gehend und ver¬
langt das völlige Ausscheiden des Momentes
der Produktion, der inhaltlichen Selbständig¬
keit, im Schüleraussatz. Dessen eigentlichen
Zweck, Übung der Denk- und Ausdrucksfähig¬
keit, können nur Stoffe erfüllen, die inter¬
essieren oder völlig beherrscht werden, das
heißt solche, die dem Schüler aus eigener
Erfahrung bekannt und interessant oder durch
den Unterricht durchaus vertraut gemacht sind.
Völlige inhaltliche Beherrschung deS Stoffes
allein kann auch zur Verdrängung der Phrase
aus dein Schnlaufsatz und zu einem einfachen,
sachlichen und wahrhaftigen Stil führen.

Inhaltliche Selbständigkeit will der Ver¬
sasser mit Recht freiwilligen, aus dem Inter¬
esse am Stoff entsprungenen Arbeiten älterer
Schüler vorbehalten wissen.

Der Wert des Buches liegt in diesen
Pädagogischen Borschlägen und Ratschlägen,
nicht auf dem Gebiete der Kritik.

Oberlehrer Dr. ZV. Warstat-
Schöne Literatur
Erinnerungen an Heinrich Seidel,

mit
ungedruckten Briefen, persönlichen Aufzeich¬
nungen und Mitteilungen aus dein Nachlaß,
veröffentlicht zum 25. Juni, an welchem Tage
der Dichter seinen siebzigsten Geburtstag hätte
begehen können, sein Sohn H. Wolfgans, Seidel.
(Stuttgart und Berlin, I. G. Cottasche Buch-
handlg. Reichs. M 4.) In dem schönen Ab¬
schnitt "Unser Vater" sagt der Herausgeber
von sich: "Der Verfasser hat keinen biographi¬

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schen Ehrgeiz; es genügt ihm, allerlei ver¬
gessene Halme und Blumen zum Kranze zu
winden und sie denen darzubieten, die daran
Freude haben." Und die nicht kleine Gemeinde
derer, die sich an Seidels gemütvollem Humor
und besonders um der so berühmt gewordenen
Figur des "Leberecht Hühnchen" labten, wird
diese Erinnerungen, die zugleich ein hübsches
Bild vom Wachsen der Reichshauptstadt in
den siebziger und achtziger Jahren bieten,
gern neben deS Dichters Selbstbiographie
^,Von Perun nach Berlin" stellen. Es ist nur
natürlich, daß der Sohn in Pietätvollem Ge¬
denken auch manches aus persönlichen und
literarischen Beziehungen ausnimmt, was das
große Publikum weniger angeht.

Trojan, mit dem Seidel tiefe Wesenszüge
gemeinsam hat und dem er in Freundschaft
verbunden war, kommt mit Briefen und Ge¬
dichten zu Wort, und manches Original aus
früheren Jahren, in denen alle noch so un¬
glaublich viel Zeit hatten, ersteht in diesen
Blättern.

Auf weiteres Interesse können besonders
die Kapitel über des "Tunnels an der Spree"
Entstehung und Ende rechnen, worüber bis¬
lang das Beste Fontane in seinem "Scheren¬
berg" und in seinen Lebenserinnerungen auf¬
gezeichnet hatte, sowie über den Nachfahr
dieser fröhlichen Dichtergesellschaft, den "All¬
gemeinen Deutschen Neimverein", dessen Ab¬
sicht, gegen den Dilettantismus zu wirken,
wie Theodor Storni schrieb, zwar gut war,
dessen Satire aber "zu zahm" auftrat, um
etwas auszurichten. Auch in den "Aus der
Werkstatt" mitgeteilten Spänen findet sich manch
bezeichnendes und humorvolles Wort, das uns
den aus vielen Erzählungen liebgewordenen
Toten wieder zurückruft, dessen Phantasie bei
seineni Einzuge in die Großstadt "Straßen
und Kanäle mit eisernen Brückenbogen über¬
spannte, über denen zu allen Zeiten eine Wolke
singender Lerchen stand." Diese singenden
Lerchen sind dem Dichter bis zuletzt treu ge¬
blieben, als er, nach Vollendung der AnHalter
Bahnhofshallo, an deren Bau er erheblichen
Anteil hatte, aus den" Häusermeer sich in
die stillere Vorstadt und in sein Häuschen im
blühenden Garten zurückgezogen hatte, und
sie werden besonders aus seinen Gedichten
und den Märchen, auf die der Sohn mit Recht

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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veränderte und verbesserte Stellung des
Lehrers zum Schüler und seiner Arbeit.

Besonders wertvoll erscheinen die Bemer¬
kungen des Verfassers über den deutschen
Aufsatz. Er führt die „Aufsatznot" an unseren
Schulen auf eine falsche Zielsetzung für den
deutschen Schulnufsatz zurück und weist nach,
daß dieser in vielen Fällen heute nicht nur
auf eine Entwicklung der Denk- und NuS-
drucksfähigkeit abzweckt und formelle Selbst-
ständigkeit fordert, sondern daß daneben un¬
berechtigterweise vielfach bei den gestellten
Themen Forderungen an die inhaltliche Selbst-
ständigkeit, an eigene Produktion, sei sie künst¬
lerischer oder wissenschaftlicher Art, erhoben
werden.

Mit vollem Recht verurteilt der Verfasser
diese Forderung als zu weit gehend und ver¬
langt das völlige Ausscheiden des Momentes
der Produktion, der inhaltlichen Selbständig¬
keit, im Schüleraussatz. Dessen eigentlichen
Zweck, Übung der Denk- und Ausdrucksfähig¬
keit, können nur Stoffe erfüllen, die inter¬
essieren oder völlig beherrscht werden, das
heißt solche, die dem Schüler aus eigener
Erfahrung bekannt und interessant oder durch
den Unterricht durchaus vertraut gemacht sind.
Völlige inhaltliche Beherrschung deS Stoffes
allein kann auch zur Verdrängung der Phrase
aus dein Schnlaufsatz und zu einem einfachen,
sachlichen und wahrhaftigen Stil führen.

Inhaltliche Selbständigkeit will der Ver¬
sasser mit Recht freiwilligen, aus dem Inter¬
esse am Stoff entsprungenen Arbeiten älterer
Schüler vorbehalten wissen.

Der Wert des Buches liegt in diesen
Pädagogischen Borschlägen und Ratschlägen,
nicht auf dem Gebiete der Kritik.

Oberlehrer Dr. ZV. Warstat-
Schöne Literatur
Erinnerungen an Heinrich Seidel,

mit
ungedruckten Briefen, persönlichen Aufzeich¬
nungen und Mitteilungen aus dein Nachlaß,
veröffentlicht zum 25. Juni, an welchem Tage
der Dichter seinen siebzigsten Geburtstag hätte
begehen können, sein Sohn H. Wolfgans, Seidel.
(Stuttgart und Berlin, I. G. Cottasche Buch-
handlg. Reichs. M 4.) In dem schönen Ab¬
schnitt „Unser Vater" sagt der Herausgeber
von sich: „Der Verfasser hat keinen biographi¬

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schen Ehrgeiz; es genügt ihm, allerlei ver¬
gessene Halme und Blumen zum Kranze zu
winden und sie denen darzubieten, die daran
Freude haben." Und die nicht kleine Gemeinde
derer, die sich an Seidels gemütvollem Humor
und besonders um der so berühmt gewordenen
Figur des „Leberecht Hühnchen" labten, wird
diese Erinnerungen, die zugleich ein hübsches
Bild vom Wachsen der Reichshauptstadt in
den siebziger und achtziger Jahren bieten,
gern neben deS Dichters Selbstbiographie
^,Von Perun nach Berlin" stellen. Es ist nur
natürlich, daß der Sohn in Pietätvollem Ge¬
denken auch manches aus persönlichen und
literarischen Beziehungen ausnimmt, was das
große Publikum weniger angeht.

Trojan, mit dem Seidel tiefe Wesenszüge
gemeinsam hat und dem er in Freundschaft
verbunden war, kommt mit Briefen und Ge¬
dichten zu Wort, und manches Original aus
früheren Jahren, in denen alle noch so un¬
glaublich viel Zeit hatten, ersteht in diesen
Blättern.

Auf weiteres Interesse können besonders
die Kapitel über des „Tunnels an der Spree"
Entstehung und Ende rechnen, worüber bis¬
lang das Beste Fontane in seinem „Scheren¬
berg" und in seinen Lebenserinnerungen auf¬
gezeichnet hatte, sowie über den Nachfahr
dieser fröhlichen Dichtergesellschaft, den „All¬
gemeinen Deutschen Neimverein", dessen Ab¬
sicht, gegen den Dilettantismus zu wirken,
wie Theodor Storni schrieb, zwar gut war,
dessen Satire aber „zu zahm" auftrat, um
etwas auszurichten. Auch in den „Aus der
Werkstatt" mitgeteilten Spänen findet sich manch
bezeichnendes und humorvolles Wort, das uns
den aus vielen Erzählungen liebgewordenen
Toten wieder zurückruft, dessen Phantasie bei
seineni Einzuge in die Großstadt „Straßen
und Kanäle mit eisernen Brückenbogen über¬
spannte, über denen zu allen Zeiten eine Wolke
singender Lerchen stand." Diese singenden
Lerchen sind dem Dichter bis zuletzt treu ge¬
blieben, als er, nach Vollendung der AnHalter
Bahnhofshallo, an deren Bau er erheblichen
Anteil hatte, aus den« Häusermeer sich in
die stillere Vorstadt und in sein Häuschen im
blühenden Garten zurückgezogen hatte, und
sie werden besonders aus seinen Gedichten
und den Märchen, auf die der Sohn mit Recht

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[0599] Maßgebliches und Unmaßgebliches veränderte und verbesserte Stellung des Lehrers zum Schüler und seiner Arbeit. Besonders wertvoll erscheinen die Bemer¬ kungen des Verfassers über den deutschen Aufsatz. Er führt die „Aufsatznot" an unseren Schulen auf eine falsche Zielsetzung für den deutschen Schulnufsatz zurück und weist nach, daß dieser in vielen Fällen heute nicht nur auf eine Entwicklung der Denk- und NuS- drucksfähigkeit abzweckt und formelle Selbst- ständigkeit fordert, sondern daß daneben un¬ berechtigterweise vielfach bei den gestellten Themen Forderungen an die inhaltliche Selbst- ständigkeit, an eigene Produktion, sei sie künst¬ lerischer oder wissenschaftlicher Art, erhoben werden. Mit vollem Recht verurteilt der Verfasser diese Forderung als zu weit gehend und ver¬ langt das völlige Ausscheiden des Momentes der Produktion, der inhaltlichen Selbständig¬ keit, im Schüleraussatz. Dessen eigentlichen Zweck, Übung der Denk- und Ausdrucksfähig¬ keit, können nur Stoffe erfüllen, die inter¬ essieren oder völlig beherrscht werden, das heißt solche, die dem Schüler aus eigener Erfahrung bekannt und interessant oder durch den Unterricht durchaus vertraut gemacht sind. Völlige inhaltliche Beherrschung deS Stoffes allein kann auch zur Verdrängung der Phrase aus dein Schnlaufsatz und zu einem einfachen, sachlichen und wahrhaftigen Stil führen. Inhaltliche Selbständigkeit will der Ver¬ sasser mit Recht freiwilligen, aus dem Inter¬ esse am Stoff entsprungenen Arbeiten älterer Schüler vorbehalten wissen. Der Wert des Buches liegt in diesen Pädagogischen Borschlägen und Ratschlägen, nicht auf dem Gebiete der Kritik. Oberlehrer Dr. ZV. Warstat- Schöne Literatur Erinnerungen an Heinrich Seidel, mit ungedruckten Briefen, persönlichen Aufzeich¬ nungen und Mitteilungen aus dein Nachlaß, veröffentlicht zum 25. Juni, an welchem Tage der Dichter seinen siebzigsten Geburtstag hätte begehen können, sein Sohn H. Wolfgans, Seidel. (Stuttgart und Berlin, I. G. Cottasche Buch- handlg. Reichs. M 4.) In dem schönen Ab¬ schnitt „Unser Vater" sagt der Herausgeber von sich: „Der Verfasser hat keinen biographi¬ schen Ehrgeiz; es genügt ihm, allerlei ver¬ gessene Halme und Blumen zum Kranze zu winden und sie denen darzubieten, die daran Freude haben." Und die nicht kleine Gemeinde derer, die sich an Seidels gemütvollem Humor und besonders um der so berühmt gewordenen Figur des „Leberecht Hühnchen" labten, wird diese Erinnerungen, die zugleich ein hübsches Bild vom Wachsen der Reichshauptstadt in den siebziger und achtziger Jahren bieten, gern neben deS Dichters Selbstbiographie ^,Von Perun nach Berlin" stellen. Es ist nur natürlich, daß der Sohn in Pietätvollem Ge¬ denken auch manches aus persönlichen und literarischen Beziehungen ausnimmt, was das große Publikum weniger angeht. Trojan, mit dem Seidel tiefe Wesenszüge gemeinsam hat und dem er in Freundschaft verbunden war, kommt mit Briefen und Ge¬ dichten zu Wort, und manches Original aus früheren Jahren, in denen alle noch so un¬ glaublich viel Zeit hatten, ersteht in diesen Blättern. Auf weiteres Interesse können besonders die Kapitel über des „Tunnels an der Spree" Entstehung und Ende rechnen, worüber bis¬ lang das Beste Fontane in seinem „Scheren¬ berg" und in seinen Lebenserinnerungen auf¬ gezeichnet hatte, sowie über den Nachfahr dieser fröhlichen Dichtergesellschaft, den „All¬ gemeinen Deutschen Neimverein", dessen Ab¬ sicht, gegen den Dilettantismus zu wirken, wie Theodor Storni schrieb, zwar gut war, dessen Satire aber „zu zahm" auftrat, um etwas auszurichten. Auch in den „Aus der Werkstatt" mitgeteilten Spänen findet sich manch bezeichnendes und humorvolles Wort, das uns den aus vielen Erzählungen liebgewordenen Toten wieder zurückruft, dessen Phantasie bei seineni Einzuge in die Großstadt „Straßen und Kanäle mit eisernen Brückenbogen über¬ spannte, über denen zu allen Zeiten eine Wolke singender Lerchen stand." Diese singenden Lerchen sind dem Dichter bis zuletzt treu ge¬ blieben, als er, nach Vollendung der AnHalter Bahnhofshallo, an deren Bau er erheblichen Anteil hatte, aus den« Häusermeer sich in die stillere Vorstadt und in sein Häuschen im blühenden Garten zurückgezogen hatte, und sie werden besonders aus seinen Gedichten und den Märchen, auf die der Sohn mit Recht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/599>, abgerufen am 18.05.2024.