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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Schlußexamina im Unterricht neben der För¬
derung des Schülers gleichzeitig noch ein an¬
deres Ziel im Auge haben muß, nämlich das,
sich über die Leistungen des Schülers ein
Urteil zu bilden, sie zu prüfen, erhöht nicht
nur die "Schulangst" und die "Schulsorge"
bei vielen Schülern, sondern treibt sie auch
zur Unredlichkeit, zum Vorsagen, zum Be¬
nutzen unerlaubter Hilfsmittel, zum Betrügen
des Lehrers. Und dieser Folgeerscheinung steht
der Lehrer im Grunde ziemlich machtlos gegen¬
über, er kann es nur in sehr beschränktem
Maße kontrollieren, ob die häuslichen Ar¬
beiten, die schriftlichen Klassenarbeiten und der
deutsche Aufsatz selbständige Leistungen der
Schüler sind.

An diesen drei Arten von Schülerarbeiten
weist der Verfasser den schädlichen Einfluß
jener beiden Faktoren im einzelnen nach.

Es ist ohne weiteres klar, daß ein so
schlimmer Einfluß von "Zwang" und "Prü¬
fung" auf die unterrichtliche und die erzieh¬
liche Wirksamkeit unserer Schulen vielfach be¬
steht und daß der Verfasser ihn auch richtig
wertet.

Die Kritik Büttners richtet sich aber, Wie
mir scheint, nach einer falschen Seite.

Er stellt jene beiden Faktoren als not¬
wendig mit den Grundlagen unseres höheren
Unterrichtswesens verknüpft dar. Eine wirk¬
lich notwendige Verknüpfung beider besteht
aber nur da, wo die Organisation unserer
Schulen als starre, tote und lebenertötcnde
Form wirkt, wo ihr nicht das Pädagogische
Geschick, die erzieherische Persönlichkeit des
Lehrers Leben und Blut einflößt.

Diesen belebenden und mildernden Ein¬
fluß der erzieherischen Persönlichkeit schaltet
aber Büttner von vornherein bewußt aus,
für ihn soll, wie er selbst in der Einleitung
sagt, diese persönliche Seite der Sache nicht
Gegenstand der Erörterung sein, er will viel¬
mehr die fraglichen Erscheinungen "ausschlie߬
lich als Ausfluß der eigentümlichen Gestaltung
unseres Schulbetriebs" behandeln, obgleich er
sich bewußt ist, "daß auch tüchtige Lehrer die
in der Eigenart des Betriebes liegenden
Hindernisse zu überwinden und trotz ihrer
eine in jeder Hinsicht wahrhaft ersprießliche
Tätigkeit zu entfalten vermögen."

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Das durfte der Verfasser aber nicht, ohne
von vornherein alle seine Ausführungen auf
eine falsche Grundlage zu stellen. Er setzt
jetzt Erscheinungen auf das Schuldkonto unserer
Schulorganisnlion, die er dem Pädagogischen
Ungeschick zuschreiben müßte.

Auch nach den offiziellen Vorschriften sollen
die Zeiten für uns vorbei sein, da der Ober¬
lehrer mit dem Notizbuch in der Hand jede
Klassenleistung des Schülers ängstlich wertete,
die Hausarbeiten jedes einzelnen aufs strengste
kontrollieren zu müssen glaubte, jeden über¬
eifriger lauten und -- leisen Zwischenruf
eines Mitschülers als störend oder versuchten
Betrug kennzeichnete, da jede .Massenarbeit
sich zur Probe- und Prüfungsarbeit gestaltete.
Wo es dennoch geschieht, da liegt die Schuld
auf feiten des Lehrers.

Daß die Kritik Büttners sich in Wahrheit
gegen das Pädagogische Ungeschick richtet, das
zeigen auch die Positiven Vorschläge, die er
macht. Es sind alles keine solchen, die an
den Grundlagen unseres Unterrichtsbetriebes
rütteln, es sind alles vielmehr Ratschläge
eines guten Pädagogen an einen zu belehren¬
den und zu bessernden und zielen darauf ab,
jene beiden Faktoren "Zwang" und "Prü¬
fung" so viel als möglich zurücktreten zu lassen
und dafür die selbständige, interessierte und
freiwillige Arbeit des Schülers heranzuziehen,
daS Bildungsziel der Schule in den Vorder¬
grund zu stellen.

Zweifelhast erscheint es mir, ob das Ver¬
antwortlichkeitsgefühl des Schülers schon in
genügender Stärke vorhanden ist, oder ob es
möglich ist, eS bis zu einer genügenden In¬
tensität heranzuerziehen, so daß man die
häuslichen Arbeiten der Schüler für freiwillige
erklären und ihrem Verantwortlichkeitsgefühl
allein die Kontrolle über sie übertragen könnte.
Das Kind lebt ohne Verantwortlichkeit der
Gegenwart allein; das Verantwortlichkeits¬
gefühl ist der Segen oder auch der Fluch des
Erwachsenen.

Eine gewisse Kontrolle, ein gewisser Zwang,
eine leitende Hand auf feiten des Lehrers ist
eine erziehliche Notwendigkeit. Der Lehrer
darf nur nicht kontrollieren, ob der Schüler
"gelernt hat", sondern, ob er das betreffende
Stoffgebiet beherrscht. Das scheint ein Spiel
mit Worten, bedeutet aber eine grundlegend

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Schlußexamina im Unterricht neben der För¬
derung des Schülers gleichzeitig noch ein an¬
deres Ziel im Auge haben muß, nämlich das,
sich über die Leistungen des Schülers ein
Urteil zu bilden, sie zu prüfen, erhöht nicht
nur die „Schulangst" und die „Schulsorge"
bei vielen Schülern, sondern treibt sie auch
zur Unredlichkeit, zum Vorsagen, zum Be¬
nutzen unerlaubter Hilfsmittel, zum Betrügen
des Lehrers. Und dieser Folgeerscheinung steht
der Lehrer im Grunde ziemlich machtlos gegen¬
über, er kann es nur in sehr beschränktem
Maße kontrollieren, ob die häuslichen Ar¬
beiten, die schriftlichen Klassenarbeiten und der
deutsche Aufsatz selbständige Leistungen der
Schüler sind.

An diesen drei Arten von Schülerarbeiten
weist der Verfasser den schädlichen Einfluß
jener beiden Faktoren im einzelnen nach.

Es ist ohne weiteres klar, daß ein so
schlimmer Einfluß von „Zwang" und „Prü¬
fung" auf die unterrichtliche und die erzieh¬
liche Wirksamkeit unserer Schulen vielfach be¬
steht und daß der Verfasser ihn auch richtig
wertet.

Die Kritik Büttners richtet sich aber, Wie
mir scheint, nach einer falschen Seite.

Er stellt jene beiden Faktoren als not¬
wendig mit den Grundlagen unseres höheren
Unterrichtswesens verknüpft dar. Eine wirk¬
lich notwendige Verknüpfung beider besteht
aber nur da, wo die Organisation unserer
Schulen als starre, tote und lebenertötcnde
Form wirkt, wo ihr nicht das Pädagogische
Geschick, die erzieherische Persönlichkeit des
Lehrers Leben und Blut einflößt.

Diesen belebenden und mildernden Ein¬
fluß der erzieherischen Persönlichkeit schaltet
aber Büttner von vornherein bewußt aus,
für ihn soll, wie er selbst in der Einleitung
sagt, diese persönliche Seite der Sache nicht
Gegenstand der Erörterung sein, er will viel¬
mehr die fraglichen Erscheinungen „ausschlie߬
lich als Ausfluß der eigentümlichen Gestaltung
unseres Schulbetriebs" behandeln, obgleich er
sich bewußt ist, „daß auch tüchtige Lehrer die
in der Eigenart des Betriebes liegenden
Hindernisse zu überwinden und trotz ihrer
eine in jeder Hinsicht wahrhaft ersprießliche
Tätigkeit zu entfalten vermögen."

[Spaltenumbruch]

Das durfte der Verfasser aber nicht, ohne
von vornherein alle seine Ausführungen auf
eine falsche Grundlage zu stellen. Er setzt
jetzt Erscheinungen auf das Schuldkonto unserer
Schulorganisnlion, die er dem Pädagogischen
Ungeschick zuschreiben müßte.

Auch nach den offiziellen Vorschriften sollen
die Zeiten für uns vorbei sein, da der Ober¬
lehrer mit dem Notizbuch in der Hand jede
Klassenleistung des Schülers ängstlich wertete,
die Hausarbeiten jedes einzelnen aufs strengste
kontrollieren zu müssen glaubte, jeden über¬
eifriger lauten und — leisen Zwischenruf
eines Mitschülers als störend oder versuchten
Betrug kennzeichnete, da jede .Massenarbeit
sich zur Probe- und Prüfungsarbeit gestaltete.
Wo es dennoch geschieht, da liegt die Schuld
auf feiten des Lehrers.

Daß die Kritik Büttners sich in Wahrheit
gegen das Pädagogische Ungeschick richtet, das
zeigen auch die Positiven Vorschläge, die er
macht. Es sind alles keine solchen, die an
den Grundlagen unseres Unterrichtsbetriebes
rütteln, es sind alles vielmehr Ratschläge
eines guten Pädagogen an einen zu belehren¬
den und zu bessernden und zielen darauf ab,
jene beiden Faktoren „Zwang" und „Prü¬
fung" so viel als möglich zurücktreten zu lassen
und dafür die selbständige, interessierte und
freiwillige Arbeit des Schülers heranzuziehen,
daS Bildungsziel der Schule in den Vorder¬
grund zu stellen.

Zweifelhast erscheint es mir, ob das Ver¬
antwortlichkeitsgefühl des Schülers schon in
genügender Stärke vorhanden ist, oder ob es
möglich ist, eS bis zu einer genügenden In¬
tensität heranzuerziehen, so daß man die
häuslichen Arbeiten der Schüler für freiwillige
erklären und ihrem Verantwortlichkeitsgefühl
allein die Kontrolle über sie übertragen könnte.
Das Kind lebt ohne Verantwortlichkeit der
Gegenwart allein; das Verantwortlichkeits¬
gefühl ist der Segen oder auch der Fluch des
Erwachsenen.

Eine gewisse Kontrolle, ein gewisser Zwang,
eine leitende Hand auf feiten des Lehrers ist
eine erziehliche Notwendigkeit. Der Lehrer
darf nur nicht kontrollieren, ob der Schüler
„gelernt hat", sondern, ob er das betreffende
Stoffgebiet beherrscht. Das scheint ein Spiel
mit Worten, bedeutet aber eine grundlegend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/598>, abgerufen am 10.06.2024.