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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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als nur solche sich zum Universitätsstudium
entschließen werden, die einen Überschuß an
geistiger Kraft besitzen.

Nur nebenbei sei hier eine Betrachtung
angestellt über die Tatsache, daß von den 34
Studienanstalten in Preußen vier Anstalten
der gymnasialen, 27 der realgymnasialen und
drei der Oberrcalschulrichtung folgen l.s, die
oben angezogene Korrespondenz). Wäre bei
Gründung dieser Anstalten stets der Interessen-
kreis der Mädchen als entscheidender Grund
angenommen worden, so hätte man durchweg
den humanistischen Weg betreten, man hätte
Gymnasien mit griechischer Sprache und
Literatur gründen müssen, die den Mädchen
ganz anderen Gewinn bringen können, viel
besser geeignet sind, sie zu fesseln und zu be¬
geistern für das ganze Leben, als die Be¬
schäftigung mit den lateinischen Schulschrift¬
stellern, mit Naturwissenschaft und Mathematik.

Zum Schluß seien einige praktische Er¬
wägungen angestellt, die dem höheren Lehre¬
rinnenseminar eine Vorzugsstellung vor der
Studienanstalt anweisen.

Der Gang durch die Studtenanstalt er¬
fordert eine Entscheidung der Schülerinnen
mit dreizehn Jahren, der durch das Lehre¬
rinnenseminar erst mit sechzehn Jahren. Wird
dieser Weg dann nicht gewählt, so besitzt die
von der höheren Mädchenschule, dem Lyzeum,
abgehende Schülerin doch eine abgeschlossene
Bildung, die die Studienanstalt als reine
Vorbereitungsanstalt für die Universität nicht
gibt. -- Auch die Schülerinnen, die Studien¬
anstalt und Universität wählen, werden meist
dem Lehrerinnenberuf zustreben und versäumen
so die bei weitem bessere Gelegenheit zur
Vorbereitung, die das Seminar für diesen
Beruf einmal mit der Praxis der Ubungs-
schule und dann mit dem steten, jahrelangen
Wechsel von Theorie und Praxis gibt, dessen
Wert und Notwendigkeit auf anderen Gebieten,
z. B. dem der Medizin, längst anerkannt ist.
-- Die Schülerin des Seminars ist mit
zwanzig Jahre" nach wohlbestandener Prü¬
fung erwerbsfähig. Die Schülerin der Stu-
dienanstnlt fängt jetzt ihr Berussstudium erst
an. Nun denke man an unvorhergesehene
Schicksalsschläge oder an andere Ursachen,
die das weitere Studium verhindern. Wie
viel besser erscheint bei solchen Erwägungen

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der erste Weg, bei dem ohnehin das Univer¬
sitätsstudium ebenfalls möglich ist! -- Nicht
unerwähnt darf ferner bleiben, daß gerade
das Alter von zwanzig Jahren die Zeit ist,
in der sich viele Mädchen verloben. Was
nützt allen diesen das ans der Stildienanstalt
erworbene Wissen! Sie find auf ihrem Bil¬
dungsgang stecken geblieben. Halbheit und
Unklarheit ist das Ergebnis. Für Haus-
haltungS- und Mutterberuf haben sie nichts
erworben. Das Seminar hingegen mit seiner
reichen Unterweisung auf allen Zweigen des
Erziehungsgeschäftes ist auch für diesen Beruf
eine direkte Vorbereitungsanstalt.

Die Klagen darüber, daß unsere höheren
Knabenschulen ihre Zöglinge körperlich und
geistig schädigten, wallen nicht verstummen.
Sie sind gewiß übertrieben; aber wenn auch
nur ein Teil der Vorwürfe, die man ihnen
macht, zutreffend ist, wie kann man da ver¬
antworten, solchen Gefahren unsere weibliche
Jugend auszusetzen, auf deren Gesundheit das
Wohl unseres Volkes beruht!

Prof. Dr. Göxfcrt
I)-'. E. Dickhoff, "Reformbestrebungen
auf dem Gebiete der Schulhygiene, der
Erziehung und des ersten Jugenduntcr-
richts." Teubner, Leipzig 1911.

Die mir 124 Seiten umfassende Schrift
zeugt von starker Eigenart. Mit großem
Geschick ist hier ein ungeheurer Stoff in seinen
wichtigsten Merkpunkten so eng zusammen¬
gearbeitet, daß das Ergebnis in Broschüren¬
form erscheinen konnte, ein zwar äußerlicher,
aber großer Borzug in einer Zeit, wo man
gewöhnt ist, die unwesentlichsten Dinge immer
gleich in dicken Bänden bearbeitet zu sehen.
Diese treffende Kürze ist eine Eigenart, die
in allen Kapiteln des Buches hervortritt und
angenehm berührt. Die Arbeit ist ein Quer¬
schnitt durch die heutige Literatur der Er¬
ziehung, des Unterrichts und ihrer Grenz¬
gebiete in bezug auf den ersten Jugendunter¬
richt und entwickelt die modernen Forderungen,
wie sie in den als Unterlage dienenden etwa
269 einschläglichen Werken niedergelegt sind.
Ein vorzüglich gearbeiteter Literaturnachweis,
nach Sachgebieten geordnet, führt diese
Schriften auf und wird so einmal zum Mo¬
nument werden von dem, was man um 1911

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Grenzvoten III 191255
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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als nur solche sich zum Universitätsstudium
entschließen werden, die einen Überschuß an
geistiger Kraft besitzen.

Nur nebenbei sei hier eine Betrachtung
angestellt über die Tatsache, daß von den 34
Studienanstalten in Preußen vier Anstalten
der gymnasialen, 27 der realgymnasialen und
drei der Oberrcalschulrichtung folgen l.s, die
oben angezogene Korrespondenz). Wäre bei
Gründung dieser Anstalten stets der Interessen-
kreis der Mädchen als entscheidender Grund
angenommen worden, so hätte man durchweg
den humanistischen Weg betreten, man hätte
Gymnasien mit griechischer Sprache und
Literatur gründen müssen, die den Mädchen
ganz anderen Gewinn bringen können, viel
besser geeignet sind, sie zu fesseln und zu be¬
geistern für das ganze Leben, als die Be¬
schäftigung mit den lateinischen Schulschrift¬
stellern, mit Naturwissenschaft und Mathematik.

Zum Schluß seien einige praktische Er¬
wägungen angestellt, die dem höheren Lehre¬
rinnenseminar eine Vorzugsstellung vor der
Studienanstalt anweisen.

Der Gang durch die Studtenanstalt er¬
fordert eine Entscheidung der Schülerinnen
mit dreizehn Jahren, der durch das Lehre¬
rinnenseminar erst mit sechzehn Jahren. Wird
dieser Weg dann nicht gewählt, so besitzt die
von der höheren Mädchenschule, dem Lyzeum,
abgehende Schülerin doch eine abgeschlossene
Bildung, die die Studienanstalt als reine
Vorbereitungsanstalt für die Universität nicht
gibt. — Auch die Schülerinnen, die Studien¬
anstalt und Universität wählen, werden meist
dem Lehrerinnenberuf zustreben und versäumen
so die bei weitem bessere Gelegenheit zur
Vorbereitung, die das Seminar für diesen
Beruf einmal mit der Praxis der Ubungs-
schule und dann mit dem steten, jahrelangen
Wechsel von Theorie und Praxis gibt, dessen
Wert und Notwendigkeit auf anderen Gebieten,
z. B. dem der Medizin, längst anerkannt ist.
— Die Schülerin des Seminars ist mit
zwanzig Jahre» nach wohlbestandener Prü¬
fung erwerbsfähig. Die Schülerin der Stu-
dienanstnlt fängt jetzt ihr Berussstudium erst
an. Nun denke man an unvorhergesehene
Schicksalsschläge oder an andere Ursachen,
die das weitere Studium verhindern. Wie
viel besser erscheint bei solchen Erwägungen

[Spaltenumbruch]

der erste Weg, bei dem ohnehin das Univer¬
sitätsstudium ebenfalls möglich ist! — Nicht
unerwähnt darf ferner bleiben, daß gerade
das Alter von zwanzig Jahren die Zeit ist,
in der sich viele Mädchen verloben. Was
nützt allen diesen das ans der Stildienanstalt
erworbene Wissen! Sie find auf ihrem Bil¬
dungsgang stecken geblieben. Halbheit und
Unklarheit ist das Ergebnis. Für Haus-
haltungS- und Mutterberuf haben sie nichts
erworben. Das Seminar hingegen mit seiner
reichen Unterweisung auf allen Zweigen des
Erziehungsgeschäftes ist auch für diesen Beruf
eine direkte Vorbereitungsanstalt.

Die Klagen darüber, daß unsere höheren
Knabenschulen ihre Zöglinge körperlich und
geistig schädigten, wallen nicht verstummen.
Sie sind gewiß übertrieben; aber wenn auch
nur ein Teil der Vorwürfe, die man ihnen
macht, zutreffend ist, wie kann man da ver¬
antworten, solchen Gefahren unsere weibliche
Jugend auszusetzen, auf deren Gesundheit das
Wohl unseres Volkes beruht!

Prof. Dr. Göxfcrt
I)-'. E. Dickhoff, „Reformbestrebungen
auf dem Gebiete der Schulhygiene, der
Erziehung und des ersten Jugenduntcr-
richts." Teubner, Leipzig 1911.

Die mir 124 Seiten umfassende Schrift
zeugt von starker Eigenart. Mit großem
Geschick ist hier ein ungeheurer Stoff in seinen
wichtigsten Merkpunkten so eng zusammen¬
gearbeitet, daß das Ergebnis in Broschüren¬
form erscheinen konnte, ein zwar äußerlicher,
aber großer Borzug in einer Zeit, wo man
gewöhnt ist, die unwesentlichsten Dinge immer
gleich in dicken Bänden bearbeitet zu sehen.
Diese treffende Kürze ist eine Eigenart, die
in allen Kapiteln des Buches hervortritt und
angenehm berührt. Die Arbeit ist ein Quer¬
schnitt durch die heutige Literatur der Er¬
ziehung, des Unterrichts und ihrer Grenz¬
gebiete in bezug auf den ersten Jugendunter¬
richt und entwickelt die modernen Forderungen,
wie sie in den als Unterlage dienenden etwa
269 einschläglichen Werken niedergelegt sind.
Ein vorzüglich gearbeiteter Literaturnachweis,
nach Sachgebieten geordnet, führt diese
Schriften auf und wird so einmal zum Mo¬
nument werden von dem, was man um 1911

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Grenzvoten III 191255
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[0441] Maßgebliches und Unmaßgebliches als nur solche sich zum Universitätsstudium entschließen werden, die einen Überschuß an geistiger Kraft besitzen. Nur nebenbei sei hier eine Betrachtung angestellt über die Tatsache, daß von den 34 Studienanstalten in Preußen vier Anstalten der gymnasialen, 27 der realgymnasialen und drei der Oberrcalschulrichtung folgen l.s, die oben angezogene Korrespondenz). Wäre bei Gründung dieser Anstalten stets der Interessen- kreis der Mädchen als entscheidender Grund angenommen worden, so hätte man durchweg den humanistischen Weg betreten, man hätte Gymnasien mit griechischer Sprache und Literatur gründen müssen, die den Mädchen ganz anderen Gewinn bringen können, viel besser geeignet sind, sie zu fesseln und zu be¬ geistern für das ganze Leben, als die Be¬ schäftigung mit den lateinischen Schulschrift¬ stellern, mit Naturwissenschaft und Mathematik. Zum Schluß seien einige praktische Er¬ wägungen angestellt, die dem höheren Lehre¬ rinnenseminar eine Vorzugsstellung vor der Studienanstalt anweisen. Der Gang durch die Studtenanstalt er¬ fordert eine Entscheidung der Schülerinnen mit dreizehn Jahren, der durch das Lehre¬ rinnenseminar erst mit sechzehn Jahren. Wird dieser Weg dann nicht gewählt, so besitzt die von der höheren Mädchenschule, dem Lyzeum, abgehende Schülerin doch eine abgeschlossene Bildung, die die Studienanstalt als reine Vorbereitungsanstalt für die Universität nicht gibt. — Auch die Schülerinnen, die Studien¬ anstalt und Universität wählen, werden meist dem Lehrerinnenberuf zustreben und versäumen so die bei weitem bessere Gelegenheit zur Vorbereitung, die das Seminar für diesen Beruf einmal mit der Praxis der Ubungs- schule und dann mit dem steten, jahrelangen Wechsel von Theorie und Praxis gibt, dessen Wert und Notwendigkeit auf anderen Gebieten, z. B. dem der Medizin, längst anerkannt ist. — Die Schülerin des Seminars ist mit zwanzig Jahre» nach wohlbestandener Prü¬ fung erwerbsfähig. Die Schülerin der Stu- dienanstnlt fängt jetzt ihr Berussstudium erst an. Nun denke man an unvorhergesehene Schicksalsschläge oder an andere Ursachen, die das weitere Studium verhindern. Wie viel besser erscheint bei solchen Erwägungen der erste Weg, bei dem ohnehin das Univer¬ sitätsstudium ebenfalls möglich ist! — Nicht unerwähnt darf ferner bleiben, daß gerade das Alter von zwanzig Jahren die Zeit ist, in der sich viele Mädchen verloben. Was nützt allen diesen das ans der Stildienanstalt erworbene Wissen! Sie find auf ihrem Bil¬ dungsgang stecken geblieben. Halbheit und Unklarheit ist das Ergebnis. Für Haus- haltungS- und Mutterberuf haben sie nichts erworben. Das Seminar hingegen mit seiner reichen Unterweisung auf allen Zweigen des Erziehungsgeschäftes ist auch für diesen Beruf eine direkte Vorbereitungsanstalt. Die Klagen darüber, daß unsere höheren Knabenschulen ihre Zöglinge körperlich und geistig schädigten, wallen nicht verstummen. Sie sind gewiß übertrieben; aber wenn auch nur ein Teil der Vorwürfe, die man ihnen macht, zutreffend ist, wie kann man da ver¬ antworten, solchen Gefahren unsere weibliche Jugend auszusetzen, auf deren Gesundheit das Wohl unseres Volkes beruht! Prof. Dr. Göxfcrt I)-'. E. Dickhoff, „Reformbestrebungen auf dem Gebiete der Schulhygiene, der Erziehung und des ersten Jugenduntcr- richts." Teubner, Leipzig 1911. Die mir 124 Seiten umfassende Schrift zeugt von starker Eigenart. Mit großem Geschick ist hier ein ungeheurer Stoff in seinen wichtigsten Merkpunkten so eng zusammen¬ gearbeitet, daß das Ergebnis in Broschüren¬ form erscheinen konnte, ein zwar äußerlicher, aber großer Borzug in einer Zeit, wo man gewöhnt ist, die unwesentlichsten Dinge immer gleich in dicken Bänden bearbeitet zu sehen. Diese treffende Kürze ist eine Eigenart, die in allen Kapiteln des Buches hervortritt und angenehm berührt. Die Arbeit ist ein Quer¬ schnitt durch die heutige Literatur der Er¬ ziehung, des Unterrichts und ihrer Grenz¬ gebiete in bezug auf den ersten Jugendunter¬ richt und entwickelt die modernen Forderungen, wie sie in den als Unterlage dienenden etwa 269 einschläglichen Werken niedergelegt sind. Ein vorzüglich gearbeiteter Literaturnachweis, nach Sachgebieten geordnet, führt diese Schriften auf und wird so einmal zum Mo¬ nument werden von dem, was man um 1911 Grenzvoten III 191255

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/441>, abgerufen am 05.05.2024.