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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage

trotz allen stolzen Rühmens vom Fortschritt der Zivilisation im schweren Kampf
um das Notwendigste alle Kräfte des Leibes und Geistes aufbraucht. Gewiß
wird es nie gelingen, alle Menschen zufrieden und glücklich zu machen. Aber
sehr wohl ist es möglich, denen, die Not leiden, mehr Erleichterung, mehr
Freude am Leben und damit mehr Glück und Zufriedenheit zuzuführen. Zu
den besten Mitteln, diesem Ziele näherzukommen, gehört nach meiner Über¬
zeugung eine durchgreifende Reform des Erbrechts und eine durchgreifende
Besteuerung der Erbschaften.




Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage
!V, v, Massow von

ngefähr ein Jahr ist verflossen, seit der Marokkohandel für ab¬
sehbare Zeit zum Abschluß gebracht wurde. Seitdem ist bei uns
nicht allzuviel geschehen, um Klarheit über die Frage zu ver¬
breiten. Die Tageszeitungen haben ihrerseits gewissenhaft und
ausgiebig die Ereignisse behandelt und je nach ihrem Standpunkt
erläutert und beleuchtet. Aber für den Zeitungsleser ,der Gegenwart ist es
außerordentlich schwer, auf solcher Grundlage ein deutliches Bild von dem
gesamten Verlauf der Angelegenheit zu gewinnen. An Stelle des sorgfältig
begründeten Urteils, das sich auf eine genaue Kenntnis der Zusammenhänge
und einen genügenden Überblick über das Geschehene stützt, tritt nur zu leicht
eine Summe von Eindrücken, die weniger aus den Tatsachen selbst als aus
der Art ihrer Darstellung in den Tagesberichten stammen und mit dem besonderen
Standpunkt der Zeitungen zusammenhängen, aus denen der Leser seine Meinung
schöpft. Der größte Teil der nationalen Presse hat aus Gründen, über die
noch zu sprechen sein wird, in unserer Marokkopolitik überwiegend eine Kette
von Fehlschlagen, Niederlagen, Rückzügen und Demütigungen gesehen. Die
Blätter wählten dementsprechend ihre Stellung bei der Berichterstattung, wie es
immer geschehen wird, wenn man die Berichte unter dem Gesichtspunkt ansieht,
daß man die Regierung zum Einschlagen eines anderen Weges bestimmen
möchte. Die gegnerische Presse teilte zwar diesen Standpunkt nicht, aber --
stets auf die schärfste Kritik der Negierung eingestellt -- sah sie, in Anbetracht
des äußeren Eindrucks der Ereignisse im Lande, keine Veranlassung, sich für
eine augenscheinlich unvolkstümliche Politik der Regierung ins Zeug zu legen,
sondern stellte die Sache gleichfalls so dar, als ob die Marokkopolitik die
Ungeschicklichkeit und den Mißerfolg der Negierung klar erwiesen habe. Was


Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage

trotz allen stolzen Rühmens vom Fortschritt der Zivilisation im schweren Kampf
um das Notwendigste alle Kräfte des Leibes und Geistes aufbraucht. Gewiß
wird es nie gelingen, alle Menschen zufrieden und glücklich zu machen. Aber
sehr wohl ist es möglich, denen, die Not leiden, mehr Erleichterung, mehr
Freude am Leben und damit mehr Glück und Zufriedenheit zuzuführen. Zu
den besten Mitteln, diesem Ziele näherzukommen, gehört nach meiner Über¬
zeugung eine durchgreifende Reform des Erbrechts und eine durchgreifende
Besteuerung der Erbschaften.




Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage
!V, v, Massow von

ngefähr ein Jahr ist verflossen, seit der Marokkohandel für ab¬
sehbare Zeit zum Abschluß gebracht wurde. Seitdem ist bei uns
nicht allzuviel geschehen, um Klarheit über die Frage zu ver¬
breiten. Die Tageszeitungen haben ihrerseits gewissenhaft und
ausgiebig die Ereignisse behandelt und je nach ihrem Standpunkt
erläutert und beleuchtet. Aber für den Zeitungsleser ,der Gegenwart ist es
außerordentlich schwer, auf solcher Grundlage ein deutliches Bild von dem
gesamten Verlauf der Angelegenheit zu gewinnen. An Stelle des sorgfältig
begründeten Urteils, das sich auf eine genaue Kenntnis der Zusammenhänge
und einen genügenden Überblick über das Geschehene stützt, tritt nur zu leicht
eine Summe von Eindrücken, die weniger aus den Tatsachen selbst als aus
der Art ihrer Darstellung in den Tagesberichten stammen und mit dem besonderen
Standpunkt der Zeitungen zusammenhängen, aus denen der Leser seine Meinung
schöpft. Der größte Teil der nationalen Presse hat aus Gründen, über die
noch zu sprechen sein wird, in unserer Marokkopolitik überwiegend eine Kette
von Fehlschlagen, Niederlagen, Rückzügen und Demütigungen gesehen. Die
Blätter wählten dementsprechend ihre Stellung bei der Berichterstattung, wie es
immer geschehen wird, wenn man die Berichte unter dem Gesichtspunkt ansieht,
daß man die Regierung zum Einschlagen eines anderen Weges bestimmen
möchte. Die gegnerische Presse teilte zwar diesen Standpunkt nicht, aber —
stets auf die schärfste Kritik der Negierung eingestellt — sah sie, in Anbetracht
des äußeren Eindrucks der Ereignisse im Lande, keine Veranlassung, sich für
eine augenscheinlich unvolkstümliche Politik der Regierung ins Zeug zu legen,
sondern stellte die Sache gleichfalls so dar, als ob die Marokkopolitik die
Ungeschicklichkeit und den Mißerfolg der Negierung klar erwiesen habe. Was


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[0503] Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage trotz allen stolzen Rühmens vom Fortschritt der Zivilisation im schweren Kampf um das Notwendigste alle Kräfte des Leibes und Geistes aufbraucht. Gewiß wird es nie gelingen, alle Menschen zufrieden und glücklich zu machen. Aber sehr wohl ist es möglich, denen, die Not leiden, mehr Erleichterung, mehr Freude am Leben und damit mehr Glück und Zufriedenheit zuzuführen. Zu den besten Mitteln, diesem Ziele näherzukommen, gehört nach meiner Über¬ zeugung eine durchgreifende Reform des Erbrechts und eine durchgreifende Besteuerung der Erbschaften. Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage !V, v, Massow von ngefähr ein Jahr ist verflossen, seit der Marokkohandel für ab¬ sehbare Zeit zum Abschluß gebracht wurde. Seitdem ist bei uns nicht allzuviel geschehen, um Klarheit über die Frage zu ver¬ breiten. Die Tageszeitungen haben ihrerseits gewissenhaft und ausgiebig die Ereignisse behandelt und je nach ihrem Standpunkt erläutert und beleuchtet. Aber für den Zeitungsleser ,der Gegenwart ist es außerordentlich schwer, auf solcher Grundlage ein deutliches Bild von dem gesamten Verlauf der Angelegenheit zu gewinnen. An Stelle des sorgfältig begründeten Urteils, das sich auf eine genaue Kenntnis der Zusammenhänge und einen genügenden Überblick über das Geschehene stützt, tritt nur zu leicht eine Summe von Eindrücken, die weniger aus den Tatsachen selbst als aus der Art ihrer Darstellung in den Tagesberichten stammen und mit dem besonderen Standpunkt der Zeitungen zusammenhängen, aus denen der Leser seine Meinung schöpft. Der größte Teil der nationalen Presse hat aus Gründen, über die noch zu sprechen sein wird, in unserer Marokkopolitik überwiegend eine Kette von Fehlschlagen, Niederlagen, Rückzügen und Demütigungen gesehen. Die Blätter wählten dementsprechend ihre Stellung bei der Berichterstattung, wie es immer geschehen wird, wenn man die Berichte unter dem Gesichtspunkt ansieht, daß man die Regierung zum Einschlagen eines anderen Weges bestimmen möchte. Die gegnerische Presse teilte zwar diesen Standpunkt nicht, aber — stets auf die schärfste Kritik der Negierung eingestellt — sah sie, in Anbetracht des äußeren Eindrucks der Ereignisse im Lande, keine Veranlassung, sich für eine augenscheinlich unvolkstümliche Politik der Regierung ins Zeug zu legen, sondern stellte die Sache gleichfalls so dar, als ob die Marokkopolitik die Ungeschicklichkeit und den Mißerfolg der Negierung klar erwiesen habe. Was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/503>, abgerufen am 08.05.2024.