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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Roman und Gpos Privatdozent Dr. R. lNeßlöny vonin

Aus der in Borbereitung befindlichen Monographie des Verfassers:
"Karl Spitteler und das neudeutsche Epos".

last ein Jahrhundert hat Goethes Irrtum, der Roman sei eine
subjektive Epopöe, die Ästhetik im Banne gehalten, obschon es
"allbekannt war, wie wenig Gewicht Goethe ästhetischen Ein¬
teilungen, Begriffsbestimmungen und Gattungsbegriffen muaß.
Die beiden großen Gattungen erzählender Dichtung: Roman und
Epos stehen grundverschieden, wenn auch nicht zusammenhanglos nebeneinander.
Nicht bloß grundverschieden in ihrer Entstehung, sondern auch in ihrer vor¬
handenen Form. In seinen "Landenden Wahrheiten" hat Karl Spitteler, der
größte, vielleicht der einzige lebende deutsche Epiker (Eposdichter) geradezu eine
Gegensätzlichkeit von Roman und Epos verkündet und dies zu einer Zeit, da
alle Welt, namentlich Spielhagen, auf Grund der Hegel-Vischerschen Ästhetik
von deren Identität überzeugt war und man im Roman schlechtweg die
moderne Form des Epos erblicken wollte. Nach Spitteler wäre der Roman
nicht etwas dem Epos Ähnliches auf anderer Stufe, sondern sein schnurgerades
Gegenteil in allem und jedem. Wer Romane schriebe wäre schon deshalb kein
Epiker. Als Kennzeichen des "romanschreibenden Nichtepikers" gilt für Spitteler
die Lust an der Charakteristik, an der Seelenanalyse, an der Entwicklungs¬
geschichte des Helden, an der wohlmotivierten, logisch-vernünftigen Erzählung,
an der "Bourgetiererei". Der Epiker aber sei mit Widerwillen gegen alle
Psychologie erfüllt, denn er will nicht Seelenzustände ergründen, sondern sie in
Erscheinung umsetzen. Statt Psychologie erstrebe der Epiker das denkbar schroffste
Gegenteil davon, die äußerlichste, unwahrscheinlichste, unvernünftigste aller
Motivierung.

Spittelers epische Theorie ist keine Idee, sondern eine Erfahrung. Sie ist
daher wahr, unanfechtbar, -- für den einen empirischen Fall, dem sie ent¬
wachsen ist, für das epische Schaffen Spittelers. Sein Epos -- ist allerdings
ein Gegensatz zum Roman, es ist das Werk, das die Alleinherrschaft des Romans
auf dem Felde der deutschen Epik gebrochen hat. Aber das Epos ist ebenso¬
wenig ein dem Roman entgegengesetztes, wie ein ihm identisches Gebilde.




Roman und Gpos Privatdozent Dr. R. lNeßlöny vonin

Aus der in Borbereitung befindlichen Monographie des Verfassers:
„Karl Spitteler und das neudeutsche Epos".

last ein Jahrhundert hat Goethes Irrtum, der Roman sei eine
subjektive Epopöe, die Ästhetik im Banne gehalten, obschon es
«allbekannt war, wie wenig Gewicht Goethe ästhetischen Ein¬
teilungen, Begriffsbestimmungen und Gattungsbegriffen muaß.
Die beiden großen Gattungen erzählender Dichtung: Roman und
Epos stehen grundverschieden, wenn auch nicht zusammenhanglos nebeneinander.
Nicht bloß grundverschieden in ihrer Entstehung, sondern auch in ihrer vor¬
handenen Form. In seinen „Landenden Wahrheiten" hat Karl Spitteler, der
größte, vielleicht der einzige lebende deutsche Epiker (Eposdichter) geradezu eine
Gegensätzlichkeit von Roman und Epos verkündet und dies zu einer Zeit, da
alle Welt, namentlich Spielhagen, auf Grund der Hegel-Vischerschen Ästhetik
von deren Identität überzeugt war und man im Roman schlechtweg die
moderne Form des Epos erblicken wollte. Nach Spitteler wäre der Roman
nicht etwas dem Epos Ähnliches auf anderer Stufe, sondern sein schnurgerades
Gegenteil in allem und jedem. Wer Romane schriebe wäre schon deshalb kein
Epiker. Als Kennzeichen des „romanschreibenden Nichtepikers" gilt für Spitteler
die Lust an der Charakteristik, an der Seelenanalyse, an der Entwicklungs¬
geschichte des Helden, an der wohlmotivierten, logisch-vernünftigen Erzählung,
an der „Bourgetiererei". Der Epiker aber sei mit Widerwillen gegen alle
Psychologie erfüllt, denn er will nicht Seelenzustände ergründen, sondern sie in
Erscheinung umsetzen. Statt Psychologie erstrebe der Epiker das denkbar schroffste
Gegenteil davon, die äußerlichste, unwahrscheinlichste, unvernünftigste aller
Motivierung.

Spittelers epische Theorie ist keine Idee, sondern eine Erfahrung. Sie ist
daher wahr, unanfechtbar, — für den einen empirischen Fall, dem sie ent¬
wachsen ist, für das epische Schaffen Spittelers. Sein Epos — ist allerdings
ein Gegensatz zum Roman, es ist das Werk, das die Alleinherrschaft des Romans
auf dem Felde der deutschen Epik gebrochen hat. Aber das Epos ist ebenso¬
wenig ein dem Roman entgegengesetztes, wie ein ihm identisches Gebilde.


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[0370] [Abbildung] Roman und Gpos Privatdozent Dr. R. lNeßlöny vonin Aus der in Borbereitung befindlichen Monographie des Verfassers: „Karl Spitteler und das neudeutsche Epos". last ein Jahrhundert hat Goethes Irrtum, der Roman sei eine subjektive Epopöe, die Ästhetik im Banne gehalten, obschon es «allbekannt war, wie wenig Gewicht Goethe ästhetischen Ein¬ teilungen, Begriffsbestimmungen und Gattungsbegriffen muaß. Die beiden großen Gattungen erzählender Dichtung: Roman und Epos stehen grundverschieden, wenn auch nicht zusammenhanglos nebeneinander. Nicht bloß grundverschieden in ihrer Entstehung, sondern auch in ihrer vor¬ handenen Form. In seinen „Landenden Wahrheiten" hat Karl Spitteler, der größte, vielleicht der einzige lebende deutsche Epiker (Eposdichter) geradezu eine Gegensätzlichkeit von Roman und Epos verkündet und dies zu einer Zeit, da alle Welt, namentlich Spielhagen, auf Grund der Hegel-Vischerschen Ästhetik von deren Identität überzeugt war und man im Roman schlechtweg die moderne Form des Epos erblicken wollte. Nach Spitteler wäre der Roman nicht etwas dem Epos Ähnliches auf anderer Stufe, sondern sein schnurgerades Gegenteil in allem und jedem. Wer Romane schriebe wäre schon deshalb kein Epiker. Als Kennzeichen des „romanschreibenden Nichtepikers" gilt für Spitteler die Lust an der Charakteristik, an der Seelenanalyse, an der Entwicklungs¬ geschichte des Helden, an der wohlmotivierten, logisch-vernünftigen Erzählung, an der „Bourgetiererei". Der Epiker aber sei mit Widerwillen gegen alle Psychologie erfüllt, denn er will nicht Seelenzustände ergründen, sondern sie in Erscheinung umsetzen. Statt Psychologie erstrebe der Epiker das denkbar schroffste Gegenteil davon, die äußerlichste, unwahrscheinlichste, unvernünftigste aller Motivierung. Spittelers epische Theorie ist keine Idee, sondern eine Erfahrung. Sie ist daher wahr, unanfechtbar, — für den einen empirischen Fall, dem sie ent¬ wachsen ist, für das epische Schaffen Spittelers. Sein Epos — ist allerdings ein Gegensatz zum Roman, es ist das Werk, das die Alleinherrschaft des Romans auf dem Felde der deutschen Epik gebrochen hat. Aber das Epos ist ebenso¬ wenig ein dem Roman entgegengesetztes, wie ein ihm identisches Gebilde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/370>, abgerufen am 08.05.2024.