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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Roman und Lpos

Spittelers Auffassung der grundsätzlichen Gegensätzlichkeit, Wischers Idee der
Identität von Roman und Epos stecken uns beide nur die äußersten Grenzen
ab. innerhalb deren unsere Untersuchung sich bewegen darf.




Epos und Roman sind wohl verwandte, wenn auch vielfach verschiedene
Gebilde. Sie sind beide, samt dem Bericht, der Novelle und dem Märchen in
die Gemeinschaft der epischen Gattungen einbegriffen, nicht weil die ästhetische
Einteilung des Aristoteles dies so angeordnet, sondern weil sie alle einer be¬
stimmten Seelenfunktion des menschlichen Geistes entspringen: der Erinnerung.
Ob aus der Betätigung unseres Erinnerungsvermögens, aus der Mitteilung
unserer Erinnerungen ein Bericht, eine Novelle, ein Roman oder ein Epos
entsteht, hängt lediglich von der größeren oder geringeren Erinnerungsferne ab,
in welche sich der Epiker zu den Ereignissen stellt, genau so, wie das perspekti¬
vische Bild jeglicher Erscheinung sich in unseren Augen lediglich nach der größeren
oder geringeren Sehferne regelt. Der Epiker wählt seine Erinnerungsferne zu
den Ereignissen unabhängig von der historischen Vergangenheit oder Längst¬
vergangenheit ebenso frei, wie der Zeichner seinen perspektivischen Standort
wählt. (Vgl. über Erinnerung und Erinnerungsferye Heft 19 und Heft 33
der Grenzboten, Jahrgang 1912.) Bei der geringsten Erinnerungsferne entsteht
der Bericht, bei der größten das Epos. Auf die Abgrenzung von Roman und
Epos angewandt: der Roman steht unter der größtmöglichen Erinnerungsferne,
wahrt jedoch die logischen Notwendigkeiten, er hält sich innerhalb der eisernen
Grenzen unserer Anschauungskategorien: Zeit, Raum, Kausalität; das Epos
dagegen überschreitet auch diese Grenze, es lebt in der Einheit des Kosmos.
Der Roman steht sozusagen an der Grenze materieller Anschauungsmöglichkeit;
das Epos steht jenseits dieser Grenze, im schrankenlosen Gebiet der Idee. Aus
diesem Unterschiede der Idee folgen alle Unterschiede der Phänomene.




1. Der erste und grundlegende Unterschied zwischen Roman und Epos liegt
bereits in der Bewegungsrichtung ihrer Entstehung.

Der Roman baut von unten nach oben. Er bewältigt eine ungeheuere
Fülle der Erscheinungen und gelangt als Ergebnis zur ästhetischen Einheit der
Idee. Der Roman verfolgt das Ziel, die Mannigfaltigkeit der Phänomene in
der Einheit der Persönlichkeit, der Gattung oder des Schicksals darzustellen.
Diese von unten zur Pyramide aufstrebende Bauweise des Romans enthüllen
die beiden Fassungen des Wilhelm Meister, die "Lehrjahre" und die neuentdeckte
"theatralische Sendung" mit klassischer Klarheit.

Gerade in entgegengesetzte Richtung bewegt sich die Entwicklung des Epos:
sie dringt von oben nach unten. Das Epos bezweckt nicht die Eingeistung der
tausendfachen Empirie in die poetische Einheit der Idee, sondern es will die


Roman und Lpos

Spittelers Auffassung der grundsätzlichen Gegensätzlichkeit, Wischers Idee der
Identität von Roman und Epos stecken uns beide nur die äußersten Grenzen
ab. innerhalb deren unsere Untersuchung sich bewegen darf.




Epos und Roman sind wohl verwandte, wenn auch vielfach verschiedene
Gebilde. Sie sind beide, samt dem Bericht, der Novelle und dem Märchen in
die Gemeinschaft der epischen Gattungen einbegriffen, nicht weil die ästhetische
Einteilung des Aristoteles dies so angeordnet, sondern weil sie alle einer be¬
stimmten Seelenfunktion des menschlichen Geistes entspringen: der Erinnerung.
Ob aus der Betätigung unseres Erinnerungsvermögens, aus der Mitteilung
unserer Erinnerungen ein Bericht, eine Novelle, ein Roman oder ein Epos
entsteht, hängt lediglich von der größeren oder geringeren Erinnerungsferne ab,
in welche sich der Epiker zu den Ereignissen stellt, genau so, wie das perspekti¬
vische Bild jeglicher Erscheinung sich in unseren Augen lediglich nach der größeren
oder geringeren Sehferne regelt. Der Epiker wählt seine Erinnerungsferne zu
den Ereignissen unabhängig von der historischen Vergangenheit oder Längst¬
vergangenheit ebenso frei, wie der Zeichner seinen perspektivischen Standort
wählt. (Vgl. über Erinnerung und Erinnerungsferye Heft 19 und Heft 33
der Grenzboten, Jahrgang 1912.) Bei der geringsten Erinnerungsferne entsteht
der Bericht, bei der größten das Epos. Auf die Abgrenzung von Roman und
Epos angewandt: der Roman steht unter der größtmöglichen Erinnerungsferne,
wahrt jedoch die logischen Notwendigkeiten, er hält sich innerhalb der eisernen
Grenzen unserer Anschauungskategorien: Zeit, Raum, Kausalität; das Epos
dagegen überschreitet auch diese Grenze, es lebt in der Einheit des Kosmos.
Der Roman steht sozusagen an der Grenze materieller Anschauungsmöglichkeit;
das Epos steht jenseits dieser Grenze, im schrankenlosen Gebiet der Idee. Aus
diesem Unterschiede der Idee folgen alle Unterschiede der Phänomene.




1. Der erste und grundlegende Unterschied zwischen Roman und Epos liegt
bereits in der Bewegungsrichtung ihrer Entstehung.

Der Roman baut von unten nach oben. Er bewältigt eine ungeheuere
Fülle der Erscheinungen und gelangt als Ergebnis zur ästhetischen Einheit der
Idee. Der Roman verfolgt das Ziel, die Mannigfaltigkeit der Phänomene in
der Einheit der Persönlichkeit, der Gattung oder des Schicksals darzustellen.
Diese von unten zur Pyramide aufstrebende Bauweise des Romans enthüllen
die beiden Fassungen des Wilhelm Meister, die „Lehrjahre" und die neuentdeckte
„theatralische Sendung" mit klassischer Klarheit.

Gerade in entgegengesetzte Richtung bewegt sich die Entwicklung des Epos:
sie dringt von oben nach unten. Das Epos bezweckt nicht die Eingeistung der
tausendfachen Empirie in die poetische Einheit der Idee, sondern es will die


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[0371] Roman und Lpos Spittelers Auffassung der grundsätzlichen Gegensätzlichkeit, Wischers Idee der Identität von Roman und Epos stecken uns beide nur die äußersten Grenzen ab. innerhalb deren unsere Untersuchung sich bewegen darf. Epos und Roman sind wohl verwandte, wenn auch vielfach verschiedene Gebilde. Sie sind beide, samt dem Bericht, der Novelle und dem Märchen in die Gemeinschaft der epischen Gattungen einbegriffen, nicht weil die ästhetische Einteilung des Aristoteles dies so angeordnet, sondern weil sie alle einer be¬ stimmten Seelenfunktion des menschlichen Geistes entspringen: der Erinnerung. Ob aus der Betätigung unseres Erinnerungsvermögens, aus der Mitteilung unserer Erinnerungen ein Bericht, eine Novelle, ein Roman oder ein Epos entsteht, hängt lediglich von der größeren oder geringeren Erinnerungsferne ab, in welche sich der Epiker zu den Ereignissen stellt, genau so, wie das perspekti¬ vische Bild jeglicher Erscheinung sich in unseren Augen lediglich nach der größeren oder geringeren Sehferne regelt. Der Epiker wählt seine Erinnerungsferne zu den Ereignissen unabhängig von der historischen Vergangenheit oder Längst¬ vergangenheit ebenso frei, wie der Zeichner seinen perspektivischen Standort wählt. (Vgl. über Erinnerung und Erinnerungsferye Heft 19 und Heft 33 der Grenzboten, Jahrgang 1912.) Bei der geringsten Erinnerungsferne entsteht der Bericht, bei der größten das Epos. Auf die Abgrenzung von Roman und Epos angewandt: der Roman steht unter der größtmöglichen Erinnerungsferne, wahrt jedoch die logischen Notwendigkeiten, er hält sich innerhalb der eisernen Grenzen unserer Anschauungskategorien: Zeit, Raum, Kausalität; das Epos dagegen überschreitet auch diese Grenze, es lebt in der Einheit des Kosmos. Der Roman steht sozusagen an der Grenze materieller Anschauungsmöglichkeit; das Epos steht jenseits dieser Grenze, im schrankenlosen Gebiet der Idee. Aus diesem Unterschiede der Idee folgen alle Unterschiede der Phänomene. 1. Der erste und grundlegende Unterschied zwischen Roman und Epos liegt bereits in der Bewegungsrichtung ihrer Entstehung. Der Roman baut von unten nach oben. Er bewältigt eine ungeheuere Fülle der Erscheinungen und gelangt als Ergebnis zur ästhetischen Einheit der Idee. Der Roman verfolgt das Ziel, die Mannigfaltigkeit der Phänomene in der Einheit der Persönlichkeit, der Gattung oder des Schicksals darzustellen. Diese von unten zur Pyramide aufstrebende Bauweise des Romans enthüllen die beiden Fassungen des Wilhelm Meister, die „Lehrjahre" und die neuentdeckte „theatralische Sendung" mit klassischer Klarheit. Gerade in entgegengesetzte Richtung bewegt sich die Entwicklung des Epos: sie dringt von oben nach unten. Das Epos bezweckt nicht die Eingeistung der tausendfachen Empirie in die poetische Einheit der Idee, sondern es will die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/371>, abgerufen am 30.05.2024.