Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reisebriefe

Keiner wird je vom anderen hören. Was tuts? Wir waren acht fröhliche
Menschen und bezwangen vier öde Tage kraft unser.

Ist es nicht genug?

Jamaica, an Bord des "Prinz Joachim".


9. New York

Jeden Tag halte ich Parade ab über New Uork. Dann stehe ich hoch
oben auf der Brooklynbrücke und sehe auf den Strom hinab, der im eisigen
Dezemberwest mit grauen Wogen geht, und auf die Fährboote, die mit
irrsinniger Gelenkigkeit durcheinanderschießen. Auf die Turmhäuser, aus deren
Spitze Dampffahnen flattern, die in den nächsten Sekunden in nichts verwehen
und immer wieder neu hervorschlagen. Wenn dann diese himmelhohe Hänge¬
brücke unter den unendlichen Ketten der Züge und Straßenbahnen zittert und
donnert, spüre ich den tollen Synkopenrhythmus dieser Stadt. Dann ist es
mir, als müßte man zu dem tiefen Baß, in dem sich das Tosen der Trains,
das Tuten der Fähren, das Brüllen der Zeitungsjungen und die tiefen, quakenden
Britenlande vereinen, als müßte man zu diesem tiefen Unterton ein keckes Lied
singen. Dann wird es mir klar, wie der Gassenhauer entsteht . . .

WorldI . . . Evening Post! Kleine Kerle, kaum vier Jahre alt, schreien
sich, die Abendblätter im Arm. ihr Brot zusammen. Drüben auf der sicheren
Nettnngsinsel steht ein Mann mit großen Stapeln aller Zeitungen. Und wenn
einer von den kleinen Burschen den Stoß von Blättern, den der Kinderarm
kaum umspannen kann, sich vom Leibe geschrien hat, läuft er mit Kinderschritten,
die zwischen diesen Autobussen, Trans und all den anderen modernen Un¬
geheuern unendlich komisch und kläglich zugleich wirken, zum alten Platz auf
der Bordschwelle des Fahrdammes. Ist ihm dann ein Konkurrent zuvor¬
gekommen, so wird der erste Erwerbskampf mit kleinen Kinderfäusten ausgefochten.
Amerika ist hart wie Eisen, und auch für den kurzen Traum einer Kindheit ist hier
kein Platz und keine Zeit ....

Wie merkwürdig uniformierend ist doch dieses amerikanische Straßenleben!
An den bunten Wirbel von Brüssel und Paris denke ich dabei gar nicht. Wie¬
viel liberaler und individueller aber ist selbst London in der Physiognomie seiner
Straße! Die Oxfordstraße ist ein Symbol des Imperiums, auf ihren Trottoirs
drängt sich der ganze bunte Farbentanz britischer Kolonialbewohner. New Uork
ist mürrisch und farbenfeindlich, grau und nivellierend, wie der Nebel seiner
Dezembertage. Aus allen Nationen fließt ihr der Menschenstrom zu. Und
wenn die Tausende, die hier an mir vorbeifluten, nicht ihr heimatliches Idiom
so rasch vergäßen, in dieser Stadt würden alle Sprachen Babels klingen. Am
Broadway liegen die Häuser des Herrn Delgado aus Barcelona und des Herrn
Gumbinner aus Neutomischel in friedlicher Nachbarschaft nebeneinander. Beide
Herren kamen vielleicht einmal vor Jahren im Zwischendeck von Europa herüber,
sicher mit sehr verschiedenem Äußern, mit anderen Gewohnheiten und Erinne-


Reisebriefe

Keiner wird je vom anderen hören. Was tuts? Wir waren acht fröhliche
Menschen und bezwangen vier öde Tage kraft unser.

Ist es nicht genug?

Jamaica, an Bord des „Prinz Joachim".


9. New York

Jeden Tag halte ich Parade ab über New Uork. Dann stehe ich hoch
oben auf der Brooklynbrücke und sehe auf den Strom hinab, der im eisigen
Dezemberwest mit grauen Wogen geht, und auf die Fährboote, die mit
irrsinniger Gelenkigkeit durcheinanderschießen. Auf die Turmhäuser, aus deren
Spitze Dampffahnen flattern, die in den nächsten Sekunden in nichts verwehen
und immer wieder neu hervorschlagen. Wenn dann diese himmelhohe Hänge¬
brücke unter den unendlichen Ketten der Züge und Straßenbahnen zittert und
donnert, spüre ich den tollen Synkopenrhythmus dieser Stadt. Dann ist es
mir, als müßte man zu dem tiefen Baß, in dem sich das Tosen der Trains,
das Tuten der Fähren, das Brüllen der Zeitungsjungen und die tiefen, quakenden
Britenlande vereinen, als müßte man zu diesem tiefen Unterton ein keckes Lied
singen. Dann wird es mir klar, wie der Gassenhauer entsteht . . .

WorldI . . . Evening Post! Kleine Kerle, kaum vier Jahre alt, schreien
sich, die Abendblätter im Arm. ihr Brot zusammen. Drüben auf der sicheren
Nettnngsinsel steht ein Mann mit großen Stapeln aller Zeitungen. Und wenn
einer von den kleinen Burschen den Stoß von Blättern, den der Kinderarm
kaum umspannen kann, sich vom Leibe geschrien hat, läuft er mit Kinderschritten,
die zwischen diesen Autobussen, Trans und all den anderen modernen Un¬
geheuern unendlich komisch und kläglich zugleich wirken, zum alten Platz auf
der Bordschwelle des Fahrdammes. Ist ihm dann ein Konkurrent zuvor¬
gekommen, so wird der erste Erwerbskampf mit kleinen Kinderfäusten ausgefochten.
Amerika ist hart wie Eisen, und auch für den kurzen Traum einer Kindheit ist hier
kein Platz und keine Zeit ....

Wie merkwürdig uniformierend ist doch dieses amerikanische Straßenleben!
An den bunten Wirbel von Brüssel und Paris denke ich dabei gar nicht. Wie¬
viel liberaler und individueller aber ist selbst London in der Physiognomie seiner
Straße! Die Oxfordstraße ist ein Symbol des Imperiums, auf ihren Trottoirs
drängt sich der ganze bunte Farbentanz britischer Kolonialbewohner. New Uork
ist mürrisch und farbenfeindlich, grau und nivellierend, wie der Nebel seiner
Dezembertage. Aus allen Nationen fließt ihr der Menschenstrom zu. Und
wenn die Tausende, die hier an mir vorbeifluten, nicht ihr heimatliches Idiom
so rasch vergäßen, in dieser Stadt würden alle Sprachen Babels klingen. Am
Broadway liegen die Häuser des Herrn Delgado aus Barcelona und des Herrn
Gumbinner aus Neutomischel in friedlicher Nachbarschaft nebeneinander. Beide
Herren kamen vielleicht einmal vor Jahren im Zwischendeck von Europa herüber,
sicher mit sehr verschiedenem Äußern, mit anderen Gewohnheiten und Erinne-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0142" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326954"/>
            <fw type="header" place="top"> Reisebriefe</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_534"> Keiner wird je vom anderen hören. Was tuts? Wir waren acht fröhliche<lb/>
Menschen und bezwangen vier öde Tage kraft unser.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_535"> Ist es nicht genug?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_536"> Jamaica, an Bord des &#x201E;Prinz Joachim".</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 9. New York</head><lb/>
            <p xml:id="ID_537"> Jeden Tag halte ich Parade ab über New Uork. Dann stehe ich hoch<lb/>
oben auf der Brooklynbrücke und sehe auf den Strom hinab, der im eisigen<lb/>
Dezemberwest mit grauen Wogen geht, und auf die Fährboote, die mit<lb/>
irrsinniger Gelenkigkeit durcheinanderschießen. Auf die Turmhäuser, aus deren<lb/>
Spitze Dampffahnen flattern, die in den nächsten Sekunden in nichts verwehen<lb/>
und immer wieder neu hervorschlagen. Wenn dann diese himmelhohe Hänge¬<lb/>
brücke unter den unendlichen Ketten der Züge und Straßenbahnen zittert und<lb/>
donnert, spüre ich den tollen Synkopenrhythmus dieser Stadt. Dann ist es<lb/>
mir, als müßte man zu dem tiefen Baß, in dem sich das Tosen der Trains,<lb/>
das Tuten der Fähren, das Brüllen der Zeitungsjungen und die tiefen, quakenden<lb/>
Britenlande vereinen, als müßte man zu diesem tiefen Unterton ein keckes Lied<lb/>
singen. Dann wird es mir klar, wie der Gassenhauer entsteht . . .</p><lb/>
            <p xml:id="ID_538"> WorldI . . . Evening Post! Kleine Kerle, kaum vier Jahre alt, schreien<lb/>
sich, die Abendblätter im Arm. ihr Brot zusammen. Drüben auf der sicheren<lb/>
Nettnngsinsel steht ein Mann mit großen Stapeln aller Zeitungen. Und wenn<lb/>
einer von den kleinen Burschen den Stoß von Blättern, den der Kinderarm<lb/>
kaum umspannen kann, sich vom Leibe geschrien hat, läuft er mit Kinderschritten,<lb/>
die zwischen diesen Autobussen, Trans und all den anderen modernen Un¬<lb/>
geheuern unendlich komisch und kläglich zugleich wirken, zum alten Platz auf<lb/>
der Bordschwelle des Fahrdammes. Ist ihm dann ein Konkurrent zuvor¬<lb/>
gekommen, so wird der erste Erwerbskampf mit kleinen Kinderfäusten ausgefochten.<lb/>
Amerika ist hart wie Eisen, und auch für den kurzen Traum einer Kindheit ist hier<lb/>
kein Platz und keine Zeit ....</p><lb/>
            <p xml:id="ID_539" next="#ID_540"> Wie merkwürdig uniformierend ist doch dieses amerikanische Straßenleben!<lb/>
An den bunten Wirbel von Brüssel und Paris denke ich dabei gar nicht. Wie¬<lb/>
viel liberaler und individueller aber ist selbst London in der Physiognomie seiner<lb/>
Straße! Die Oxfordstraße ist ein Symbol des Imperiums, auf ihren Trottoirs<lb/>
drängt sich der ganze bunte Farbentanz britischer Kolonialbewohner. New Uork<lb/>
ist mürrisch und farbenfeindlich, grau und nivellierend, wie der Nebel seiner<lb/>
Dezembertage. Aus allen Nationen fließt ihr der Menschenstrom zu. Und<lb/>
wenn die Tausende, die hier an mir vorbeifluten, nicht ihr heimatliches Idiom<lb/>
so rasch vergäßen, in dieser Stadt würden alle Sprachen Babels klingen. Am<lb/>
Broadway liegen die Häuser des Herrn Delgado aus Barcelona und des Herrn<lb/>
Gumbinner aus Neutomischel in friedlicher Nachbarschaft nebeneinander. Beide<lb/>
Herren kamen vielleicht einmal vor Jahren im Zwischendeck von Europa herüber,<lb/>
sicher mit sehr verschiedenem Äußern, mit anderen Gewohnheiten und Erinne-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0142] Reisebriefe Keiner wird je vom anderen hören. Was tuts? Wir waren acht fröhliche Menschen und bezwangen vier öde Tage kraft unser. Ist es nicht genug? Jamaica, an Bord des „Prinz Joachim". 9. New York Jeden Tag halte ich Parade ab über New Uork. Dann stehe ich hoch oben auf der Brooklynbrücke und sehe auf den Strom hinab, der im eisigen Dezemberwest mit grauen Wogen geht, und auf die Fährboote, die mit irrsinniger Gelenkigkeit durcheinanderschießen. Auf die Turmhäuser, aus deren Spitze Dampffahnen flattern, die in den nächsten Sekunden in nichts verwehen und immer wieder neu hervorschlagen. Wenn dann diese himmelhohe Hänge¬ brücke unter den unendlichen Ketten der Züge und Straßenbahnen zittert und donnert, spüre ich den tollen Synkopenrhythmus dieser Stadt. Dann ist es mir, als müßte man zu dem tiefen Baß, in dem sich das Tosen der Trains, das Tuten der Fähren, das Brüllen der Zeitungsjungen und die tiefen, quakenden Britenlande vereinen, als müßte man zu diesem tiefen Unterton ein keckes Lied singen. Dann wird es mir klar, wie der Gassenhauer entsteht . . . WorldI . . . Evening Post! Kleine Kerle, kaum vier Jahre alt, schreien sich, die Abendblätter im Arm. ihr Brot zusammen. Drüben auf der sicheren Nettnngsinsel steht ein Mann mit großen Stapeln aller Zeitungen. Und wenn einer von den kleinen Burschen den Stoß von Blättern, den der Kinderarm kaum umspannen kann, sich vom Leibe geschrien hat, läuft er mit Kinderschritten, die zwischen diesen Autobussen, Trans und all den anderen modernen Un¬ geheuern unendlich komisch und kläglich zugleich wirken, zum alten Platz auf der Bordschwelle des Fahrdammes. Ist ihm dann ein Konkurrent zuvor¬ gekommen, so wird der erste Erwerbskampf mit kleinen Kinderfäusten ausgefochten. Amerika ist hart wie Eisen, und auch für den kurzen Traum einer Kindheit ist hier kein Platz und keine Zeit .... Wie merkwürdig uniformierend ist doch dieses amerikanische Straßenleben! An den bunten Wirbel von Brüssel und Paris denke ich dabei gar nicht. Wie¬ viel liberaler und individueller aber ist selbst London in der Physiognomie seiner Straße! Die Oxfordstraße ist ein Symbol des Imperiums, auf ihren Trottoirs drängt sich der ganze bunte Farbentanz britischer Kolonialbewohner. New Uork ist mürrisch und farbenfeindlich, grau und nivellierend, wie der Nebel seiner Dezembertage. Aus allen Nationen fließt ihr der Menschenstrom zu. Und wenn die Tausende, die hier an mir vorbeifluten, nicht ihr heimatliches Idiom so rasch vergäßen, in dieser Stadt würden alle Sprachen Babels klingen. Am Broadway liegen die Häuser des Herrn Delgado aus Barcelona und des Herrn Gumbinner aus Neutomischel in friedlicher Nachbarschaft nebeneinander. Beide Herren kamen vielleicht einmal vor Jahren im Zwischendeck von Europa herüber, sicher mit sehr verschiedenem Äußern, mit anderen Gewohnheiten und Erinne-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/142
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/142>, abgerufen am 28.04.2024.